# taz.de -- Theater mit Gefangenen: Ein Stück weit in die Welt kommen | |
> In Berlin macht das Projekt „aufBruch“ mit Häftlingen Theater. Was | |
> bedeutet es den Gefangenen? Was motiviert sie? In der JVA Tegel spielen | |
> sie Brechts „Arturo Ui“. | |
Raucht auf!“, sagt [1][Peter Atanassow, der Regisseur.] „Danach geht’s | |
los!“ Die meisten rauchen, fast alle haben Plastiktüten oder Jutetaschen | |
dabei, aus denen sie Tabakbeutel, Kekse oder Cola kramen. Zinkeimer, mit | |
Sand gefüllt, gehören zu den wichtigsten Requisiten dieses ungewöhnlichen | |
Theaterensembles. Einige holen sich einen Kaffee aus der Teeküche, ein | |
Teilnehmer schneidet eine Ananas auf. Nach und nach treffen Mitspieler ein. | |
Es ist 16 Uhr, ihr zur Zeit verkürzter Arbeitstag im Strafvollzug liegt | |
hinter ihnen. Ein fast zeremoniell anmutender Moment des Ankommens und | |
Innehaltens, Begrüßung per Handschlag oder Schulterklatschen, der Umgang | |
miteinander ist respektvoll. Hier im Raum sind alle per Du, ob Gefangener, | |
Gast oder Teil des Teams von aufBruch. In den nächsten Wochen wird es mit | |
17 Insassen der Justizvollzugsanstalt (JVA) von Berlin-Tegel in einem | |
verlassenen Innenhof ein Stück von Bertolt Brecht erarbeiten. Hier sind | |
ausschließlich männliche Erwachsene inhaftiert. | |
Die taz hat die Proben zu [2][„Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“] | |
über mehrere Wochen bis zur Premiere begleitet. Sie hat mit vielen | |
Mitmachenden gesprochen, manche Gefangene belassen es, wie im Programmheft, | |
bei ihren Vornamen, andere sind stolz, mit vollem Namen dabei zu sein. | |
Warum und wie lange sie einsitzen, wissen sie teilweise selbst nicht | |
voneinander. Manche erzählen es im Laufe der Zeit, andere nicht. Hier geht | |
es darum, sich vorurteilslos zu begegnen. | |
Die Männer sind in unterschiedlichen Abteilungen untergebracht, arbeiten an | |
unterschiedlichen Orten im Gefängnissystem. Warum sie beim Theater | |
mitmachen? „Ablenkung spielt eine große Rolle“, sagt Jimmy Juma, „man sp… | |
weniger, dass man eingesperrt ist.“ Dass die Proben in Gemeinschaft und an | |
der freien Luft stattfinden, macht die Sache darüber hinaus attraktiv. | |
Bertolt Brecht schrieb „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ 1941 im | |
US-amerikanischen Exil als Parabel auf den Aufstieg der Nazis in | |
Deutschland. „Warum hat der so einen komischen Namen“, wundert sich in | |
einer Rauchpause ein Mitspieler, „kann der nicht Francesco oder anders, | |
jedenfalls hübscher heißen?“ Schließlich ist der Obergangster bei Brecht | |
eine Mischung aus Al Capone, der im Chicago der 30er Jahre die Mafia | |
befehligte, und Adolf Hitler. „Der Kleinbürger kann letztlich nur durch das | |
Verbrechen in dieser Gesellschaft aufsteigen“, das ist für Peter Atanassow | |
die Aussage Brechts. | |
Jimmy spielt den Ansager, der 27-Jährige ist in Kenia englischsprachig | |
aufgewachsen. Ihm gebührt die erste Szene, die volle Aufmerksamkeit. „Es | |
ist toll, dass Peter mir die Rolle anvertraut“, sagt er. „Der Ansager | |
braucht eine besondere Energie. Ich bekomme immer mehr Selbstvertrauen, | |
wenn ich den deutschen Text spreche.“ Die Brecht’sche Sprache will einfach | |
klingen, ist aber kunstvoll, mit einem darunterliegenden Reim. Jimmy wurde | |
von einem Kumpel angeworben. „Jetzt fühle ich mich verpflichtet, gut zu | |
sein. Die Leute draußen sollen mitbekommen, dass Knackis auch was in der | |
Birne haben.“ | |
Im Verlauf der Probenbesuche kommen verschiedene Antworten auf die Frage | |
nach der Motivation. Abwechslung, Selbstvertrauen, Spielfreude und Neugier | |
sind einige davon. „Bei unserer Arbeit entsteht ein mentaler Freiraum“, | |
sagt Regisseur Peter Atanassow. „Die Gefangenen können etwas Neues | |
ausprobieren, andere Leute kennenlernen, die Welt in neuen Zusammenhängen | |
sehen. Man kommt ein Stück weit in die Welt, sieht etwas von ihr. Die Welt | |
kommt zwar zu dir, weil du nicht raus darfst, aber du machst neue | |
Erfahrungen und deine Perspektive verändert sich.“ | |
10. Juli. Peter Atanassow, Jahrgang 1968, derbe Schuhe, warme Kleidung, hat | |
die Schauspieler im Kreis um sich geschart. Der Regisseur als Dompteur, | |
Animateur oder „Vorarbeiter“, wie er selbst sagt. „Alles, was ich von den | |
Gefangenen als Schauspieler verlange, muss ich selbst können. Nur dann sind | |
sie bereit, mir zu folgen.“ Atanassow hat das Handwerk an der Hochschule | |
für Film und Fernsehen in Babelsberg gelernt. Am Anfang einer Probe steht | |
immer: Körper und Zunge lockern, Vokale kauen, Konsonanten spucken. | |
„Sprecht mir nach“, sagt Atanassow, „verlaufen-saufen-rauchen“, | |
„verstehen-gestehen-bestehen“, die Männer kennen die Wortspiele, „haltet | |
das Tempo“, sagt er. Das chorische Sprechen bedarf besonderer Präzision. | |
Jetzt am Anfang der Probenarbeit klappert es noch ziemlich. | |
„Was wir hier zeigen, weiß der ganze Kontinent / Es ist das Gangsterstück, | |
das jeder kennt“, deklamiert der Männerchor. So endet der Prolog. Die | |
meisten lesen den Text noch ab. „Hört aufeinander!“, ruft Atanassow, „ni… | |
so breit, nicht so selbstgefällig! Trennt die Silben! Macht es aggressiver! | |
Das Deutsche braucht den Rhythmus eines Maschinengewehrs.“ | |
Das Sprechen im Chor, als Gruppe, schon im Theater der Antike ein | |
Stilmittel, macht Sinn bei einem Stück von Brecht, das immer zugleich | |
Lehrstück ist. Eine politische Botschaft bekräftigen, laut in die Welt | |
schicken. Es ist aber auch ein Mittel, möglichst viele Spieler gleichzeitig | |
einzubinden. Und: „Der Chor nivelliert Hierarchien“, sagt Atanassow. „Man | |
kann im Knast eine große Nummer sein, aber wenn du deinen Text nicht | |
kannst, kriegt das jeder mit. Und jemand anderes, der vielleicht ein | |
kleines Licht ist, ist viel besser. Du musst den Text können, die | |
Intonation treffen, die Pausen halten. Der Chor hat etwas sehr | |
Demokratisches.“ | |
Mehr als 20 Jahre schon existiert das Gefangenentheaterprojekt aufBruch, | |
heute eine gemeinnützige GmbH mit Haushaltstitel beim Berliner Senat für | |
Justiz, Abteilung Soziale Arbeit, der alle zwei Jahre neu beantragt werden | |
muss. Das war nicht immer so, anfangs gab es nur eine Basisfinanzierung | |
durch den Kultursenat. Sozialarbeiter und Therapeuten schätzten ihre | |
Arbeit, erzählt Atanassow bei einem Vorgespräch im Produktionsbüro. Gerade | |
weil sie keinen rein pädagogischen Ansatz haben. | |
„Wir machen Theater“, erklärt er, „und das muss funktionieren. „Unser | |
Trainingspensum ist ziemlich straff.“ In der Regel spielen einige Leute aus | |
früheren Produktionen mit, neue Mitspieler kommen durch Aushänge, | |
persönliches Casting und Werbung durch Mitgefangene hinzu. Nicht alle | |
bleiben dabei. „Wer die Arbeit nicht leisten kann oder will, der geht | |
wieder oder fliegt raus“, sagt Atanassow, „wir können nicht alle mitnehmen. | |
Sie müssen gewisse Fertigkeiten entwickeln, die sie vorher haben schleifen | |
lassen, um hier mitzumachen.“ Wenn sie dann diese Fähigkeiten in sich | |
entdeckten, sei es manchmal eine Offenbarung. | |
„Für mich ist das hier erst der Anfang“, sagt Maximilian Sonnenberg, der | |
den Trust-Vertreter Clark spielt. „Ich will draußen weiter Theater machen.“ | |
Es ist seine dritte Produktion. Obwohl früher ohne Berührung mit Theater, | |
habe er totale Gänsehaut bekommen, als er das erste Mal mitgeprobt hat, das | |
war bei Camus’ „Die Gerechten“. Seitdem ist er vom Theaterspielen angefix… | |
er schätzt die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, die Wertschätzung, | |
fühlt sich wahrgenommen. „So kann ich meiner Situation einen Sinn geben.“ | |
Maximilian lernt spielen und erlernt nebenbei Spielregeln. Er könne seither | |
besser mit seinen Beratern, wie zum Beispiel Sozialarbeitern, umgehen, hat | |
er festgestellt. „Ich falle ihnen nicht mehr so schnell ins Wort, bleibe | |
höflich. Das Theater nimmt ganz viel innere Unruhe von mir“, sagt er. | |
Der Probennachmittag ist mit einer Pause in viereinhalb Stunden vorbei; | |
zwischendurch hat sich die Gruppe geteilt, um die Lieder einzustudieren, | |
die eingestreut werden sollen. Sie singen sie mit Inbrunst. Showeinlagen | |
gibt es auch, von „Mein kleiner grüner Kaktus“ der Comedian Harmonists bis | |
zum „Affenkönig“ aus dem Dschungelbuch und einer Ballade des Komponisten | |
Hanns Eisler ist Diverses dabei. Die Darsteller werden dafür bei der | |
Premiere viel Applaus ernten. Anfang Juli sind sie davon jedoch weit | |
entfernt. | |
Regisseur Peter Atanassow verspricht: „Beim nächsten Mal ist Schluss mit | |
der Zettelwirtschaft. Dann sage ich euch, wer wen spielt.“ Bislang hat er | |
„nur Text, Text, Text“ gemacht, Rollen von verschiedenen Leuten lesen | |
lassen, bis er und sein Team eine Vorstellung davon haben, was für wen | |
passt. „Die Jungs trennen sich nicht gern wieder.“ Künftig geht es daran, | |
Teilszenen zu proben, Bilder zu bauen, Übergänge auszuprobieren. | |
## Erstmal in Freizeitkleidung üben | |
Atanassow ist seit 2003 bei aufBruch dabei, er leitet das Projekt gemeinsam | |
mit dem Bühnenbildner Holger Syrbe und der Produktionsleiterin Sybille | |
Arndt. Zum engeren Kern gehören unter anderen auch die Dramaturgin | |
Franziska Kuhn, Berenice Fisk macht die Regieassistenz. Haemin Jung schaut | |
an diesem Tag vorbei, um Maß für die Kostüme zu nehmen. Geprobt wird bis | |
kurz vor Schluss in normaler Freizeitkleidung. „Können wir nicht eine | |
Feedback-Runde nach den Proben einlegen?“, fragt einer der Darsteller. „Das | |
stiehlt uns Zeit, die wir dringend benötigen“, sagt Peter Atanassow. „Kommt | |
zu mir, wenn ihr Probleme habt.“ | |
Vier Produktionen im Jahr macht aufBruch, für „Arturo Ui“ haben sie sieben | |
Wochen Probenzeit, vier Tage pro Woche. Wenn um 20.30 Uhr die Probe vorbei | |
ist, die Gefangenen abgeholt sind, die langwierige Prozedur des Auf- und | |
Abschließens und der Marsch durch die weiträumige Anlage der Anstalt hinter | |
ihnen liegt, steigt das Team ins Auto und fährt von Tegel in die | |
Pappelallee im Prenzlauer Berg. | |
Dann werten sie die Probe aus, nehmen Striche im Text vor, verabreden einen | |
Plan für den nächsten Probentag. Die Menschen aus dem Knast müssen hart an | |
sich arbeiten während der Probenzeit. Einen hohen Anspruch an sich selbst | |
haben auch die Organisatoren des Theaterprojekts. | |
20. Juli. Ein Mitspieler fällt wegen Krankheit aus, seine Rolle als | |
Dogsborough, der sich als bestechliche moralische Instanz erweist, | |
übernimmt Nicolas. Von großer Statur, verleiht er seiner Rolle des Alten | |
viel Komik, wenn er im Abgang mit seinen langen Beinen den Stock wegkickt. | |
Nicolas hat frankophone Wurzeln; wenn er „Asche“ sagt, klingt es ein | |
bisschen wie „Arsch“. Alle müssen lachen, viele in der divers aufgestellten | |
Truppe haben einen Akzent in ihrer Aussprache, türkisch, arabisch, einige | |
berlinern mit Vergnügen, das verleiht der Sprache Brechts eine ganz andere | |
Klangfarbe und neue Akzentuierung. | |
Der Regisseur hat die Rolle des Arturo Ui zweimal vergeben – es gibt einen | |
jungen und einen gereiften Ui. Robin spielt den aufsteigenden jungen | |
Verbrecher als grimassierenden, sich krümmenden und windenden | |
Möchtegern-Gangster, mit großen aufgerissenen Augen, der | |
Schauspielunterricht nimmt, um später Erfolg im Geschäft und in der Politik | |
zu haben. | |
Den Verführer der Massen gibt H. Peter Maier C.d.F. mit schnarrender | |
Stimme, eine Mischung aus Operettenkönig und Pseudodikator. „Ich bin auf | |
diese gespaltenen Persönlichkeiten abonniert“, sagt er, „die zwischen | |
extremer Stärke und Schwäche oszillieren. Ich weiß, ich bin überzeugend. | |
Aber es ist gespielt.“ Maier gehört zum Stammensemble. „Alles, was ich | |
gelernt habe, verdanke ich Peter“, sagt Maier. Er diskutiert mit dem | |
Regisseur, ob er weiter den Hitler’schen Sprachduktus imitieren soll. | |
Maier: „Du weißt nicht, wie anstrengend das ist.“ – Atanassow: „Ich de… | |
darüber nach.“ Am Ende ist er raus. | |
Robin ist der junge Ui. Er freut sich, dass ihm der Regisseur gleich beim | |
ersten Mal eine Hauptrolle gegeben hat. „Jeder hat eine zweite Chance | |
verdient“, sagt er und staunt doch. „Ich werde hier als Mensch wahrgenommen | |
und nicht als Verbrecher, Killer oder Dreckschwein.“ Die Posen und die | |
verzerrte Körpersprache hat der 41-Jährige selbst entwickelt. „Unter der | |
Dusche oder nachts im Bett“, sie dann mit dem Regisseur durchgesprochen. | |
„Ich erkenne mein Verhalten wieder, wenn ich den Zampano spiele“, stellt er | |
fest. | |
„Die Probe war in Ordnung“, sagt Peter Atanassow hinterher. „Ein bisschen | |
Pausenhofatmosphäre entsteht immer. Die Jungs albern herum. Es kommt nicht | |
mehr so darauf an wie am Anfang. Sie vertrauen uns und geben Verantwortung | |
ab.“ | |
7. August. Statt Badeschuhen und Shorts sind Jacken und Mützen angesagt. | |
Der Sommer macht schlapp. „Im Moment herrscht ein bisschen Lagerkoller“, | |
sagt der Regisseur. „Die Truppe ist ehrgeizig. Sie brauchen das Gefühl: Es | |
wird schon.“ Und es wird. Das Sprechen im Chor klappert weniger, die | |
Dramaturgin muss seltener soufflieren, keiner will sich blamieren. Vor sich | |
selbst nicht und vor den eigenen Leuten nicht, die zu den Vorstellungen | |
kommen werden. | |
## Widerlegte Fast-Idylle | |
Noch elf Probentage, noch kein Durchlauf geschafft. Die Zuschauertribüne | |
liegt im Schatten, der sonst fast südlich anmutende einstige Pausenhof, wo | |
inzwischen Rasen und Bäume gewachsen sind, ist windig und kühl. Der Blick | |
geht geradeaus auf eine abgeblätterte und dunkelrosa gestrichene Wand, nur | |
die vergitterten Fenster widerlegen die Fast-Idylle. | |
Ringsum liegen aufgegebene Gebäude- und Zellentrakte, durch die man durch | |
muss, wenn man zum Spielort gelangen will. Zwei ehemalige Justizangestellte | |
mit Faible für das Theaterprojekt schieben abwechselnd während der Proben | |
Wache. Die aufBruch-Leitung bekommt Schlüssel anvertraut, man kennt die | |
Örtlichkeiten und Gegebenheiten gut. Doch auch sie müssen sich und das, was | |
sie mit reinnehmen, jedes Mal anmelden, Taschenkontrolle und manchmal | |
Leibesvisitation erdulden. | |
16. August. Die Musiker sind da. Mit Tuba, Schlagzeug und Akkordeon nehmen | |
drei Mitglieder der Gruppe 17 Hippies in einem offenen kleinen Schuppen | |
Platz. Sie werden die von ihrem Kollegen Christopher Blenkinsop | |
arrangierten Lieder spielen, die Übergänge und Umbauten musikalisch | |
begleiten. | |
Ihre Behausung ähnelt den zwei mobilen Bühnenelementen, die wie | |
aufgeschnittene Blechkästen oder halbierte Garagen frontal zur | |
Zuschauertribüne stehen und die sich schieben und drehen lassen. So | |
entstehen blitzschnell kleine Spielorte und Spielszenen, die Brechts | |
Ganoven, Gemüsehändler oder Trust-Vertreter in Aktion treten lassen. Auch | |
Frauenrollen werden in diesem reinen Männerensemble mit Vergnügen | |
übernommen. Heute wird in Kostümen geprobt. | |
„Hey, du hast ja eine Polizeijacke an“, sagt Adrian Zajac kurz vor | |
Probenschluss zu Horst. Der Ältere trägt, als Ganove gekleidet, eine | |
schwere schwarze Lederjacke. „Guck, da war mal das Abzeichen.“ Die Jacke | |
stammt aus dem Fundus der Gruppe. Adrian, den alle Adi nennen, lacht und | |
sagt: „Ich würde die nicht anziehen. Aber ich will noch ein paar Jahre | |
mitspielen. Überlegt euch was!“ | |
Er spielt den Ganoven Givola, der künstliche Klumpfuß schmerzt nach ein | |
paar Stunden. „Schlechte Laune lässt man in der Rolle aus“, sagt er weise, | |
es ist seine vierte Produktion. „Ich bin sehr dankbar“, erklärt er. „Ich | |
muss noch 20 Jahre hier sitzen. Das Theater gibt mir die Kraft, von Jahr zu | |
Jahr weiterzumachen.“ | |
23. August. Premierenabend, Premierenwetter. In Gruppen werden die | |
Zuschauer an der Pforte eingelassen, durchgeschleust. Die | |
Gefängnisgärtnerei hat in diesem Jahr tolle Arbeit geleistet, es grünt und | |
blüht in den Innenhöfen. Teil der Inszenierung ist das nicht, auch wenn der | |
Weg zum Spielort im verlassenen Teil des Anstaltsgeländes es auf diese | |
Weise doch wird. | |
Es ist eine beeindruckende Kulisse für die einen, Normalzustand für die | |
anderen. Tusch von der Kapelle – Jimmy hat seinen ersten Auftritt. | |
„Verehrtes Publikum, wir bringen heute/ Ruhe dort hinten – Leute! / Und | |
nehmen Sie den Hut ab, junge Frau! / Sie sehen heute die große historische | |
Gangsterschau.“ | |
Es wäre einfach zu scherzen, Gangster spielen Gangster. Endlich dürfen sie | |
das mal – mit Betonung auf: spielen. Sie sitzen wegen kleiner oder großer | |
Vergehen. Sie spielen Schurken, Arbeiter, Händler, ein Arsenal an korrupten | |
oder korrumpierbaren Leuten, wie wir alle sind. „Das Gefängnis schafft | |
gesellschaftliche Strukturen nicht ab, sondern spiegelt sie“, sagt Peter | |
Atanassow. Früher habe ihn mehr die Gesellschaft interessiert, in der das | |
Individuum nur scheitern könne; inzwischen sei es mehr das Individuum, das | |
scheitert, als die Gesellschaft drumherum. | |
Fast alles geht glatt bei der Premiere, und das, was nicht glattgeht, hat | |
Charme. | |
„Alles, was ich aus der Geschichte gelernt habe, ist, dass wir nichts aus | |
der Geschichte lernen“, sagt Jimmy zum Schluss und zitiert auch noch auf | |
Englisch den Dichter Peter Köck. „And all we learn from history is / that | |
we don’t learn from history. / And all I learned from history / is someday | |
we are history.“ Jimmy hat seine Nervosität verloren. Nach der Aufführung | |
gibt es eine kleine Premierenfeier. 45 Minuten, in denen die Gäste mit den | |
Theatermachern und Schauspielern reden können. Oder einfach nur Händchen | |
halten. | |
aufBruch macht Theater im Gefängnis, das funktioniert. Wie unterscheidet es | |
sich von Theater außerhalb der Mauern? „Das, was Theater interessant macht, | |
das Sich-Ausliefern“, sagt Peter Atanassow, „da ist der Unterschied | |
zwischen Amateuren und Profis am Ende gar nicht so groß. Profis können sich | |
im Handwerk verstecken.“ | |
Amateure können sich entdecken, sich kennenlernen. | |
„Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ spielt noch bis 15. September in | |
der JVA Berlin-Tegel. Eventuelle Restkarten über [3][gefaengnistheater.de/] | |
29 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] http://www.deutschlandfunkkultur.de/gefaengnis-theaterregisseur-peter-atana… | |
[2] http://www.gefaengnistheater.de/aktuelles-details/der-aufhaltsame-aufstieg-… | |
[3] http://gefaengnistheater.de/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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