| # taz.de -- 20 Jahre Berliner Gefängnistheater: Die Gralsburg in der JVA | |
| > aufBruch ist Theater mit aufklärerischem Anspruch. Zum 20. Jubiläum der | |
| > Gefangenengruppe arbeiten Musiker der Berliner Philharmoniker mit. | |
| Bild: Szene aus „Philoktet“ von Heiner Müller, vom aufBruch Gefängnisthea… | |
| Einen „Parsifal“ von Wagner in die JVA Tegel zu bringen, auf so eine Idee | |
| kommt nur die Gefangenentheatergruppe aufBruch. Sie feiert mit der | |
| Inszenierung, die Donnerstag Premiere haben wird, ihr 20-jähriges Jubiläum. | |
| Es ist der erste Ausflug ins klassische Opernfach. Die Arien der Kundry, | |
| gesungen von der Opernsängerin Judith Kamphues, treffen dabei auf die Chöre | |
| der männlichen Anstaltsinsassen. Das imposante Innere des um die vorletzte | |
| Jahrhundertwende gebauten Knastgebäudes, das heute leersteht, verwandelt | |
| sich in die mythische Gralsburg. | |
| „Hier haben wir vor über 20 Jahren angefangen. Es schließt sich damit ein | |
| Kreis“, blickt Bühnenbildner Holger Syrbe zurück. Syrbe war schon 1997 | |
| dabei, als knapp zwei Dutzend Gefangene in der Performance „Stein und | |
| Fleisch“ die mehr als 100 Jahre alten Gemäuer in eine Gladiatoren-Arena | |
| transformierten und Episoden aus dem Leben des aufständischen Sklaven | |
| Spartakus zeigten. | |
| Dass aus dieser Produktion zwei Jahrzehnte Gefangenentheater entstehen | |
| würden, hielt Syrbe damals nicht für möglich. „Nein, das hätte ich mir | |
| nicht träumen lassen“, erzählt er und lacht. „Am Anfang ging ich davon au… | |
| dass ich das zwei Jahre mache, und dann kommt etwas anderes. Die Arbeit ist | |
| aber spannend geblieben“, meint er. Und er beschreibt sogar ein Paradox: | |
| „Im Vergleich zum Stadt- und Staatstheater, wo ich ja auch häufig arbeite, | |
| haben wir bei unser kleinen Truppe eine größere künstlerische Freiheit. In | |
| den großen Häusern muss man manchmal etwas machen, womit man beauftragt | |
| ist. Hier aber entscheiden wir selbst über die Stoffe, die Orte und die | |
| Umsetzung.“ | |
| Aktuell verwandelt Syrbe die alte Haftanstalt mit dem zentralen Turm im | |
| Inneren, von dem sternförmig die Gänge mit den massiv gemauerten Zellen | |
| abgehen, in die Gralsburg und auch in die Burg vom Zauberer Klingsor. Viel | |
| Material von außen mitbringen muss er nicht. Denn die Architektur ist | |
| selbst beeindruckend und einschüchternd wie eine mittelalterliche Festung. | |
| ## „Wahrheit, die von der Straße kommt“ | |
| Für die Inszenierung sorgt Peter Atanassow. Der frühere Schauspieler | |
| übernahm 2002 die künstlerische Leitung des aufBruch Gefängnistheaters und | |
| drückte ihm seinen Stempel auf. Atanassows Spezialität sind die Chöre. | |
| „Das hat mich schon lange gereizt, noch vor der Arbeit mit den Gefangenen. | |
| Einar Schleefs Chorarbeit hat für mich das Theater wieder interessant | |
| gemacht“, erzählt er. „Das war eine Urgewalt, wenn 20 oder mehr Leute auf | |
| einen zugekommen sind. Man hat nur Fetzen verstanden, einzelne Wörter. Es | |
| war eine Masse, die spuckt und geifert. Das ist eine Art von Wahrheit, die | |
| von der Straße kommt“, begeistert er sich. Und während er Schleefs Chöre, | |
| etwa im „Sportstück“, als „hoch artifiziell“ und „Hochkultur“ besc… | |
| hält er seine Chöre mit den Gefangenen für „pures Volkstheater“. | |
| Es ist ein Volkstheater mit aufklärerischem Anspruch. Atanassow hat die | |
| deutsche Dramatik von Schiller über Brecht bis Müller in die Berliner | |
| Gefängnisse gebracht. Oft kamen die Spieler durch aufBruch das allererste | |
| Mal mit diesen Texten in Berührung. Oft waren es nicht einmal deutsche | |
| Muttersprachler, sondern Männer vom Balkan, aus Afrika, aus den arabischen | |
| Ländern. | |
| In die Köpfe und Herzen der Männer dringen die Texte dennoch. Denn sie | |
| handeln meist von Dingen, mit denen sie auch konfrontiert sind: mit der | |
| Durchsetzung von Macht, dem Drängen nach Freiheit, der Auseinandersetzung | |
| mit Schuld – im „Wallenstein“ etwa, in der „Wolokolamsker Chaussee“. | |
| Die Chorarbeit hat auch praktische Effekte. In wenigen Wochen Probenzeit | |
| können Gemeinsamkeiten hergestellt werden. „Es ist eine Methode, ein | |
| Ensemble zu schaffen. Ein Chor funktioniert nach dem Gleichheitsprinzip. | |
| Jeder muss sich einbringen. Alle sind gleich, und jeder Fehler wird | |
| bemerkt. Ein Chor bringt aber auch den Einzelnen zum Leuchten. Er erfährt | |
| eine Individualität im kollektiven Arbeitsvorgang“, meint Atanassow. Er | |
| verweist dabei auf einfache Handgriffe etwa von Arbeitern der Müllabfuhr, | |
| wenn sie eine Tonne einklinken – und dabei trotz allem Gleichmaß des | |
| Vorgangs immer individuell wirken. | |
| ## Abwechslung zum Knastalltag | |
| Die individuelle Variation bei kollektiven Tätigkeiten macht einen starken | |
| ästhetischen Reiz dieser Theaterarbeit mit Laien aus. Die Gefangenen selbst | |
| bezeichneten in vielen Gesprächen nach den mittlerweile über 60 | |
| Theaterproduktionen von aufBruch die Arbeit an und mit der Kunst vor allem | |
| als eine Erweiterung ihres Lebens, als eine willkommene Abwechslung zum | |
| Knastalltag. | |
| „Es findet eine Auseinandersetzung für sie statt, zuerst untereinander, | |
| aber auch mit uns als Personen von draußen und mit dem Stoff als etwas | |
| Drittes. Und da passiert etwas. Ihre Wahrnehmung wird verändert, ihr | |
| Horizont weitet sich. Darum geht es ja, auch vollzugstechnisch. Denn wenn | |
| die Leute wieder rauskommen, und 99 Prozent aller Leute kommen wieder raus, | |
| dann sollen sie die letzten Jahre ja nicht vollkommen isoliert verbracht | |
| haben und in der Lage sein, sich mit der vielfältigen Wirklichkeit | |
| auseinanderzusetzen“, meint Atanassow. | |
| Macht sein Theater aus den Gefangenen also „bessere Menschen“? Atanassow | |
| lacht. Er will Kunst machen und nicht Sozialarbeit betreiben. | |
| ## Gefragt bei Castingagenturen | |
| Einzelne Gefangene unter den mittlerweile etwa 1.500, mit denen aufBruch in | |
| Theaterproduktionen, Workshops und Filmprojekten zusammengearbeitet hat, | |
| haben selbst Schauspielerkarrieren gestartet. „Einige waren nach ihrer | |
| Entlassung bei unseren Projekten außerhalb des Knasts dabei. Viele unserer | |
| Jungs sind bei den Castingagenturen für den Film gefragt“, erzählt Syrbe. | |
| In den 20 Jahren ihrer Tätigkeit hat aufBruch erreicht, in allen Berliner | |
| Knästen inklusive Frauen- und Jugendgefängnis präsent zu sein. | |
| „Theaterarbeit ist im Knast als Normalität angekommen“, stellt Atanassow | |
| fest. Vor 20 Jahren war es noch exotisches Experiment. AufBruch, einst | |
| initiiert vom Performancekünstler Roland Brus, ist seitdem zu einer | |
| Produktionsfirma mit mindestens vier Theaterproduktionen pro Jahr und | |
| zahlreichen Workshops geworden. Die Gruppe organisiert auch die Arbeit | |
| anderer Künstler in den Gefängnissen. | |
| In der Zusammenarbeit mit dem Educationprogramm der Berliner Philharmonie | |
| entstand die Idee für „Parsifal“. Die Musiker kommen von der Philharmonie, | |
| die Spieler aus der JVA Tegel. Ritterwelten und Knastwelten sind dabei gar | |
| nicht so weit entfernt. „Es handelt sich doch auch beim ‚Parsifal‘ um | |
| Clanstrukturen, um Großfamilien. Parsifal ist der entfernte Verwandte, der | |
| irgendwie mitläuft – und der dann zu dem wird, der das gesamte System | |
| retten kann“, meint Atanassow. Zu einer gehörigen Portion Archaik, | |
| vielleicht näher dran am Mittelalter als jemals in Bayreuth, sind diese | |
| Ritterdarsteller aus dem Gemäuer von Tegel auf jeden Fall fähig. | |
| 28 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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