# taz.de -- Gefangenenentheater in Tempelhof: Zwischen Kunst und Ausbeutung | |
> Theater und Realität sind Parasiten füreinander: Im Flughafen Tempelhof | |
> spielt das Gefangenenensemble Einar Schleefs Stück „Die Schauspieler“. | |
Bild: Inspiration für das Darstellen des Elends: Szene aus „Schauspieler“ … | |
Das ist ein Déjà-vu für die Flughafenmitarbeiter. In einem der gewaltigen | |
Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof sind wieder Doppelstockbetten | |
aufgebaut. Sie stammen noch aus den Beständen der einstigen | |
Notaufnahmestätte für Geflüchtete. Das Bettenarrangement ist jetzt Kulisse | |
für die Inszenierung des selten gespielten Stücks „Die Schauspieler“ von | |
Einar Schleef durch das [1][Gefangenentheater aufBruch.] | |
Der Dramatiker Einar Schleef ließ sich in den 1980er Jahren zum einen von | |
der Geschichte des Moskauer Künstlertheaters von Stanislawski inspirieren, | |
das für seinen Naturalismus berühmt wurde. Für die Uraufführung von Maxim | |
Gorkis Drama „Nachtasyl“ ließ der Hyperrealist des frühen 20. Jahrhunderts | |
seine Schauspieler zur Recherche die nahen Elendsquartiere durchschwärmen. | |
Zum anderen muss Einar Schleef, selbst eher poetischer als realistischer | |
Künstler, vom damals schon in Mode gekommenen Alltagsabkopieren genervt | |
gewesen sein. Nur so jedenfalls werden die Gewalttätigkeiten verständlich, | |
die er seine Theater spielenden Protagonisten beim Besuch eines | |
Obdachlosenheims erleiden lässt. | |
„Die Schauspieler“ ist ein Stück über das Ausbeuten des Elends zum Zwecke | |
des ästhetischen Gewinns. Ein Stück auch darüber, wie sich die Elenden | |
selbst diesem Ausbeutungsprozess entgegenstellen. Sie tun dies freilich | |
nicht in irgendeiner Form von Emanzipation, sondern indem sie andere | |
herabwürdigen und demütigen. Nur die, die auch geschändet sind, sind den | |
Armen gleich. Sie können zumindest hoffen, als gleich akzeptiert zu werden. | |
Der lange Mittelteil der Inszenierung kulminiert daher auch in einer | |
Vergewaltigungsorgie. Opfer sind, gendermäßig gerecht verteilt, je ein | |
Schauspieler und eine Schauspielerin des Ensembles im Ensemble. | |
Das Stück ist zugleich eine vielschichtige Versuchsanordnung zum Verhältnis | |
von Realität und Fiktion. Denn mit den „Schauspielern“, die im | |
Obdachlosenheim Inspiration für das Darstellen des Elends suchen, treten | |
Experten der Fiktion auf. Die allerdings, die sie in der Realität vermuten, | |
im realen Elend eben, sind ihrerseits Experten des Aussteigens aus dem | |
Realen. Rausch, Droge, Orgie sind die Vehikel, derer sie sich bedienen. Das | |
Theater selbst, recht eigentlich auch ein Eskapismus-Tool, ist ihnen aber | |
nicht als Instrumentarium geläufig. Dass in der Realität verurteilte | |
Straftäter die Schauspieler spielen, fügt diesem Verhältnis von | |
Spiegelungen und Umkehrungen noch eine Ebene mehr ein. | |
Momente von Alleinsein, Verlassensein, Gedemütigtsein | |
[2][Peter Atanassow], seit vielen Jahren Regisseur für das | |
Gefangenentheater aufBruch, richtet das Stück als zeitliches Triptychon | |
ein. Zu Beginn wird das Publikum in Gruppen aufgeteilt und in Gevierte | |
gelotst, die aus den Doppelstockbetten gebildet sind. Dort geben | |
Darsteller, bequem hingefläzt auf den Betten, Einblicke in die eigenen, | |
möglicherweise auch in fiktive Biografien. Übereinstimmend weisen diese | |
Biografiefragmente Momente von Alleinsein, Verlassensein, Gedemütigtsein | |
auf. Es sind Drogengeschichten, Adoptionsgeschichten, Erzählungen vom | |
Aufwachsen in einer Atmosphäre häuslicher Gewalt. In anderen Gevierten | |
werden auch Flucht- und Migrationsgeschichten erzählt. | |
Danach geht es vom Hangar in einen kleineren Raum. Hier befindet sich in | |
der Stückfiktion das eigentliche Obdachlosenheim. Hier findet die | |
feindliche Begegnung zwischen Künstlern und Ausgegrenzten statt. Beide | |
Gruppen formen sich zu Chören, sie konfrontieren sich, begegnen sich, | |
verschmelzen auch, um sich wieder in Feindschaft herauszulösen. | |
Am Ende folgt die ästhetisch stärkste Setzung: Zurück im Hangar entzieht | |
sich der neu formierte Chor dem Publikum. Ein riesiges Tor öffnet sich. Der | |
Chor betritt das Flugfeld, wird umrahmt vom Bogen der Begrenzungslichter. | |
Die Stimmen füllen jetzt den Hangar. Die gewaltige Flugzeughalle wird zum | |
Resonanzkörper des Sprechgesangs.Schleef wäre vermutlich begeistert | |
gewesen, selbst wenn er wohl noch präziser als sein Bewunderer Atanassow an | |
der Qualität des Tons gefeilt hätte. Dennoch ein Erlebnis und Anregung zum | |
tieferen Sinnieren über Realität, Abbild und Fiktion. | |
28 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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