# taz.de -- Ken-Kesey-Klassiker Gefängnis: Epos des individuellen Widerstands | |
> Das Gefangenentheater aufBruch spielt „Einer flog über das Kuckucksnest“. | |
> Die Inszenierung in der JVA Plötzensee ist atmosphärisch dicht. | |
Bild: Das Gefangenenensemble in Aktion | |
Aufstand, Tod oder Flucht – das sind die wesentlichen Optionen eines die | |
Freiheit liebenden Menschen in Systemen, die es mit den Freiheiten für die | |
vielen nicht so doll haben. Ken Kesey, ein Prä-Hippie aus der Bay Area um | |
San Francisco, fasste diese drei Optionen schon 1962 in seinem grandiosen | |
Irrenhaus-Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ zusammen. Der eine | |
Insasse der Anstalt nimmt sich selbst das Leben, weil er es nicht aushält, | |
der Überinstanz seiner ihn liebenden Mutter permanent nicht gerecht zu | |
werden. | |
Der andere, der den Aufstand probt – und später im gleichnamigen Filmhit | |
von Jack Nicholson verkörpert wird –, endet zunächst nach disziplinierender | |
Hirnoperation als menschliches Wrack auf der Liege. Von dort wird er | |
gnädigerweise von seinem besten Kumpel ins Jenseits befördert. Und der, ein | |
stolzer, lange geknechteter, aber nicht völlig erstickter Abkömmling der | |
Ureinwohner des Landes, sucht schließlich erfolgreich das Weite. | |
Dieses Epos des individuellen Widerstands, das auch von zarten | |
solidarischen Banden zu berichten weiß, wird aktuell in der | |
[1][Justizvollzugsanstalt Plötzensee] gespielt. Von Laien, von dortigen | |
Insassen, von Menschen, die in ihrem Freiheitsdrang, der auch ein | |
Zerstörungs- oder Selbstzerstörungsdrang sein kann, mit den Regeln der | |
anderen in Konflikt gekommen sind – und für die man natürlich hofft, dass | |
sie nicht jenen Arten von Gruppendisziplinierungen ausgesetzt sind, wie sie | |
Kesey in seinem nur halbfiktiven Werk beschrieben hat. Er selbst kannte ja | |
psychiatrische Anstalten als Aushilfspfleger von innen. Später gründete er | |
eine Kommune, aus der unter anderem die [2][„Grateful Dead“] hervorgingen. | |
Schlager und Kirchenlied | |
Puristen hätten sich für eine Inszenierung des Romans natürlich den einen | |
oder anderen Song der „Dead“ gewünscht. Aber die Crew um Regisseur Peter | |
Atanassow und die Musiker*innen Alexandra Rossmann und Vsevolod Silkin | |
wildert lieber in den Gefilden von Schlager und Kirchenlied. Auch von dort | |
hat sie aber einen passablen Soundtrack mitgebracht. | |
Wenn [3][Stationsschwester Ratched] (famos gespielt von Steven Mädel) die | |
Insassen sedieren will, stimmt sie das Lied vom Sandmännchen an. McMurphy, | |
der latent arbeitsscheue Lebemann und Glücksspieler, der die Station | |
aufzumischen beschließt, wird hingegen mit dem Heinz Rühmann-Klassiker „Ich | |
brech die Herzen der stolzesten Fraun“ eingeführt. Als Höhepunkt der | |
Anpassung an die herrschende Ordnung erklingt „Danke für diesen guten | |
Morgen“ – geboren als Kirchenchoral, unsterblich geworden auch für | |
atheistische Theatergänger einst an der Volksbühne unter Christoph | |
Marthaler. Und jetzt dargeboten von einem neunköpfigen Männerchor. | |
[4][Das Chorische, ob gesungen, ob gesprochen, ist ohnehin das | |
Markenzeichen von Regisseur Atanassow]. Auch in dieser Inszenierung ist es | |
ein prägendes Element. Unterdrücker und Unterdrückte, Personal, rebellische | |
Insassen und Duckmäuser verschmelzen dann zu einer kollektiven Stimme. Das | |
mag irritieren. Es zeigt aber auch, dass alle, was immer auch ihre | |
jeweiligen sozialen Rollen sein mögen, Fleisch vom gleichen Fleische sind. | |
Kein schlechter Kunstgriff also. | |
Wie es ohnehin viel Gutes zu berichten gibt. Das Ensemble weiß nicht nur | |
als Chor zu überzeugen. Es hat auch viel Raum, die einzelnen Figuren | |
individuell auszuspielen. Nehad Fandi etwa lässt als so lässiger wie | |
rebellischer Cowboy McMurphy fast Jack Nicholson vergessen. Erik ist als | |
Häuptling Bromden, der sich erst im Besenschrank versteckt und dann vom | |
fegenden zum tragenden Charakter wird, eine Wucht. Mädel legt als Ratched | |
eine Charakterstudie hin, die nicht zur Karikatur verrutscht. | |
Proben nur zwischen 16 und 20 Uhr | |
So könnte man jeden einzelnen durchgehen. Was hier mit Laien in nur sieben | |
Wochen Probenzeit erreicht wurde, ist enorm. Erst recht, wenn man bedenkt, | |
dass die meisten Spieler vormittags noch in der Anstalt arbeiten, erst | |
zwischen 16 und 20 Uhr Zeit für die Proben haben und außerdem Texte und | |
Lieder auswendig lernen müssen. | |
Auch der Raum ist geschickt gestaltet. Bühnenbildner Holger Syrbe hat eine | |
Art Wachturm für die Stationsschwester installiert. Ihre massige Figur | |
wirft dunkle Schatten an die Rückwand. Zu ihren Füßen gestalten die anderen | |
Spieler mit Dreiersitzen immer wieder den Spielraum neu. Eine sphärische | |
Ebene fügt der Videokünstler Pascal Rehnolt mit grobkörnigen | |
Schwarz-Weiß-Videos hinzu. | |
Regisseur Atanassov erzählt die Geschichte der Rebellion in der Anstalt | |
stringent. Er lässt aber auch genug Platz für Zwischentöne. Und weil das | |
Berliner Theaterpublikum weiß, was gut zu werden verspricht, waren die | |
Tickets für die ersten Vorstellungen im Onlineshop innerhalb einer Stunde | |
vergriffen. Da kann man nur nach weiteren Vorstellungsserien rufen, am | |
liebsten bis hin zum frühesten Entlassungstermin eines der Darsteller. | |
Angesichts der mittlerweile erreichten Güte der Inszenierungen fragt man | |
sich ohnehin, warum es bislang keine Show des Gefangenenensembles der JVA | |
Plötzensee oder der JVA Tegel jemals zum Theatertreffen geschafft hat? | |
Jury, bitte mal einschließen lassen. Man kommt auch wieder raus. | |
12 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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