# taz.de -- Stückentwicklung mit JVA in Jena: Leben weggesaugt | |
> Die Zeit, die nicht vergehen will: In Jena erzählt das Theaterstück | |
> „Knast“ über Alltag, Zermürbung und mangelnde Einsicht in einer JVA. | |
Bild: Auf ein paar Metern Basketballfeld: Leon Pfannenmüller, Linde Dercon und… | |
Eine Gruppe Schauspieler geht in den Knast, genauer in das Männergefängnis | |
Hohenleuben in Thüringen. Sie wollen wissen, wie es da so ist, wie die | |
Insassen leben, was sie beschäftigt, was sie hoffen lässt. Sie treffen auf | |
die Mitglieder einer Theater-AG und reden. Im November 2022 begann der | |
Prozess des Kennenlernens und der Arbeit an einem Stück: „Knast“. Das hatte | |
letztes Wochenende am Theaterhaus Jena Uraufführung. | |
Es ist eine bemerkenswert gut gelungene Stückentwicklung, sensibel, witzig | |
und reflektiert. Auf dem Boden der Bühne ist ein halbes Basketballfeld | |
markiert. Zudem nutzt der Bühnenbildner Maarten van Otterdijk die Rückwand | |
des Raums, deren Fenster einen kahlen Baum und gleich dahinter eine | |
Ziegelmauer sehen lassen. Kein Ausblick, nirgends. | |
Das staucht die Unrast und Bewegungswut, mit der die Darsteller (Nikita | |
Buldyrsi, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller und Paul Wellenhof) und der | |
Musiker Wilhelm Hinkel ihr Spiel beginnen, dribbelnd, jagend und Körbe | |
werfend. Typischer Gefangenensport, denkt man womöglich, kennt man aus | |
vielen Filmen. Um irgendwann im Verlauf des Stücks zu erfahren, dass es in | |
der JVA Hohenleuben kein Baskettball gibt. | |
„Knast“ wird erzählt wie ein Making-of. Auf der Bühne stehen nur die | |
professionellen, jungen Schauspieler – unter ihnen der Regisseur Leon | |
Pfannenmüller – und erzählen von den Treffen, ihren Aufregungen, den | |
gegenseitigen Spekulationen, den gemeinsamen Überlegungen. Der Text benutzt | |
viele O-Töne der Begegnungen, die Figuren sowohl der Häftlinge als auch der | |
Schauspieler wurden dabei fiktionalisiert. Es ist kein voyeuristischer | |
Blick, oft wird ausprobiert, ob, was an Spielszenen entstanden ist, einer | |
Überprüfung durch die Betroffenen standhält. | |
Warum sie Theater spielen. In der Vorstellungsrunde nennen die Mitglieder | |
der Theater-AG handfeste soziale Gründe – man sieht andere, man kann sich | |
selbst mal beiseitestellen, man gewinnt an Selbstbewusstsein. Die Profis | |
dagegen geraten bei der Antwort leicht ins tiefgründelnde Schwafeln. So | |
viel Selbstironie muss sein. | |
## Wem steht man da wirklich gegenüber? | |
Die beiden Gruppen spiegeln sich ineinander – Projektionen werden sichtbar. | |
Das alles wird mit freundlicher Zugewandtheit erzählt, die aber auch die | |
Unsicherheit und den Zweifel nicht ausblendet. Wem steht man da wirklich | |
gegenüber? | |
In Berlin gibt es das [1][Gefängnistheater aufBruch], das seit 25 Jahren | |
Stücke mit Strafgefangenen inszeniert. Die Zuschauer sind immer wieder | |
angetan von der Intensität des Spiels. Man weiß, man hat es mit Straftätern | |
zu tun, die theatralen Stoffe bieten oft eine Auseinandersetzung mit | |
Schuld, Strafe und Verantwortung. Die Rollen bieten den Mitspielenden die | |
Gelegenheit, gesehen und mit einer Ausdrucksstärke wahrgenommen zu werden, | |
die sie eben nicht auf ihre kriminelle Identität reduziert. | |
Darum geht es auch in „Knast“, aber mit anderen Mitteln. Einige, sehr | |
reflektierende und teils auch spielerisch virtuose Szenen handeln eben | |
genau davon: wie der Alltag in der JVA die Identität immer mehr reduziert | |
auf die eines Häftlings. Wie die veränderte Wahrnehmung der Zeit, die nicht | |
vergehen will, Leben wegsaugt. Wie die sozialen Kontakte nach draußen mehr | |
und mehr verkümmern. | |
Wie mangelhaft die Vorbereitung auf das Leben nach der Entlassung aussieht. | |
Und es geht auch um fehlende Angebote, die eigene Schuld aufzuarbeiten, | |
sich mehr mit den Opfern, ihren Ängsten und Traumata auseinanderzusetzen. | |
Diese Szenen beinhalten auch eine Kritik am Strafsystem, das die Wege, die | |
aus einem kriminellen Milieu herausführen könnten, vernachlässigt. | |
Aber weil „Knast“ das Thema eben auch mit seinen Widersprüchen beleuchten | |
will, steht dem gegenüber eine Szene, hastiger gespielt, in der die | |
Inhaftierten über ihre Taten reden und das Nachdenken über die Opfer | |
einfach weggedrückt wird. Da sagt einer zum Beispiel „Ich bin hier, weil | |
meine Freundin mich angezeigt hat, dass ich sie gewürgt habe“, und nicht, | |
„ich bin hier, weil ich meine Freundin gewürgt habe“. Schwere | |
Körperverletzung ist vielfach das Vergehen, das aber kleingeredet wird | |
durch die Erzählung der Umstände. Nach Einsicht klingt das wenig. | |
## Kein Beamtenbashing | |
Die Inszenierung hat einen guten Rhythmus. Wofür man alles Anträge | |
schreiben müsse, heißt es in einem Rap-Song, der das Monotone und | |
Ermüdende, die Wiederholung der Wiederholung in den Prozessen der | |
Bürokratie hervorhebt. Beamtenbashing betreibt das Stück aber nicht; vieles | |
wäre besser, wenn es nicht nur zwei Freizeitbeamte für 262 Gefangene gäbe … | |
Mit Herbert Grönemeyers Song „Männer“, vom Musiker Wilhelm Hinkel mit hoh… | |
Stimme vorgetragen, nimmt die Inszenierung Männerbilder und männliches | |
Selbstmitleid auf die Schippe. Im Theater, bei der Premiere, war das eine | |
Szene, die beinahe alle zum Lachen brachte. Aber das sei, erzählen der | |
Regisseur Leon Pfannenmüller und die Dramaturgin Hannah Baumann am Tag nach | |
der Premiere, in einer Probeaufführung in der JVA ganz anders gewesen. Dort | |
habe der Song die Zuschauenden wirklich angefasst und schwer gerührt. | |
Mit der Premiere ist die Arbeit nicht zu Ende, sagt Pfannenmüller. Nicht | |
nur, weil den Aufführungen im Theater ab Herbst auch Termine in der JVA | |
folgen sollen. Sondern auch, weil der Austausch weitergehen soll. | |
Pfannenmüller ist seit 2018 dem Theaterhaus Jena verbunden. Dort hat er | |
letztes Jahr „Im Tod – in my time of dying“ gemeinsam mit dem indischen | |
Schauspieler Sankar Venkateswaran inszeniert und gespielt, auch das eine | |
offene Stückentwicklung, die bei der Erfahrung des Sterbens seiner Mutter | |
ansetzte und über die vielen Barrieren im Umgang mit Sterbenden erzählte. | |
Dafür hatte er unter anderem viele Gespräche auf einer Palliativstation | |
geführt. | |
Bei persönlichen Erfahrungen anzusetzen, um gesellschaftliche Spielräume | |
auszuloten, macht viele Stückentwicklungen im Theaterhaus Jena aus. Für | |
Leon Pfannenmüller und Hannah Baumann heißt das auch, die Blase des | |
Theaters überwinden zu wollen. Damit geht das Theaterhaus Jena einen | |
anderen Weg als viele andere Stadttheater. In Jena, einer Universitätsstadt | |
mit einem großen studentischen Publikum, funktioniert das gut. Nicht | |
zuletzt aufgrund eines Kulturtickets, das Studierende für zwei Euro im | |
Semester erwerben können und dann viele Veranstaltungen, wie die im | |
Theaterhaus Jena, mit freiem Eintritt besuchen können. | |
In „Knast“ steckt das Überraschende und Berührende oft im Detail. In der | |
Schlussszene wird der Brief eines Inhaftierten vorgelesen. Er bittet die | |
Theaterleute, für ihn in ihrem Stück einen [2][Song von Rapper Drake] zu | |
performen, „Staying alive“, den er einmal im Fernsehen gesehen hat und | |
nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Aber er kann ihn nicht wieder hören, es | |
fehlt an technischem Zugangsmöglichkeiten zur Musik, an Kopfhörern, an CDs. | |
Leon Pfannenmüller singt den Song für ihn, die anderen tanzen dazu. | |
7 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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