# taz.de -- JVA-Chef über Ersatzfreiheitsstrafen: „Der Staat muss richtiges … | |
> Immer mehr sitzen Ersatzfreiheitsstrafen ab. JVA-Chef Uwe Meyer-Odewald | |
> sagt: Sie gehören hier nicht her. Das Strafbedürfnis sei oft irrational. | |
Bild: 260 Menschen sitzen allein in der JVA Plötzensee, weil sie eine Geldstra… | |
wochentaz: Herr Meyer-Odewald, in Ihrem Gefängnis gibt es 650 Haftplätze. | |
Rund 260 Menschen sitzen ein, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben. | |
Nun soll die Dauer dieser Ersatzfreiheitsstrafen halbiert werden. Reicht | |
das? | |
Uwe Meyer-Odewald: Nein, das ist nur der kleinste gemeinsame Nenner, ein | |
erster Schritt. Es gibt schon seit längerer Zeit eine kriminalpolitische | |
Debatte zum Umgang mit Ersatzfreiheitsstrafen. Und die hat nun endlich eine | |
öffentliche Dimension bekommen. | |
Was genau steht hier zur Diskussion, wenn es nicht nur um die Verkürzung | |
von Haftstrafen geht? | |
Das ganze Strafgesetzbuch müsste durchleuchtet werden nach | |
Bagatellstraftaten, die vielleicht vor 100 Jahren noch strafwürdig waren, | |
aber heute nicht mehr. Es ist unter Juristinnen und Juristen im Grunde | |
unumstritten, dass ins Strafgesetz nur Handlungen gehören, die gegen | |
elementare Werte der Gemeinschaftsordnung verstoßen. | |
So wie schwere Gewaltdelikte? | |
Genau. Vor rund 90 Jahren, als das Erschleichen von Leistungen, also das | |
Fahren ohne Ticket, ins Strafgesetzbuch kam, mag das auch für dieses Delikt | |
so gesehen worden sein. Aber heute würde doch keiner mehr sagen, dass das | |
Ohne-Fahrschein-Fahren in der U-Bahn gegen elementare Werte der | |
Gemeinschaftsordnung verstößt. Dafür ins Gefängnis zu gehen, ist absurd. | |
Diese Handlungen müssen entkriminalisiert werden. | |
Geht es da vor allem um Kosten? | |
Man muss auch über die Kosten sprechen, natürlich. Wir haben Leute hier | |
einsitzen wegen 160 Euro Geldstrafe, die nicht bezahlt wurde – 20 Hafttage | |
à 8 Euro. Allein ein Platz in der Haftanstalt kostet rund 200 Euro – pro | |
Tag. Es verbietet sich im Justizvollzug immer dann, über Kosten zu | |
sprechen, wenn es um die Sicherheit geht. Aber die Menschen, die wegen | |
nicht bezahlter Geldstrafen einsitzen, sind nicht hier, weil sie gefährlich | |
sind. | |
Sonst hätten sie eine andere Strafe bekommen? | |
Sonst hätten sie eine Freiheitsstrafe und keine Geldstrafe bekommen. Die | |
Freiheitsstrafe ist der schwerste Eingriff in die Grundrechte. Wenn ich für | |
einen nicht bezahlten Tagessatz Geldstrafe einen Tag ins Gefängnis muss, | |
dann steht das in keinem Verhältnis. Zumindest an diesem Umrechnungskurs | |
will der Justizminister also jetzt schrauben. Aber wenn Sie mich fragen, | |
ist auch ein Tag Haft für zwei Tagessätze Geldstrafe noch viel zu viel. | |
Kritiker:innen sagen, eine kürzere Haft wirkt nicht mehr abschreckend. | |
Und Experten wissen, dass die Dauer der Haftstrafe nicht entscheidend ist | |
für das Ziel der Abschreckung. Schon gar nicht bei den Straftaten, über die | |
wir hier reden. Wichtig ist, dass eine strafbare Handlung überhaupt | |
geahndet wird. Im Fall bestimmter Bagatelldelikte sind Haftstrafen aber | |
meiner Ansicht nach oft gar nicht angemessen. | |
Schon interessant: Ein Gefängnisleiter, der sagt, ein Teil der Gefangenen | |
gehört hier nicht her. Sorgt das unter Kolleg:innen für Diskussionen? | |
Es gibt natürlich viele Diskussionen, und es gibt auch Gefängnisleitungen, | |
die sagen, wir arbeiten mit dem, was wir kriegen. Zu den Leuten gehöre ich | |
nicht. Es ist meine Aufgabe, auch auf kriminalpolitische Fehlentwicklungen | |
der letzten Jahrzehnte hinzuweisen, wenn sie Auswirkungen auf den | |
Justizvollzug haben. Auf unseren Stationen sind Ersatzfreiheitsstrafer, die | |
sich in einer desolaten finanziellen, gesundheitlichen und sozialen | |
Situation befinden. Knapp ein Drittel von ihnen ist entweder obdachlos oder | |
lebt in betreuten Einrichtungen. Die öffnen ihre Post nicht mehr, mit der | |
auch die Ladung zum Strafantritt kommt. Alle, die denken, diese Leute | |
gehören ins Gefängnis, sollten eigentlich mal zu uns kommen. Das geht | |
natürlich nicht. | |
Es gibt Wege, die Haft zu vermeiden: das Prinzip „Arbeit statt Strafe“ zum | |
Beispiel. | |
Die Verbüßung von Geldstrafen trifft fast immer Menschen, die | |
wirtschaftlich schlecht gestellt sind. Alle, die die Geldstrafen irgendwie | |
noch begleichen können, werden natürlich versuchen, eine Haft zu umgehen: | |
Durch Ratenzahlungen oder durch Abarbeiten. Die Menschen, die dann | |
letztlich eine Ersatzfreiheitsstrafe im Justizvollzug verbüßen, sind quasi | |
der Rest, der auch das nicht schafft. | |
Das klingt nach wenigen … | |
Leider nicht. Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafer steigt seit Jahren an. | |
Während der Pandemie gab es eine Ruhepause, weil die Ersatzfreiheitsstrafen | |
zum Teil ausgesetzt wurden. Dafür kommen die Menschen jetzt mit angehäuften | |
Hafttagen und sitzen dann zum Teil ein halbes oder ganzes Jahr wegen | |
Fahrens ohne Ticket ein. | |
Gefängnisse haben ja auch den Zweck der Resozialisierung. Macht die Haft | |
dann nicht doch Sinn? | |
Dafür ist die Haftdauer bei den Ersatzfreiheitsstrafern wiederum zu kurz, | |
manchmal nur ein paar Tage. Unsere eigentliche Aufgabe ist es, mit | |
Straftätern zu arbeiten, die gefährlich sind, die großen Schaden | |
angerichtet haben und ohne Resozialisierung weiter anrichten würden. | |
Stattdessen müssen wir unsere finanziellen und personellen Ressourcen für | |
die Betreuung der Ersatzfreiheitsstrafer aufwenden. Und das ist sehr, sehr | |
aufwändig. | |
Inwiefern? | |
Viele dieser Menschen weisen soziale Persönlichkeitsstrukturen auf, die | |
durch jahrzehntelangen Drogenmissbrauch geprägt sind. Da kommen schwerst | |
alkoholgeschädigte, teils demente Menschen mit diversen | |
Begleiterkrankungen. Wir sperren Leute ein, die seit Jahren nicht unter | |
einem Dach geschlafen haben. Die Probleme dieser Menschen gehen nicht davon | |
weg, dass wir Unmengen von Geld in den Haftanstalten für deren Betreuung | |
und vor allem auch unnötige Sicherung ausgeben. Soziale Probleme lassen | |
sich eben nicht mit Mitteln des Strafrechts lösen. | |
Sondern? | |
Das sind keine Fälle fürs Gefängnis, sondern zum Beispiel für aufsuchende | |
Sozialarbeit, für bessere Strukturen in den zuständigen Ämtern. Soziale | |
Defizite können außerhalb einer Justizvollzugsanstalt billiger gelöst | |
werden. Der Justizvollzug kann jedenfalls nicht der Reparaturbetrieb für | |
sozialstaatliche Versäumnisse sein. | |
Völlig straffrei kann zum Beispiel das Fahren ohne Ticket aber auch nicht | |
bleiben, oder? | |
Zumindest nicht sanktionsfrei. Aber es gibt ja bereits das erhöhte | |
Beförderungsentgelt. Und davon abgesehen: Warum richten die | |
Verkehrsbetriebe nicht strengere Sicherungssysteme ein, so wie in anderen | |
Ländern? Geht nicht, zu teuer, heißt es dann. Stattdessen stecken wir | |
lieber Millionen in die Bestrafung von Schwarzfahrern. | |
Als Alternative wird auch die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit | |
diskutiert. | |
Das ist auch nicht die Lösung für alle Probleme. Ordnungswidrigkeit | |
bedeutet, dass es bei Nichtbezahlung auch zu einer Erzwingungshaft kommen | |
kann. Gegenüber der Ersatzfreiheitsstrafe hätte die dann sogar den | |
Nachteil, dass die Geldbuße damit nicht getilgt ist. Insofern wäre die | |
Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit immer noch ein fragwürdiges Mittel. | |
Es gibt auch das schwedische Modell. | |
Ein interessanter Ansatz. Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafer ist dort | |
ex-trem gering. Weil nämlich nur die ins Gefängnis müssen, die eine | |
Geldstrafe nicht bezahlen wollen. Bei uns wäre das eine Handvoll | |
Reichsbürger, die lieber ins Gefängnis gehen als Geld an den Staat zu | |
zahlen. Alle anderen, die bei uns einsitzen, sind ja zahlungsunfähig. | |
Das müsste dann aber jemand prüfen, bevor sie zum Haftantritt abgeholt | |
werden. | |
Das müsste schon im Verurteilungsverfahren festgestellt werden, und da sind | |
wir bei einem weiteren großen Kritikpunkt: Fast alle Verurteilungen zu | |
einer Geldstrafe erfolgen im schriftlichen Verfahren, dem sogenannten | |
Strafbefehlsverfahren. Das heißt, es kommen Menschen in Haft, die nie einen | |
Richter oder eine Richterin gesehen haben. Ich weiß, dass das viel mehr | |
Geld kosten würde, aber Haft ohne Inaugenscheinnahme der Verurteilten darf | |
in einem Rechtsstaat nicht passieren. Auch die Schuldfähigkeit müsste im | |
Prozess geprüft werden, weil ja nur verurteilt werden darf, wer | |
verantwortlich ist für sein Tun. Wir haben hier mutmaßlich zu einem nicht | |
geringen Teil Insassen, die schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind. | |
Schuldfähig bedeutet Einsicht ins eigene Unrecht. Jeder weiß doch, dass es | |
nicht rechtens ist, sich ohne Ticket in die U-Bahn zu setzen. | |
Das ist sicherlich so. Aber ich habe erst heute einen | |
Ersatzfreiheitsstrafer gesehen, der von der Polizei hier mehr oder weniger | |
reingetragen wurde. Das ist die Klientel, die nicht bezahlen kann. | |
Menschen, die letzlich die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. | |
Bei sogenannter Leistungserschleichung ist das Missverhältnis zwischen | |
Fehlverhalten und Gefängnisstrafe besonders groß. Wie viele der | |
Ersatzfreiheitsstrafer bei Ihnen sitzen deswegen ein? | |
Ungefähr ein Drittel. Die anderen kommen wegen kleinerer Diebstähle, | |
Betrugs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Aus Gefängnisperspektive | |
sind Klientel, Motivation und Problemlagen aber oft ähnlich. Der Staat muss | |
das richtige Maß, die richtige Sanktion finden und das Geld der | |
Steuerzahler sinnvoll einsetzen. | |
Im Winter kommen viele freiwillig zum Haftantritt, heißt es. Immer noch | |
besser, als auf der Straße zu leben. | |
Ja, so ist es leider, so zynisch es sich anhören mag. | |
Und trotzdem gibt es Kontroversen in der Politik und in der Gesellschaft. | |
Eine Einigung zur Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie Fahren ohne | |
Ticket ist noch nicht in Sicht. | |
Die Strafbedürfnisse in einer Gesellschaft sind oftmals leider irrational. | |
Für absolute Bagatelldelikte wie das sogenannte Schwarzfahren ist eine | |
Justizvollzugsanstalt jedenfalls der falsche Ort. Man muss es so deutlich | |
sagen: Es handelt sich um eine Vergeudung finanzieller und personeller | |
Ressourcen. | |
Wenn Bagatelldelikte entkriminalisiert würden, stünde quasi ein ganzes Haus | |
Ihres Gefängnisses leer. | |
Ich bin jetzt seit 30 Jahren im Geschäft und habe immer wieder | |
Wellenbewegungen erlebt, teilweise mit erdrückender Überbelegung, aber auch | |
mit Unterbelegung. Auf jeden Fall könnten wir uns dann wieder um die | |
eigentlichen Kernaufgaben des Justizvollzugs kümmern. | |
29 Jan 2023 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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