# taz.de -- Auftakt des CCC-Kongresses in Leipzig: Der einzig Wahre | |
> Sie waren die „Frieks“, doch dann sind sie geblieben: Wie aus einem | |
> Haufen Irrer der wichtigste Gesellschaftskongress der Gegenwart wurde. | |
Bild: Der Chaos Communication Kongress ist Avantgarde, weil er stets pünktlich… | |
LEIPZIG taz | Die Geschichte der Verklärung beginnt meist mit etwas | |
Romantik und endet stets in einer großen Idee. Es geht dann zum Beispiel um | |
einen Aufbruch, um die Geburtsstunde von etwas, um den Beginn einer neuen | |
Epoche. Jedenfalls ist das in den guten Erzählungen der Fall, etwa, wenn | |
man in diesen Tagen vom sogenannten Tuwat-Kongress träumt, der 1981 in | |
West-Berlin stattfand. Das muss wohl für manche so etwas wie die Mutter | |
aller Kongresse gewesen sein, eine Geburtsstunde oder nennen wir es, weil | |
gerade Weihnachten war, doch: eine ideologische Krippe. | |
Ein Scheiß war der Tuwat-Kongress. | |
Der Tuwat-Kongress 1981, das war noch nicht mal ein Kongress. | |
Es verhält sich ja so mit dem Gesellschaftskongress: Als Form | |
emanzipatorischer Politik, als Ort der Verständigung, als strategische | |
Zusammenkunft ist er so gut wie tot. Es gibt heute natürlich allerlei | |
Konferenzen und Kongresslein und Plena und Twitter, aber nur ein | |
Gesellschaftskongress in Deutschland, das muss man diesen Nerds lassen, ist | |
unignorierbar, und das ist ein Treffen, das noch bis zum kommenden Samstag | |
in Leipzig stattfindet, eingemietet in Messehallen, in denen im April das | |
Beauty Forum Leipzig stattfand und im November das Welthundeforum. | |
Der Tuwat-Kongress 2017, das ist ein echter Kongress. | |
Es handelt sich um den 34C3. Das steht für: Vierundreißigster Kongress des | |
Chaos Computer Clubs. Erwartet werden rund 15.000 Menschen aus vielen | |
Ländern der Welt. | |
## Raumschiff, gelandet | |
In einer dieser riesigen Messehallen haben sie das große Raumschiff wieder | |
aufgestellt. Es ist märchenhaft, weil es aussieht, als habe das | |
Sandmännchen es selbst hierher geflogen. An eine Wand hat jemand mit weißer | |
Sprühfarbe geschrieben: „Tu kaputt, wat dich kaputt tut“. Das soll eine | |
Reminiszenz sein, eine Erinnerung an die Zeit der Hausbesetzer, an jenen | |
Aufruf aus dem Jahr 1981, an Tuwat. | |
Damals, im August 1981, wollten vor allem Berliner Hausbesetzer gegen die | |
ihnen drohenden Räumungen mobilisieren und riefen ihre Verbündeten | |
deutschlandweit zu einem „Kongress“, der gleich mehrere Wochen dauern | |
sollte. Im Prinzip war es nichts anderes als eine Kampagne, verteilt über | |
zwei Monate, bis zu den Räumungen im September hinein und jeder konnte | |
machen was er wollte und jede andere auch: Filme gucken, Häuser | |
mitbesetzen, demonstrieren. | |
Dann waren es, inmitten davon, gerade einmal 29 gedruckte Zeilen, die am 1. | |
September 1981 unter der Rubrik „Aktionen“ in der taz zu lesen waren. Ihr | |
Inhalt war ein Aufruf. Er trug die Überschrift [1][„tuwat.txt“] und darin | |
stand: Am 12. September 1981 ab 11 Uhr sollte es in der Wattstraße in | |
Berlin-Moabit, und zwar in der damaligen taz-Redaktion, ein Treffen von, | |
wie es in dem Aufruf hieß, „Komputerfrieks“ geben. | |
An diesem Tag Mitte September wurde dann also in der taz, so ergab es sich, | |
am Tisch der Kommune 1 der Chaos Computer Club gegründet. Die Idee war | |
schon damals politisch; im Kern ein liberales, ein autonomes Versprechen. | |
Es ging um die Kritik an der Übermacht großer Konzerne im Umgang mit | |
Technik. Das Gegenprojekt hieß: „Daß sich mit Kleinkomputern trotz alledem | |
sinnvolle Sachen machen lassen, die keine zentralisierten | |
Großorganisationen erfordern, glauben wir.“ Es war ein Ruf an die | |
Selbstbestimmung, aber ein Kongress war es sicherlich nicht. | |
Tuwat damals, das war eine gute Idee, aber eine Randnotiz im Lauf der | |
Bewegungsgeschichte. | |
Tuwat heute, das ist dagegen, man kann das finden wie man will, der | |
relevanteste emanzipatorische Gesellschaftskongress der Gegenwart in | |
Deutschland. | |
## Julian Assange, entzaubert | |
Der Kongress des Chaos Computer Clubs, war in all den letzten Jahren, immer | |
zwischen Weihnachten und Neujahr, der Ort, an dem teils weltexklusiv das | |
Handwerkszeug aus dem Besteckkasten der NSA präsentiert wurde; dies war der | |
Ort, an dem das Material von Edward Snowden filetiert wurde, als es noch | |
frisch war, und an dem, davor, die aggressive Publikationspolitik von | |
Wikileaks debattiert wurde. Man konnte dort über die Jahre live dabei | |
zuschauen wie Julian Assange langsam immer verrückter wurde. | |
Dieser Gesellschaftskongress ist der Ort, an dem es in diesem Jahr etwa um | |
die Übermacht digitaler Propagandaroboter geht, um die Beeinflussung von | |
Wahlen, um die Verfolgung und Überwachung politischer Aktivisten und um die | |
Frage, wie sicher es künftig in Deutschland sein wird, seine Autos mit | |
Strom zu betanken. Und dann sitzen da noch Freaks, die dauernd irgendetwas | |
löten, und sogenannte „Chaospat*innen“, die bunte Traumwelten bauen, zum | |
Hinsetzen, aus hundert Prozent Müll. Das ist der Kongress: unignorierbar, | |
aktuell und relevant. | |
Einmal, da gab es so einen Kongress schonmal, aber das war nicht der | |
Tuwat-Kongress, das war der Tunix-Kongress. | |
Das war am letzten Wochenende im Januar des Jahres 1978, da ging es an der | |
Technischen Universität in West-Berlin auch um allerlei. David Cooper war | |
zum Beispiel gekommen, der große Anti-Psychiatrist und Autor des Buches | |
„Der Tod der Familie“. Er wollte auf dieser Veranstaltung darüber | |
diskutieren, was zu tun sei gegen die herrschende Diagnostik, die Kliniken, | |
das Verständnis von „Verrückheit“. Der Raum war packend voll. Einige der | |
Besucher hielten sich an keinerlei Gesprächsordnung, trotz Ermahnungen, | |
brüllten ihre Anklagen gegen die Psychiatrie in Richtung des Podiums. Unter | |
den Besuchern befanden sich auch Leute, die sich später zur | |
„Irrenoffensive“ zählten, einer dann gegründeten Gruppierung von | |
Psychiatriebetroffenen mit der Maxime: „Nicht der Irre ist verrückt, | |
sondern die Gesellschaft, in der er erlebt“. Die wütenden Teilnehmer ließen | |
sich nicht bändigen und auch nicht in eine Diskussion integrieren. Cooper | |
erhob sich schließlich, sagte etwas wie „I have to go to another room“, | |
packte seine Sachen, und ging schwerfällig davon. Das Publikum war ratlos. | |
Die Veranstaltung zur Antipsychiatrie war gesprengt. | |
## Westdeutsche Erneuerung | |
Das „Treffen in Tunix“ war vor allem ein Chaos. Aber mit diesem Kongress | |
1978, das war eine Zeit, in der die Männer auch schon oft zu laut sprachen | |
und mittelalte Professoren unter dem Diktum der Selbstbestimmung junge | |
Studentinnen angruben, begann eine jedenfalls westdeutsche Erneuerung. Auch | |
dies war ein echter Gesellschaftskongress, verquer, verrückt und führend. | |
Cooper verließ an jenem 29. Januar 1978 das Universitätsgebäude in Berlin, | |
aber die, die blieben, gründeten das Netzwerk Selbsthilfe und halfen sich | |
fortan, und bis heute, selbst. Andere riefen seinerzeit nach Homolulu, das | |
war ein Queerfestival zu einer Zeit als noch niemand das Wort Queer | |
überhaupt buchstabieren konnte. | |
Tunix, das war auch der Kongress, aus dem damals die taz entstand und, weiß | |
der Henker, die grüne Partei auf den Weg gebracht wurde und jedenfalls ist | |
eines klar: Keines dieser Projekte schaffte es in den letzten Jahren mal je | |
wieder, einen ordentlichen Gesellschaftskongress zu veranstalten, der eine | |
irgendwie zwingende, universale oder – konkreter gesprochen – also eine | |
nationale Relevanz entfaltet hätte. | |
Natürlich gibt es in der Geschichte der außerparlamentarischen Linken in | |
Deutschland immer wieder solche gewissen Momente der Zusammenkunft. Neulich | |
einmal, das war im Jahr 2011, kamen sie etwa in Frankfurt zusammen, | |
Esoteriker, Geldkritiker, Antikapitalisten und wedelten mit den Händen, um | |
sich gegenseitig ihrer Zustimmung zu versichern: Das war die | |
Occupy-Bewegung, aber sie hielt nicht lange. | |
Oder vorher schon, 2007, zum G8-Gipfel in Heiligendamm, wo es Plena gab und | |
viele Diskussionen und einen kleinen linken Aufbruch. Oder noch früher, | |
2005, beim ersten deutschen Sozialforum in Erfurt, als es um Hartz IV ging. | |
Nichts davon hat den Namen Kongress verdient. | |
## Die kleinen anderen | |
Es ist doch so: | |
Die Kirchentage sind nett, weil fett, aber es folgt nichts daraus und | |
wahrscheinlich mag sie sogar Ulf Poschardt. | |
Die Fusion ist holla, weil bolla, aber die Musik ist zu laut. | |
Und diese ganzen linken Kleinkonferenzen, sagen wir mal Antifa oder | |
Stuttgart21 oder Fracking, die sind natürlich alle wichtig, weil richtig, | |
aber was auch stimmt, ist: Es geht halt kaum jemand hin. | |
Und so ist, vielleicht weil stets die Frage der Technik im Mittelpunkt | |
stand und keine der Moral und des Bekenntnisses, über die Jahre ein | |
Gesellschaftskongress entstanden und geblieben, der ab diesem Mittwoch dazu | |
führt, dass Sonderfahrpläne im Leipziger Stadtverkehr gelten und die | |
Hotelpreise stattlich sind und dass, noch ehe der Kongress überhaupt | |
richtig begonnen hat, eine Debatte darüber entbrannt ist, wer da wohl | |
heimlich wieder die eigens mitgebrachten Unisex-Aufkleber von den | |
Herrenklos entfernt hat. | |
Es gibt auf diesem Kongress eine Espressobar mit dem Namen „Barista, | |
Barista, Antifascista“, weil das neulich [2][ein Witz war, in der | |
außerparlamentarischen Twitterlinken], aber was der Kern dieses Kongresses | |
ist und was ihn so anziehend macht, ist die Tatsache, dass er noch immer | |
Avantgarde ist, weil er stets pünktlich zeigt, was so alles kaputt ist, | |
damit man es reparieren kann. | |
## Wunden zeigen und demaskieren | |
Es gehört zur Ironie der Geschichte und auch zum Versagen der | |
Gesellschaftskongresse in Deutschland, dass immer noch Männer auf ihnen den | |
Ton angeben, aber heute, 40 Jahre nach Tunix, gibt es jedenfalls eine | |
halbwegs verbreitete psychotherapeutische Versorgung in Deutschland und | |
alle Ticks, Psychosen und Paranoia könnten behandelt werden. | |
Die gesellschaftlichen Wunden zu zeigen und zu demaskieren, mit Freunden | |
und Freaks, das war immer das Geheimnis eines guten Kongresses und sie | |
wenigstens heilen zu wollen, wird wohl immer sein Anspruch sein müssen. | |
27 Dec 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://berlin.ccc.de/wiki/TUWAT.TXT | |
[2] /Missverstandene-Antifa-Schlachtrufe/!5472705/ | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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