Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 40 Jahre Tunix-Kongress in West-Berlin: Hoch die hedonistische Inte…
> Könnte es Tunix heute noch mal geben? Wohl kaum. Die Idee von damals aber
> lebt weiter – bei Hackern, Tortenwerfern und Spaßgueriller@s.
Bild: TeilnehmerInnen des Kongresses 1978 in Berlin
Obwohl der Name Tunix in linken Kontexten immer wieder mal herumschwirrte,
war der Kongress selbst für mich nie ein Thema. Dann las ich den „Aufruf
zur Reise nach Tunix“. Und war begeistert. Ich wäre damals sofort nach
Berlin gereist.
40 Jahre später und nach nun schon einigen Jahren der bleiernen
Merkel-Zeit, die Stillstand als Innovation glorifiziert, Freiheiten abbaut
und dabei die Schere von Arm und Reich auseinandertreibt, wäre heute eine
Reise nach Tunix mehr als angebracht. Ein neuer Aufbruch aus dem Nichts.
Ein Neuanfang. Oder zumindest ein Zeichen. Sollte es also eine Neuauflage
des Tunix-Kongresses geben?
Nein. Denn wie das mit Legenden so ist, lässt sich auch diese nicht einfach
so neu auflegen. Außerdem gibt es seit Jahren Kongresse, die in der
Tradition von Tunix stehen – und denen man den Aufruf von damals
unterschieben könnte, ohne dass es groß auffallen würde.
Seit acht Jahren lädt die Hedonistische Internationale, ein loses Netzwerk
aus Spaßgueriller@s und aktionsorientierten Gruppen, im Frühling zu ihrem
Weltkongress. Beim ersten Mal, 2010 in einer alten Grenzkaserne in der
Altmark, wollten sich die einzelnen Sektionen des kurz vor dem G8-Gipfel in
Heiligendamm aus dem Boden geschossenen Netzwerks – das damals vor allem
mit Kommunikationsguerilla, Straßenprotesten und zivilem Ungehorsam auffiel
– einfach mal treffen. Was damals mit knapp 100 Menschen begann, ist
inzwischen zu einem Kongress mit fast 2.000 Menschen angewachsen.
## Schule des Tortenwurfs
Bei diesem Treffen, das Hippies, Hacker, Technos, Linksradikale,
Undogmatische, Anarchist*innen, Nudist*innen, kurz: „Freaks, Freunde und
Genossen“, wie es bei Tunix damals hieß, zusammenbringt, wird fünf Tage
nichts anderes gemacht, als den Spaß an der Aktion, die Freude am Leben und
die Lust am Widerstand zu feiern.
Es gibt wohl kaum eine Konferenz mit siebenköpfigen Podien, auf denen alle
Teilnehmenden früher einmal mit eigenen Händen Politikern eine Torte ins
Gesicht geworfen haben, Moderator inklusive. Und während der mittlerweile
über siebzigjährige Erfinder des politischen Tortenwurfs die besten Kniffe
in Theorie und Praxis verrät, diskutieren in der Sauna Menschen mit einem
echten Hedgefondsmanager, der endlich mal fundierte Kapitalismuskritik
hören will, während er versucht, die Teilnehmenden mit dem Verschenken von
200-Euro-Scheinen auf die dunkle Seite der Macht zu ziehen. Nachts bauen
Leute eine kunstvolle Straßenbarrikade aus Bierbänken, während in einem
humorvollen Vortrag in verrauchter Kneipenatmosphäre die skurrile
Blutigkeit von Nationalhymnen analysiert wird. Immer wieder laufen Nackte
durchs Bild, hört man Spanisch und Englisch oder irgendjemandes Musik.
Schon Tage vor dem Start des Programms reist ein guter Anteil der Menschen
an, um aufzubauen. Schließlich ist eine andere zentrale Idee dieser
Veranstaltung mit ihrem etwas größenwahnsinnigen Namen Mitmachen und
Selbermachen. Dahinter steht die Haltung, dass es nicht Veranstalter-Crew
und Gast gibt, sondern nur Teilnehmende, die alle für das Gelingen
verantwortlich sind; dass niemand Geld verdient. Weil Kommerz nicht nur
scheiße ist, sondern auch alles kaputt machen würde.
Vor ein paar Jahren beispielsweise fragte der Mann, der bisher immer für
die Wasserversorgung auf dem Kongress verantwortlich gewesen war, in jener
Aufbauphase in die Runde: „Wer hat noch nie eine Wasserinfrastruktur für
ein großes Festival aufgebaut?“ Eine Frau meldete sich und organisierte
gleich noch andere Interessierte. Der vorherige Mann fürs Wasser malte in
jenem Jahr dann nur noch bunte Schilder und gab allenfalls ein paar Tipps.
Im nächsten Jahr schon hatte die Frau selbst die Verantwortung für das
Wasser und zeigte anderen, wie so etwas geht. Es ist diese Mischung aus
Ausprobieren und Weitergeben, die eine ungeheure Kraft entwickelt.
Der Enthusiasmus befeuert – ähnlich wie bei Tunix. So geht das in allen
Bereichen des Weltkongresses. Am Ende ist das Wissen so breit, dass die
Leute mit neuen Eindrücken, Ideen, Konzepten und Freund*innen nach Hause
fahren. Und dann selbst in Aktion treten können, neue Projekte starten –
ganz ohne die Hedonistische Internationale.
Der Weltkongress ist nicht die einzige Veranstaltung, die nach diesem
Prinzip verläuft. Schon mehr als 30 Jahre macht der Chaos Computer Club
seine jährlichen Konferenzen zwischen Weihnachten und Silvester.
Mittlerweile kommen 15.000 Menschen, mietet der CCC die größten Messehallen
Deutschlands. Es sind nicht mehr nur Nerds und Hacker da, sondern eine
bunte Mischung von Menschen, deren gemeinsamer Nenner vielleicht am besten
mit Misstrauen gegenüber Autoritäten, technischer Neugier und dem Wunsch
nach einer freien und offenen Gesellschaft beschrieben ist. Inzwischen kann
man sogar offiziell Bildungsurlaub auf dem Kongress machen. Die Öffnung des
Kongresses – raus aus der eigenen Subkultur, raus aus der Männerfalle, rein
in noch mehr Vernetzung – ist eine der großen Leistungen derjenigen, die
das auf den Weg gebracht haben, allen Widerständen zum Trotz. Doch es geht
nicht nur um Protest: Auf dem viertägigen Kongress werden die Zukunft
verhandelt und die Folgen von Technik auf Politik und Gesellschaft
ausgelotet. Dabei ist die Konferenz Wissensvermittlung in der Digitalen
Gesellschaft und Selbstvergewisserung von Widerständigkeit – das alles
gepaart mit einem blinkenden Stinkefinger in Richtung Herz der Bestie. Denn
dieser Kongress zeigt, dass man ohne Werbung, Sponsoring und Ausverkauf
ebenso riesige wie relevante Gesellschaftskonferenzen mit medialer
Strahlkraft machen kann.
Auch beim CCC-Kongress ist einer der Pfeiler das Mitmachen. Mehr als jeder
zehnte Teilnehmende schiebt Arbeitsschichten und macht das ganze wunderbare
Ding so möglich. Auch hier geht es nicht um Gewinne und Kohle. Auf dieser
Konferenz können alle so sein, wie sie sind. Oder wie sie sein wollen.
Der Weltkongress der Hedonistischen Internationale, der CCC-Kongress – und
sicherlich noch ein paar andere – zeigen heute den Weg zum Strand von
Tunix. Ganz anders als damals vor 40 Jahren. Aber doch in der gleichen
Tradition: „Jeder kann seine eigenen Parolen und Gedanken formulieren,
malen, singen und wir können trotzdem – oder gerade deswegen – gemeinsam
kämpfen“, hieß es damals im Aufruf, und es gilt noch heute. Widerstand lebt
vom Verbünden, vom Vernetzen und von der Vielfältigkeit der Ansätze.
Der Weltkongress und der CCC machen Mut. Es braucht nur viel mehr davon.
Legt einfach los! Und dann heißt es einmal mehr: „Wir flaggen unsere
Traumschiffe mit den buntesten Fahnen und segeln in den Süden davon – zum
Strand von Tunix.“
27 Jan 2018
## AUTOREN
John F. Nebel
## TAGS
Tunix-Kongress
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Chaos Computer Club
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin
Schwerpunkt 1968
Tunix-Kongress
Tunix-Kongress
34C3
40 Jahre Deutscher Herbst
## ARTIKEL ZUM THEMA
Doku über den Chaos Computer Club: Hacker aus dem Weltraum
„All Creatures Are Welcome“: Die Hamburgerin Sandra Trostel hat eine
Dokumentation über zwei Großveranstaltungen des Chaos Computer Club gemacht
– und dabei Hackerprinzipien angewandt.
1. Mai in Berlin-Grunewald: „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“
Gegen Kreuzberger Protestfolklore: Die Hedonistische Linke mobilisiert zu
einer 1.-Mai-Demo in den wohlhabenden Berliner Stadtteil Grunewald.
Kolumne Gott und die Welt: Verdamp lang her
Die Epochen- und Generationenporträts der 68er füllen den Schreibtisch
unseres Autors. Was könnte man diesen Narrativen noch hinzufügen?
40 Jahre Tunix-Kongress in West-Berlin: 68? 78!
Tunix war eine Art Start-up-Kongress für die Alternativgesellschaft: Die
Linken lösten sich von den Illusionen der 68er. Es wurde konkret.
40 Jahre Tunix-Kongress in West-Berlin: Komm mit, sprach der Esel
Spontis, Freaks, Theoriestars – der Tunix-Kongress war das
Erweckungserlebnis der Alternativen in der Bundesrepublik.
Auftakt des CCC-Kongresses in Leipzig: Der einzig Wahre
Sie waren die „Frieks“, doch dann sind sie geblieben: Wie aus einem Haufen
Irrer der wichtigste Gesellschaftskongress der Gegenwart wurde.
Mit Pferd durch den Deutschen Herbst: Alles Glück dieser Erde
Es gab Mitte der 70er-Jahre viele Wege, Einfluss auf die Gesellschaft zu
nehmen. Ich zog mit einem Pferd durch die Republik und arbeitete bei
Bauern.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.