# taz.de -- Mit Pferd durch den Deutschen Herbst: Alles Glück dieser Erde | |
> Es gab Mitte der 70er-Jahre viele Wege, Einfluss auf die Gesellschaft zu | |
> nehmen. Ich zog mit einem Pferd durch die Republik und arbeitete bei | |
> Bauern. | |
Bild: Der Autor und sein Pferd | |
Als ich 1974 von der teilnehmenden Beobachtung der portugiesischen | |
Nelkenrevolution zurück nach Bremen kam, um weiter zu studieren, war meine | |
Wohngemeinschaft in der Zwischenzeit aufs Land gezogen. Ich folgte ihnen | |
und half, eine kleine Landwirtschaft aufzubauen. Damit waren wir gut | |
beschäftigt. | |
Aber irgendwann ging es von Staats wegen darum, den „Sympathisantensumpf | |
des Terrorismus“ auszutrocknen, 1976 sah die CDU diesen Sumpf auch an den | |
Hochschulen, weswegen die Berliner Studenten im Wintersemester streikten. | |
Bei uns auf dem Hof kam die Polizei ebenfalls mehrmals mit mehreren Autos | |
vorgefahren, um den Sympathisantensumpf auszutrocknen. Jedes Mal | |
durchsuchten sie alle Räume, Schränke und Kästchen und brachten uns dann | |
nach Hannover, wo wir in eine große Zelle gesperrt und am nächsten Morgen | |
verhört wurden. | |
Man verdächtigte uns, einen Untergetauchten von der Uni her zu kennen, was | |
nicht ganz falsch war. Anschließend fuhren sie uns wieder zurück auf | |
unseren Hof. Die Marihuanapflanzen, die dort zum Trocknen in der Scheune | |
hingen, interessierten sie nicht. Während unserer Vernehmungen hatte ein | |
Nachbar unsere Tiere versorgt. | |
## Flächendeckende Hysterisierung | |
Aber 1976 war die Sympathisantensumpfaustrocknung und Rasterfahndung der | |
Polizei im Verein mit den Kapitalmedien so weit, dass es eine | |
flächendeckende Hysterisierung der Bevölkerung auslöste. Wir beschäftigten | |
uns gleichwohl lieber weiter mit der Landwirtschaft. | |
Ich hatte meine Bücher und Raubdrucke an die Bremer Unibibliothek verkauft | |
und mir ein Fohlen dafür gekauft. 1976 war es groß genug, um meine | |
selbstgenähte Satteltasche zu tragen. Ich beschloss, ihm die Welt zu zeigen | |
und unterwegs bei Bauern zu arbeiten. | |
Erst mal kam ich aber nur bis zu einem Bauern im Nachbardorf. Ich sollte | |
ihm bei der Ernte helfen, lernte dort jedoch so viel bei ihm, vor allem | |
Handwerkliches, dass ich noch bis ins Jahr darauf blieb. Als es langsam | |
Herbst wurde, riss ich mich vom Hof los und zog mit dem Pferd weiter, | |
zunächst zu einem befreundeten Imker, mit kleinem Hof und zwei Pferden bei | |
Diepholz. | |
Der Weg führte durchs Moor. Zuvor kam ich jedoch an einer Kneipe vorbei. | |
Ein Mann stürzte heraus mit zwei Schnapsgläsern in der Hand: „Der Schleyer | |
ist entführt worden!“, sagte er. „Ich habe ihn nicht“, erwiderte ich wen… | |
schlagfertig. Er gab mir ein Glas und sagte „Prost!“ Ich trank auf sein | |
Wohl, er auf meins, dann verabschiedete ich mich, so als hätte ich es | |
eilig, an diesem 5. September zu einer Verabredung zu kommen. | |
## Im Dunkeln sehen | |
Tatsächlich gerieten wir in die Dunkelheit – und da machte ich die erste | |
beeindruckende Erfahrung mit dem Pferd: Ich sah so gut wie nichts mehr, | |
aber das Pferd ging seelenruhig auf dem Weg weiter, ich beruhigte mich und | |
überließ ihm die Führung. | |
Mein Freund, der Imker, und ich sprachen während meines kurzen Aufenthalts | |
bei ihm nur wenig über die Schleyer-Entführung, die mit den wie | |
gleichgeschaltet krakeelenden Medien fast eine Art Volksfahndung inklusive | |
Volksjustiz bewirkte. Auf eine Berlinerin, die meinen Freund besuchte, | |
wirkte diese Hetzkultur weitaus bedrohlicher als auf uns, die wir auf dem | |
Land lebten und mit harmloser Agrikultur beschäftigt waren. | |
Es fing an zu regnen. Mein Freund brachte mich und das Pferd ins Sauerland. | |
Dort übernachtete ich erst einmal in einer Reiterpension. Am nächsten | |
Morgen ging ich mit dem Pferd zu Fuß weiter. Manchmal arbeitete ich ein | |
paar Tage, manchmal einen Monat bei Bauern. | |
Aber, um es kurz zu machen: Meine Stute erwies sich als trojanisches Pferd. | |
Es sah so schön aus mit seinem kastanienfarbenen Winterfell, und jeder | |
Bauer freute sich, wenn er es bei sich unterbringen konnte, zudem kamen | |
ihnen meine sich langsam mehrenden Landwirtschaftskenntnisse nicht | |
ungelegen. Zur Sicherheit rief die Bäuerin aber noch beim BKA in Wiesbaden | |
an, um sich die Stimmen der Terroristen anzuhören. | |
## Polizeistiefelgeräusche auf der Pensionstreppe | |
Nahe der Mosel übernachtete ich zur Abwechslung wieder einmal in einer | |
Pension, die eine Weide hinterm Haus hatte. Abends in einer Disco lernte | |
ich zwei junge Weinbauern kennen, wir rauchten einen Joint zusammen. Zurück | |
in meinem Pensionszimmer wurde ich paranoid und hörte schon Polizeistiefel | |
die Treppe hoch kommen. Es war jedoch nur die Pensionswirtin, die mich | |
fragte, ob alles in Ordnung sei. | |
Am nächsten Tag vermittelte mir ausgerechnet ein junger Polizist in einer | |
Kneipe einen Job bei einem Milchbauern, der nebenbei noch | |
Feuerwehrhauptmann war. Eigentlich hätte er dem Bauern helfen sollen, aber | |
bei einer Razzia in einer Koblenzer Kneipe war er verletzt worden. | |
Der Bauer besaß schon einen Knecht, war aber noch mit EWG-geförderten | |
Ausbauarbeiten beschäftigt, sodass er noch einen Helfer brauchen konnte. | |
Nach vier Wochen bekam ich einen Brief von meinem ersten Bauern aus der | |
Wesermarsch. Auch er hatte Gelder von der EWG bewilligt bekommen – um | |
seinen Schweinestall zu erweitern, und fragte, ob ich ihm nicht helfen | |
könnte. Der Moselbauer riet mir, ihm zuzusagen. Mit Pkw und Anhänger wurde | |
ich abgeholt – und war dann im Herbst 1977 fast wieder am Ausgangspunkt | |
angelangt. | |
Hier bekam ich nach einigen Tagen einen Brief von Dorothea Muenk (sie wurde | |
später die erste taz-Korrespondentin in Paris). Sie schrieb: In Westberlin | |
werde in nächster Zeit ein großer linker Kongress stattfinden, auf dem es | |
um mögliche Aktivitäten gegen den RAF-Fahndungsirrsinn, „Deutscher Herbst“ | |
genannt, und die durchgehend dabei mitmachende Presse gehen würde. Ich | |
sollte doch dorthin kommen, wollte auch – allerdings nicht mit leeren | |
Händen. | |
## Auf zum Tunix! | |
Auf dem Kongress im Januar 1978 – „Tunix“ war das Motto – sollten folge… | |
Bereiche thematisiert werden: Antipsychiatrie, BIs gegen AKWs, alternative | |
Bildungsmodelle, Medienarbeit – eine linke Tageszeitung. Ich schrieb einen | |
„Zwischenruf“, den ich als Flugblatt im Audimax der Technischen Universität | |
verteilen wollte. Darin warnte ich davor, das Kongressmotto „Etwas Besseres | |
als den Tod finden wir überall“ als bloße Metapher zu verstehen. Der Bauer | |
gab mir Geld für den Druck – des vierseitigen A3-Papiers, das wir dann | |
abends mit seiner Frau zusammen 200 mal auf dem Teppich im Wohnzimmer auf | |
A4-Größe falteten. | |
Der Tunix-Kongress war dann so gut besucht, dass mein „Zwischenruf“ sofort | |
unterging. Immerhin verliebte ich mich dort. Mein „Zwischenruf“ hatte | |
ansonsten nur die Wirkung, dass die Frau des Bauern ihre Familie verließ | |
und sich mit einem Wohnwagen nach Süden entfernte. Vorher brachte der Bauer | |
wie verabredet das Pferd und mich zusammen mit einer Freundin aus der | |
Bremer Uni und einem Esel bis an den Brenner nach Italien. Von dort gingen | |
wir vier zu Fuß weiter zu einem Hof in der Toskana. | |
Hinter Bologna wurden wir wirklich einmal als deutsche Terroristen von | |
einem Carabiniere angehalten und verhaftet. Aber das war nur ein Scherz, | |
wie er uns lachend versicherte. | |
In der „Mediengruppe“ auf dem Tunix-Kongress hatte es gute Argumente gegen | |
die Gründung einer Tageszeitung in Westberlin gegeben, genannt seien: Die | |
linken Stadtzeitungen, wie der Frankfurter Pflasterstrand und das Münchner | |
Blatt, würden eingehen; ein zentrales Medium sei sowieso abzulehnen; und | |
überhaupt wäre Journalismus doch etwas Verabscheuungswürdiges: weder Fisch | |
(Alltagserfahrung) noch Fleisch (Wissenschaft) und ständig von der Hand in | |
den Mund lebend; schließlich der vorgeschlagene Standort Westberlin: er sei | |
zwar steuerbegünstigt, aber der Ort radikalen Denkens sei eher Frankfurt. | |
## Warum nicht wirklich weggehen? | |
Ich wiederholte dort mein Argument, dass das „Abhauen“ nicht bloß | |
metaphorisch gemeint sein dürfe: warum nicht wirklich weggehen? Die | |
Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Unterwegssein aufhebend … Aber die | |
Leute, die wild entschlossen waren, eine linke tageszeitung zu gründen, | |
ließen sich nicht abhalten und die, die gegen das „Projekt“ waren, mussten | |
ja nicht mitmachen. | |
Weil ich nach dem Tunix-Kongress wieder in der Landwirtschaft arbeitete, | |
hörte ich erst einmal nichts mehr von der Zeitungsgründung. Aber dann wurde | |
eine alte Freundin Kulturredakteurin der taz und irgendwann bat sie mich, | |
der ich inzwischen im Vogelsberg lebte, diesen und jenen zu interviewen und | |
dieses und jenes Buch zu rezensieren, das tat ich auch. Und so arbeitete | |
ich mich als taz-Ablehner bis zum Aushilfsredakteur in der Kulturredaktion | |
hoch, ging zu Wendezeiten aber wieder in die Landwirtschaft (diesmal in der | |
DDR als Rinderpfleger). | |
Anschließend konnte ich in der Zeitung nur noch als Aushilfshausmeister | |
wieder anfangen. Aber das hatte ich eigentlich bereits mit einem | |
Novalis-Zitat in meinem „Zwischenruf“ vorausgesehen: „Abwärts treibt der | |
Sinn!“ | |
21 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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