# taz.de -- Stendal-Stadtsee. Eine Ortserkundung (1): Am äußersten Rand | |
> Arbeitslose, Wendeverlierer, Alleinerziehende: Armut ballt sich in | |
> manchen Vierteln. Wie es klingt, wenn man mit den Bewohnern statt über | |
> sie redet. | |
Bild: Rund 10.000 Menschen leben noch in Stendal-Stadtsee, das einst ein Vorzei… | |
STENDAL taz | Die letzte Grenze liegt hinter dem Shoppingcenter. Über den | |
halbrunden Vorplatz, den sie „die Platte“ nennen, geht es herab in eine | |
Siedlung aus lose verstreuten Plattenbauten; dazwischen Wiesen, | |
menschenleere Gehwege, milchige Apathie, da und dort raucht einer auf dem | |
Balkon, Winter in Stendal, irgendwo zwischen Magdeburg und Wittenberge, | |
knapp 130 Kilometer entfernt von Berlin. | |
Brina: So Getto ist das hier gar nicht. Es ist halt Plattenbau, mein Gott. | |
Probleme gibt’s doch in anderen Städten auch. | |
Frances: Ich bin weggezogen und wieder her. Das Viertel zieht einen immer | |
wieder zurück. | |
Max: Ich fühl’ mich wohl am Stadtsee. Mich stört nur, dass die Leute | |
Brücken beschmieren mit Graffitis, die gar nicht hierher passen: „Fick die | |
Kripo“ zum Beispiel. Von sowas kommt, dass die Leute Stendal als Asi-Kaff | |
bezeichnen. | |
## Im Zukunftsatlas hinten | |
Stadtsee III, am äußersten Rand von Stendal. Problemviertel, sozialer | |
Brennpunkt, das sind Begriffe, benutzt von Menschen, die nicht hier leben, | |
sie können Missstände benennen, aber sie erzählen nicht die Geschichten | |
dahinter. Im Zukunftsatlas des Prognos-Instituts belegt Stendal den letzten | |
Platz. Wirtschaftskraft, Arbeit, soziale Lage – glaubt man der Studie, sind | |
die Aussichten nirgends schwärzer. | |
Der Wind fährt über stille, saubere Straßen, ein Himmel grau wie Leberwurst | |
hängt über den Blocks. Die Fassaden sind bunt, orange, grün oder türkis. | |
Herr Jany: Das ist eine Ecke, wo man merkt: Die Geburtenrate ist ziemlich | |
hoch. Hund, Kind, Handy – das sind die drei Sachen, mit denen man die | |
jungen Frauen immer sieht. Aber warum auch nicht? Ich find’s schön, wenn | |
Kinder da sind. | |
Max: Über das Abitur habe ich nicht nachgedacht. Ich bin mit meiner Mutter | |
alleine. Die meint, es reicht, wenn ich den erweiterten Realschulabschluss | |
mache. Ich will später als Bibliothekar oder Lagerlogistiker arbeiten. | |
Brina deutet nach rechts und nach links auf Wohnblocks, die noch grau und | |
unsaniert sind. Hier ist sie aufgewachsen. | |
Brina: Ich nenn’ es die Kack-Allee. Weil meine Hunde sich hier auskacken. | |
Brina und Frances sind 28 Jahre alt. Sie haben früh Kinder gekriegt; Brinas | |
sind jetzt fünf und sechs, Frances’ sechs und acht. Die zwei kennen sich | |
aus, jedes Gesicht ist ihnen vertraut. Sie sprechen über ihr Viertel mit | |
Stolz, Fremdenführerinnen durch ihre Welt, Frances mit Undercut und | |
Nasenring und Brina, die ihre dunklen Haare zum Dutt gebunden hat, sie | |
rauchen, an der Leine ein Rottweiler, Frances ist wieder schwanger. | |
Brina: Hier sind so viele Leute gestorben. Einer hat einen vom Balkon | |
gestoßen. Ich bin hingelaufen und hab ihn umgedreht. Es sah aus, als würde | |
er schlafen. Aber wo seine Nase war, da war nur noch ein Loch. | |
Max: Ich lese gern, japanische Fantasy, da bin ich ein großer Fan von. | |
Deshalb Bibliothekar. Auf Lagerlogistiker bin ich gekommen, als wir von der | |
Schule eine Berufsmesse besucht haben. Bibliothekar gab es nicht, dann hab | |
ich mich umgeguckt und Lagerlogistiker gefunden. | |
## Unsichtbare Grenze | |
Vom Stadtzentrum geht es raus in Richtung Osten, Stadtsee I, Stadtsee II, | |
Stadtsee III, am Ende steht der soziale Abstieg. Vier von fünf Familien | |
leben in prekären Verhältnissen; kaum einer, der nicht Hartz IV kriegt. Wer | |
in Stadtsee III lebt, für den spielt es keine Rolle, ob die Wirtschaft | |
wächst oder nicht. | |
Man kann die Grenze nicht sehen, aber jeder hier weiß, dass sie da ist: | |
Dort, wo das Shoppingcenter steht, schließt Stadtsee III an Stadtsee II. | |
Auf dem Vorplatz haben sich zwei alte Frauen niedergelassen. | |
Rentnerin: Wir sind hergezogen, weil mein Mann hier Arbeit gekriegt hat, | |
auf dem Bau, als Kraftfahrer. Das macht er heute noch, obwohl er Rentner | |
ist, aber davon kannste ja nicht leben. | |
Stadtsee, das war einmal ein Vorzeigeviertel. Zu DDR-Zeiten zählte Stendal | |
zu den wichtigsten Industriezentren, in den 80ern wurde hier mit dem Bau | |
eines Atomkraftwerks begonnen. Großwohngebiete wurden am Stadtrand aus dem | |
Boden gestampft, Platte um Platte. Zur Zeit der Wende lebten mehr als | |
50.000 Menschen in Stendal. Heute sind es noch 40.000. | |
Rentnerin:Wir wohnen hier gut. Nur Angst musst du haben, wegen der ganzen | |
Ausländer. Ein furchtbares Volk ist das, die kommen und kriegen alles | |
umsonst. Mein Mann hat 50 Jahre lang gearbeitet – und was kriegt der für | |
eine Rente? | |
Je stärker die Ungleichheit wächst, umso weniger Berührungspunkte gibt es | |
zwischen den Schichten. Gemeinsinn existiert vielleicht innerhalb mancher | |
Milieus, aber nicht mehr dazwischen: Für Mitgefühl oder Großzügigkeit | |
reicht die Kraft nicht. Die alte Frau schaut auf die Blocks von Stadtsee | |
III. | |
Rentnerin:Das ist ein richtiges Asi-Viertel. Die da wohnen, sind zu faul | |
zum Arbeiten. Früher zu Ostzeiten war es besser. Da gab es Arbeit. Und wer | |
nicht wollte, den haben se weggeholt. | |
Frances:Einige meiner Freunde hatten mal Arbeit, die haben jetzt | |
Bandscheibenvorfälle. Der eine war Totengräber, der kann nichts mehr | |
machen. | |
Brina:Ich mach’ keine Ausbildung mehr. Ich hab so oft angefangen, ich hab’ | |
da den Willen nicht zu. Du kriegst sowieso keinen Job. Meine Schwester hat | |
eine Ausbildung als Modedesignerin, mein Bruder hat Maurer gemacht. Die | |
kriegen auch nichts. Aus dem Grund sag ich: Ne. Es gibt ja auch Nebenjobs. | |
Wer kann, ist längst weggegangen; viele der Wohntürme wurden abgerissen. | |
Rund 10.000 Leute leben noch hier, knapp 16 Prozent davon Ausländer, 7.300 | |
Wohnungen auf 150 Hektar, Platte an Platte, Fenster an Fenster. Gerd Jany, | |
79 Jahre, lebt in der Heinrich-Zille-Straße, erster Stock links, an den | |
Wänden Aquarelle, er hat Hühnersuppe gekocht. | |
Herr Jany:Ich habe mir die Gegend angeguckt und fand dieses Objekt, für | |
Senioren, hieß es, altersgerechtes Wohnen. Naja. Wir haben einen Fahrstuhl, | |
und die Stange im Korridor. | |
Gerd Jany lebt seit 15 Jahren in dieser Wohnung. Vor der Pensionierung hat | |
er als Theatermaler gearbeitet. Seine Frau und er sind getrennt, die Kinder | |
leben in Berlin. Früher hat er gern Radtouren in der Altmark gemacht. Ein | |
Jahr ist es her, da hatte er einen Unfall, Beckenbruch, nun ist er oft zu | |
Hause. | |
Durch seine Fenster hat er die Kinder im Viertel groß werden sehen; er | |
sieht, wie die einen gehen und andere kommen. Viele Flüchtlinge sind | |
hergezogen; Wohnraum ist billig, es gibt noch einigen Leerstand. | |
Frances und Brina laufen auf eine Anhöhe zu, oben ein Flachbau, davor haben | |
sich einige Dutzend Männer versammelt, Iraker, Syrer, Afghanen. | |
Brina:Da hat’ne Moschee aufgemacht. Ein paar Leute haben Schweinefleisch | |
davor geschmissen, um das zu verhindern, aber es hat nichts gebracht. | |
Einer der Zuwanderer steht auf dem Gehweg. | |
Brina:Ey, Platz machen! | |
Sie stapft vorüber, der Rücken des Rottweiler spannt sich. | |
Brina: Ich fühl’ mich hier unwohl. Weil hier ist nichts Deutsches mehr. | |
## Sie halten zusammen | |
Es ist dieser Tage viel von den abgehängten Milieus die Rede, doch die Wut | |
der Leute hier bleibt ohne politische Folge: Bei den Landtagswahlen haben | |
in Stadtsee III um 35 Prozent AfD gewählt, aber fast zwei von drei Leuten | |
haben gar nicht gewählt. Die Parteien erreichen das Viertel nicht, und das | |
Viertel erreicht die Parteien nicht. Für die Demokratie sind das schlechte | |
Nachrichten. Aber es gibt viele, denen ihr Leben hier gefällt, weil es ihr | |
Zuhause ist. | |
Max: Ich warte auf ein bestimmtes Ereignis im Leben: den Stimmbruch. | |
Christoph:Er will endlich ein Mann sein. | |
Max geht mittwochs boxen; auch sein Freund Christoph kommt jede Woche. Im | |
MAD-Jugendclub gibt es einen Trainingsraum mit Sandsack und Spiegel. Max | |
ist 16, schmal und hoch. Später setzen sie sich auf eine Couch im | |
Aufenthaltsraum. | |
Max:Früher war ich der Typ, den man ’rumschubsen konnte. An der Schule | |
wurde ich gemobbt. Einmal hat jemand ein Bild gezeichnet, wie er eine Waffe | |
auf mich richtet. Da haben die Lehrer gesagt, ich soll besser die Schule | |
wechseln. | |
Max lebt mit seiner Mutter zusammen, sein Vater ist weg und meldet sich | |
nicht mehr, die Mutter arbeitet als Reinigungskraft. | |
Max:Ich muss zu Hause viel mit anpacken. Wenn es meiner Mutter schlecht | |
geht, hole ich ihr Eimer und feuchte Lappen. Wenn ich deshalb mal nicht in | |
den MAD-Club kann, müssen meine Freunde das verstehen: Die Familie geht mir | |
über alles. | |
Brina:Die meisten in Stadtsee halten zusammen. Das ist so. | |
Brina und Frances tasten sich vorsichtig über eine Wiese voran; das Eis ist | |
zu schmutzigen Buckeln gefroren. Vor ihnen liegt der Spielplatz, auf dem | |
sie im Sommer oft mit den Kindern sind. Frances wankt, ihr Bauch zieht sie | |
nach vorn; in zwei Wochen soll das Baby kommen. | |
Frances:Ich hatte mich beworben für eine Ausbildung als | |
Altenpflegehelferin, aber dann wurde ich schwanger. Die Ausbildung muss ich | |
dieses Jahr machen. Ich will raus aus Hartz IV. Ich will ein Vorbild sein, | |
damit meine Kinder mal was werden. | |
Herr Jany:Ich sage immer: Das ist eine schöne Kleinstadt, aber das Viertel | |
hier ist ein bisschen außen vor. Es gibt viele Alte, die mit Rollator | |
fahren, aber auf den Bürgersteinen mit den Asphaltplatten kommen sie kaum | |
voran. Das ist furchtbar. | |
Max:Ich hätte gern einen YouTube-Kanal: Da würde ich Spiele vorstellen und | |
die schönen Seiten von Stendal zeigen. Damit jeder sehen kann, wie es hier | |
aussieht. | |
13 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Gabriela Keller | |
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