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# taz.de -- Macht Armut krank?: Armut ist heilbar
> Ärzte, Politik und Funktionäre debattierten in Gröpelingen über den
> Anteil des Versorgungssystems daran, dass Menschen der Unterschicht
> früher sterben.
Bild: Wer Hartz IV empfängt oder gar nichts hat, lebt meist nicht gesund
Bremen taz | Eine scharfe Attacke an die Landespolitik formulierte gestern
Jörg Hermann, der Vorsitzende der Bremer Kassenärztlichen Vereinigung (KV).
Zugleich nutzte der Medizinfunktionär seinen Spontanauftritt bei einer
gesundheitspolitischen Diskussion in Gröpelingen zur Absage an eine auf
Stadt- und Ortsteile bezogene Praxis-Bedarfsplanung. „Eine kleinräumliche
Bedarfsplanung ist nicht die Lösung“, sagte er.
Erfolgversprechender sei es, in weniger beliebten Ortsteilen Anreize zur
Praxisübernahme zu schaffen. Und das sei eine politische Aufgabe. „Das ist
hier aber null komma null passiert“, so Hermann in Bezug auf einen im
vergangenen Sommer aufgetretenen Versorgungsengpass. Im Blumenthaler
Ortsteil Lüssum hatten etliche Hausärzte ihre Praxis aus Altersgründen
aufgegeben. NachfolgerInnen gab's keine – bis zu dem Moment, als die KV
eine Umsatzgarantie abgab, zu finanzieren durch die Ärzteschaft.
„Armut macht krank und Krankheit macht arm“, mit dieser Formel hatte
Kirsten Kappert-Gonther das kleine Symposium eröffnet: Ganz aufgeben will
sie die Forderung nach kleinräumlicher Planung nicht, „wenigstens Haus- und
Kinderärzte müssen fußläufig vorhanden sein“, gibt die
gesundheitspolitische Sprecherin der Grünenfraktion zu bedenken.
Auf ihre Einladung berieten in der Stadtteilbibliothek Fachleute über die
Möglichkeit „gerechter Gesundheitsversorgung im Quartier“: Eine wichtige
Präzisierung am richtigen Ort. Denn Bremens Bedarf an niedergelassenen
Ärzten ist, global betrachtet, eher übererfüllt. Selbst auf Bezirksebene
tun sich keine Versorgungslücken auf. Allerdings eröffnen MedizinerInnen
ihre Praxis meist in besser betuchten Stadtteilen.
Wo die Unterklasse lebt, wohnen zwar mehr Menschen, und die sind auch
anteilig häufiger krank. Aber sie sind fast nie privat versichert. Und dann
verlegt halt die Augenärztin lieber ihren Sitz von Oslebshausen nach links
der Weser. Nachvollziehbar. Aber doof für die PatientInnen. Zumal für jene,
denen es ein größerer Angang ist, in die Sprechstunde zu kommen. Also die
mit den schlechteren sozioökonomischen Voraussetzungen. Die
Unterschicht-PatientInnen.
Und während politisch kaum Gegenmaßnahmen gegen diesen Trend zu erkennen
sind, wird er privatwirtschaftlich noch gestützt: „Ich musste richtig
massiv werden, um einen Kredit für meine Praxiseröffnung in Gröpelingen zu
bekommen“, berichtete die Ärztin Heike Diederichs-Egidi. Die Bank fand die
Standortwahl völlig daneben.
Weltweit gilt: Während Geld- und Wirtschaftsadel Unsterblichkeit als
realistisches Projekt angehen, bekommen die unteren Einkommensgruppen vom
medizinischen Fortschritt immer weniger mit. Die Kluft wird größer: Bis zu
zehn Jahre beträgt die Differenz der durchschnittlichen Lebenserwartung bei
Geburt in Deutschland, je nachdem ob das Kind in eine städtische Upper
Class- oder eine Hartz IV-Familie in strukturschwacher Region geboren wird.
In Bremen lässt sich das stadtteilgenau verifizieren. So stirbt ein Mann
aus Schwachhausen laut dem jüngsten Lebenslagen-Bericht des Senats
durchschnittlich im Alter von 81 Jahren. Noch 2003 lag dieser Wert bei 77
Jahren. Ein Gröpelinger hingegen wird gegenwärtig nur 72,9 Jahre alt. Seine
Lebenserwartung ist im selben Zeitraum sogar um 0,2 Jahre gesunken, gegen
den Trend.
Gerecht, ungerecht, eine Differenz ist in einem kapitalistischen System, in
dem Gesundheitsdienstleistungen warenförmig sind, nicht zu vermeiden. Dass
die Spreizung wächst, ist der Skandal. Es deutet auf eine zunehmende
Privatisierung, Fehlanreize – und Lücken in der Versorgung hin. Auf die
Ungleichverteilung ambulanter wie stationärer Einrichtungen in Bremen hatte
deshalb bereits im vergangenen Sommer die Linksfraktion mit Veranstaltungen
zum Thema aufmerksam gemacht: „Sozialindikatoren müssen zukünftig Teil
einer kleinräumigen Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung sein“,
hatte damals der Gesundheitspolitiker Peter Erlansson gefordert. Also
genau, was Hermann ablehnt.
Stärker ins Gesundheitssystem selbst einzugreifen fordert dagegen
Hauptredner Bernd Kalvelage: Der Internist und Diabetologe hatte seine
Praxis in Hamburg-Wilhelmsburg, „und das sind die gleichen Lebenslagen wie
hier“, erklärt er. Statt darüber zu reden, wie Praxen anzusiedeln wären
plädiert er vor allem dafür, dass Medizin ihre eigene Verantwortung an der
Ungleichverteilung von Morbidität wahrnimmt.
„Es gibt eine Blindheit für dieses Problem“, so Kalvelage. Schlimmer als
ihre niedrigere Lebenserwartung sei, „dass so viele Menschen der
Unterschicht sterben, bevor sie 65 sind“, so Kalvelage. „Die sterben also
vor der Rente.“ Und zornig mache ihn eine Medizinsoziologie, die, sehr zum
Gefallen der Ärzteschaft, den Anteil des Gesundheitssystems am vorzeitigen
Tod von Menschen der Unterschicht bagatellisiert. „Wir brauchen eine
Klassenmedizin“, fordert er, nicht eine, die entlang der
Klassenwidersprüche herumdoktort und sie bekräftigt. Sondern „eine sozial
sensible Heilkunst“.
18 Jan 2017
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Gesundheitspolitik
Krankenkassen
Kassenärztliche Vereinigung
Bremen
Feminismus
Mieten
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Armut
Hartz IV
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