# taz.de -- Stendal-Stadtsee. Eine Ortserkundung (2): Alles auf Stillstand | |
> Brina hatte als Kind schon keine Träume. Nicki wollte Popstar werden. | |
> Daraus wurde nichts. Wie es ist, wenn die Jungen das Leben der Eltern | |
> fortsetzen. | |
Bild: Für das geschenkte Boot sucht Arche-Gründer Mario Tiesis noch einen Lie… | |
Stendal taz | Hinter dem Parkplatz vom Lidl, hinter dem Schnellimbiss | |
„Bistro Casablanca“, hinter dem Spielplatz, auf dem sich die Trinker | |
treffen, schlüpft ein Mädchen, sechs, sieben Jahre, in einen Flur und zieht | |
die Tür hinter sich zu. Draußen glänzt Eis auf dem Asphalt, drinnen stockt | |
Heizungsluft über den Holztischen, es riecht nach Essen. Antonia ist heute | |
die Erste, gleich werden Darleen, Felix, Virginia und all die anderen | |
kommen. | |
Mario Tiesis: Man muss das erst mal begreifen: dass es in dieser Republik | |
Kinder gibt, die Hunger haben. | |
Anke Peters*: Wenn ich mir etwas wünschen dürfte? Einfach mal mit meinen | |
Kindern ein schönes Erlebnis zu haben – einen Urlaub, es müssen ja nicht | |
gleich zwei, drei Wochen sein. | |
Antonia: Ich komme fast jeden Tag in die Arche. Man kann essen und spielen, | |
was man möchte. Ich spiele meist alleine. | |
Wo die Arche ist, war früher ein Schreibwarengeschäft, niedrige Räume in | |
einer Ladenzeile am Rand von Stendal, nördliches Sachsen-Anhalt. Ringsum | |
liegen Plattenbauten, so als habe ein Riese Bauklötze auf Wiesen verstreut. | |
Mario Tiesis, ein schwerer Mann mit Schnauzbart, hat die Arche vor acht | |
Jahren gegründet. | |
Mario Tiesis: Ich mach das hier ehrenamtlich. Noch. Das muss sich ändern. | |
Es macht keinen Spaß, von Hartz IV zu leben. | |
Frau Wernecke: Viele unserer Schüler müssten nicht auf die Förderschule | |
gehen. Aber die haben keine Strukturen erfahren. Zu Hause fragt bei denen | |
keiner: Wie war’s in der Schule? | |
Ein Besuch in der Pestalozzischule macht anschaulich, was manche Ökonomen | |
schon länger sagen: dass es in kaum einem industrialisierten Land | |
ungleicher zugeht als in Deutschland. Die Schule ist Förderzentrum für | |
Lernbehinderte, die 140 Schüler leben meist in prekären Verhältnissen: | |
Arbeitslosigkeit, alleinerziehende Mütter, bildungsferne Haushalte. Es ist | |
nicht nur, dass Kinder aus armen Familien schlechte Bildungschancen haben. | |
Es ist auch, dass viele Menschen in Vierteln wie Stadtsee keine Möglichkeit | |
haben, dem System Hartz IV je zu entkommen. | |
Anke Peters: Wir waren zu Hause fünf Kinder, unsere Eltern haben sich | |
scheiden lassen. Von meiner Mutter hab ich das übernommen, dass ich im | |
Haushalt eine Grundordnung drin habe. Obwohl sie jeden Tag acht Stunden auf | |
der Arbeit war, als Reinigungskraft, Ordnung war bei uns drinne. | |
Frau Wernecke: Die Kinder kriegen vorgelebt, dass sie keine Chance haben. | |
Eltern, die jahrzehntelang zu Hause sind, können den Schülern nicht | |
vorleben, dass man sich anstrengen muss. Manche Kinder sagen schon: Ich | |
werde Hartzer. | |
## Grundgesetz ohne Wirkung | |
Sachsen-Anhalt ist das Flächenland mit der höchsten Quote armutsgefährdeter | |
Kinder, 30 Prozent sind betroffen. In wohlhabenden Bezirken wie Oberbayern | |
sind es knapp 10. Der Anspruch, überall in Deutschland gleichwertige | |
Lebensverhältnisse vorzufinden, ist im Grundgesetz festgeschrieben. Aber in | |
Vierteln wie Stadtsee scheint das nicht zu gelten. | |
Mario Tiesis: Hat der Corey* wieder keine Winterschuhe an? | |
Praktikantin: Nein. | |
Antonia: Ich gehe in die erste Klasse. Die Schule macht Spaß. Nicht gut | |
finde ich, dass manche mich ärgern. „Fick dich“, sagen die und schubsen | |
mich. | |
Anke Peters: Mit dem Hartz IV ist auszukommen. Muss man ja. Man kennt es | |
nicht anders. Ich vermeide, mit den Kindern in die Stadt zu gehen, weil | |
wenn die Spielzeug sehen, leiden die. | |
Anke Peters, eine schmale Frau, 41 Jahre, sitzt in ihrem Wohnzimmer; | |
ringsum rote Kissen auf weißen Polstern; Kunstrosen, Kerzen. Sie lebt mit | |
ihren vier Söhnen, der älteste ist 19, der jüngste 6 Jahre alt. | |
Fahrzeugschlosserin hat sie gelernt, danach geputzt, Büroarbeit gemacht und | |
in einer Holzwerkstatt gearbeitet, alles befristet, dazwischen wechseln bei | |
ihr Phasen der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen, Weiterbildungen. | |
Anke Peters: Ich bin so ein Mensch, ich mach das alles. Ich hab einen | |
Stapel Zertifikate. Aber dass ich mal vier, fünf Jahre in einer Firma | |
gearbeitet hätte -– das ist noch nicht passiert. | |
Zu DDR-Zeiten sollte das Viertel Raum schaffen für all die Arbeitskräfte. | |
Ein Atomkraftwerk entstand – das größte Bauprojekt der DDR. Am Reißbrett | |
entwarfen die Planer Stadtsee I, II, III. Die Straßen kasteln die | |
Wohnblocks ein, dazwischen die ermüdende Symmetrie der Parkplätze, und dann | |
ist das Viertel plötzlich zu Ende. Die Pestalozzischule erhebt sich, ein | |
Betonklotz, drei Stockwerke, dahinter kommt nur noch Gestrüpp und | |
Brachland. Ute Wernecke, Konrektorin, sitzt in ihrem hellen Büro, rötlich | |
getönte Haare, Brille, rosa Pullover. | |
Frau Wernecke: Wir haben Kinder, deren Eltern bleiben morgens im Bett. Die | |
stehen alleine auf, kommen ohne Frühstück und nehmen an der | |
Mittagsversorgung nicht teil. Wir reden mit den Eltern, aber es ist | |
schwierig, weil die oft auch schon auf der Förderschule waren. | |
Mario Tiesis sieht jeden Tag die gleichen Gesichter. Etwa 20 Kinder kommen | |
regelmäßig in die Arche. Er selbst ist Ofensetzer, dann kam ein | |
Bandscheibenvorfall. Seine letzte Stelle verlor er vor acht Jahren. Zwar | |
hat er eine wichtige Arbeit, aber niemanden, der ihn bezahlt. Wenn es die | |
Arche nicht gäbe, würden die Kinder mittags nichts zu essen kriegen. | |
Mario Tiesis: Die werden zu Hause nicht wahrgenommen. Die Eltern liegen auf | |
der Couch mit dem Tablet. Eine Mutter habe ich mal angerufen, um wegen | |
ihrer Tochter etwas zu besprechen. Die Mutter sagte: Ich kann jetzt nicht, | |
ich bin grad Level 7. | |
Darleen: Ich heiße Darleen – D-a-r-l-e-e-n. Alle schreiben das falsch, | |
sogar meine Mutter. Ich bin elf Jahre alt, habe vier Geschwister, einen | |
Hund und ein Meerschweinchen. Ich würde gerne zu Oma aufs Dorf ziehen; da | |
hätte jeder von uns ein eigenes Zimmer. | |
Wenige Straßen entfernt, im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, sitzt | |
eine kleine Gruppe junger Frauen um einen Tisch. Das Jobcenter hat ihnen | |
diese Maßnahme aufgegeben, damit sie lernen, wie man seinem Tag eine | |
Struktur gibt. | |
Brina: Man lernt, wie man mit dem Arsch aus’m Bett kommt. | |
Nicki*: Als ich ein Kind war, wollte ich Popstar werden. | |
Brina: Ich hatte als Kind keine Träume. | |
Frances, Brinas Freundin, hat die Maßnahme schon abgeschlossen und ist zu | |
Besuch da. Sie erwartet ihr drittes Kind. Wenn es in die Kita geht, will | |
sie eine Ausbildung machen, das hat sie sich fest vorgenommen. | |
Frances: Ich teile mir mein Geld gut ein. Ich reg mich über die Leute auf, | |
die jammern, weil sie mit dem Hartz IV nicht auskommen. Weil eigentlich | |
müsste das Geld reichen, auch Rauchen geht, man muss nur stopfen. | |
Brina: Ich würde gut klarkommen, aber mein Freund ist erst 25, der will | |
noch viele Dinge haben, Spiele für die Playstation. Alleine wär ich besser | |
dran. | |
Wer eine Weile in Stadtsee ist, spürt, dass sich viele arrangiert haben. | |
Die Älteren haben oft ihre Stelle nach der Wende verloren, die Jüngeren | |
kennen nichts anders. Krise ist das Normale, niemand wird laut. Vor dem | |
Shopping-Center schiebt ein Briefbote sein Fahrrad. | |
Briefbote: Ich trag nachts die Volksstimme und tagsüber Briefe aus. Jetzt | |
kam die Mindestlohnerhöhung um satte 34 Cent. Dann krieg ich ein Schreiben: | |
Meine Arbeitszeit wird reduziert. Aber ich muss nach wie vor 260 Zeitungen | |
pro Nacht austragen. | |
Für die Schüler der Pestalozzischule geht es meist mit einem | |
Berufsorientierungsjahr weiter, dann kommen Weiterbildungen, und wenn es | |
gut läuft, stehen ihnen am Ende Hilfsberufe offen, Kinderpflegehelfer, | |
Altenpflegehelfer. Ute Wernecke ist eine engagierte Lehrerin. Ihr Beruf | |
macht ihr Spaß, trotz allem. | |
Frau Wernecke: Ich denke, man muss akzeptieren, wie es ist. Dass es so ist. | |
Ich weiß, dass ich nicht jeden erreiche. Wir haben Schüler, bei denen ist | |
jede Mühe zu viel, von denen müssen wir uns distanzieren. | |
## Arche ohne Zuschuss | |
In Stendal ist die Arbeitslosigkeit, aktuell 10,6 Prozent, seit der Wende | |
gesunken, davon merken die Leute in Stadtsee wenig. Ihre Blocks stehen wie | |
Monolithen, in denen sich nichts bewegt. Aber es gibt soziales Engagement, | |
Mütter, die Flaschen auf dem Spielplatz aufsammeln, Ehrenamtliche, | |
Freiwillige. Mario Tiesis finanziert die Arche aus Spenden, die Mittel sind | |
knapp. Öffentliche Zuschüsse gibt es nicht. | |
Mario Tiesis: Wir haben hier Kinder, die klauen, spucken, beißen, | |
Neunjährige, die meine Frau anschreien: Du Nutte. Denen müssen wir | |
Hausverbot geben, die brauchen Therapien, das können wir nicht leisten. | |
Briefbote: Im Fernsehen werden immer nur die schlechten Seiten von Stadtsee | |
gezeigt. Aber was sollen wir machen? Wir sind die Verlierer der Einheit. | |
Der Briefbote schiebt sein Rad weiter, die Trinker auf dem Spielplatz | |
ziehen ihre Anoraks fester. Zwischen den Wohntürmen ist viel Luft; viele | |
wurden abgerissen, andere saniert. In Stadtsee I gibt es nun Luxusblocks | |
mit Concièrge, da wohnen Professoren. Nach Stadtsee III ziehen keine | |
Mittelschichtfamilien. Selbst Asylsuchende sind oft schnell wieder weg. | |
Frances: Jeder kann etwas aus sich machen. Mein Neffe zum Beispiel: Wir | |
dachten alle, der landet mal im Knast, der hat nur Scheiße gebaut, Bomben | |
gebastelt, Autos gesprengt, dann war er auf dem rechtsradikalen Trip. Aber | |
seit er 14 ist, macht der nichts mehr. Der hat die Kurve gekriegt. | |
Frau Wernecke: Sobald die Eltern sagen: „Ich stehe hinter meinem Kind, ich | |
will, dass es auf die Sekundarschule wechselt“, würden wir das | |
unterstützen. Aber das passiert recht selten. | |
*Namen geändert | |
19 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Gabriela Keller | |
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