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# taz.de -- Arm im Alter: Die Sonne scheint für alle kostenlos
> Wann fängt Armut an? Reichen 850 Euro für ein anständiges Leben? Über die
> Bedeutung des Gefühls, eine Wahl zu haben.
Bild: Die Natur kostet nichts
DasZahnkonto ist Gisa Muthgangs Erfindung. Vor längerer Zeit schon hat sie
Geld für ihre Zahnbehandlungen angelegt. Jeden Monat zahlt sie 100 Euro
ein. Manche Menschen sparen auf ein Auto, Muthgang spart auf neue
Backenzähne. Zähne hauen ins Budget, wenn man nur 850 Euro im Monat hat.
„Man muss umdenken“, sagt die ehemalige Erzieherin, die mit 60 Jahren
vorzeitig in Rente ging, „es ist ein neuer Lebensabschnitt“.
Muthgang empfängt zum Tee in ihrer kleinen Wohnung, zweieinhalb Zimmer mit
Grünblick im Berliner Bezirk Charlottenburg. Nichts Überflüssiges steht
herum, nur zwei Gitarren verraten, dass man sich in einem Haushalt mit
Musikern befindet. Muthgang hat eine Zeit der kontrollierten Schrumpfung
hinter sich.
Sie stammt aus der Mittelschicht, verbrachte ihre Kindheit im
Einfamilienhaus am Grunewald, in einer Gegend, in der viele Berliner leben,
die mehr Geld haben als der Durchschnitt. Der Vater war Abteilungsleiter in
einem großen Medienkonzern. Er verließ die Familie mit drei Kindern früh,
heiratete ein zweites Mal und ist jetzt im hohen Alter ein teurer
Pflegefall. „Mit einem Erbe kann ich nicht rechnen“, sagt Muthgang.
Sie arbeitete als Erzieherin im Hort einer Ganztagsschule, Vollzeit, eine
engagierte Pädagogin aus der linksalternativen Szene. Nach gesundheitlichen
Krisen verminderte sie nach und nach ihre Arbeitszeit. Mit 60 ist sie raus,
Burn-out. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner zusammen, einem Musiker, der
auch wenig hat. Die beiden führen getrennte Kassen. Ihren richtigen Namen
will sie nicht in der Zeitung lesen.
In zehn bis zwanzig Jahren könnte es viele Ältere geben, die so wie Gisa
Muthgang mit wenig Geld auskommen müssen. Die Gefahr, arm zu werden, ist
bei den über 65-jährigen Frauen und Männern laut Mikrozensus in den
vergangenen Jahren gestiegen. Der Entwurf des 5. Armuts- und
Reichtumsberichts der Bundesregierung nennt Risikofaktoren für Altersarmut:
lange Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit ohne Vorsorge, eine lange
Familienphase, Teilzeitarbeit, Scheidung, Krankheit.
## Auf neun Quadratmetern darf geraucht werden
Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) will deshalb eine Art Mindestrente in
einer Höhe zwischen 850 oder 900 Euro einführen für jene, die lange
gearbeitet haben. Das wäre etwa so viel Geld, wie Gisa Muthgang im Monat
hat. Wie lebt es sich mit einem Einkommen in dieser Höhe? Wann stellt sich
das Gefühl von Armut ein?
„Man bewegt sich eher in Bereichen, wo alles wenig oder nichts kostet“,
sagt Muthgang, „aber arm will ich mich nicht fühlen.“
Welche Werte sind wichtig, wenn das Einkommen sinkt? Gisa Muthgangs Antwort
lautet: Wahlfreiheit und Selbstbestimmung, das Gefühl, trotz
eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten die Kontrolle über das eigene
Leben zu behalten.
„Ich habe meine finanzielle Situation lange kommen sehen“, sagt die
schlanke Sechzigerin mit den kurzen blonden Haaren und den großen Augen,
„wir haben uns drauf vorbereitet“. Mit den Mietkosten fängt das
kontrollierte Schrumpfen an. Das kinderlose Paar leistete sich vor Jahren
noch eine Wohnung mit 100 Quadratmetern im Dachgeschoss. Die Freunde
bewunderten die großzügigen Zimmer, die tolle Aussicht, den Wintergarten.
Doch als Muthgang klar wurde, dass ihre Kraft nicht reichen wird bis zum
gesetzlichen Rentenbeginn mit 66 Jahren, entschloss sich das Paar zu einer
Verkleinerung.
56 Quadratmeter groß ist ihre Zweieinhalbzimmerwohnung mit Balkon und Blick
auf einen Wald. Vor dem Umzug haben sie viele Bücher und Klamotten
verschenkt und verkauft. „Man wirft auch Ballast ab“, sagt Muthgang. Sie
hört sich für einen Moment an wie eine der Minimalisten, die es als
Lebensstil begreifen, nicht zu viel zu besitzen. Muthgang setzt sich ihre
Maßstäbe selbst. Sie versucht es zumindest.
Durch den Umzug sparte das Paar 600 Euro Miete. Muthgang und ihr
Lebenspartner zahlen jetzt zusammen 600 Euro Warmmiete. Sein Zimmer ist
neun Quadratmeter groß. „Wer will, darf darin rauchen“, sagt sie.
## Die verschämte Armut
Die Freunde, die sich anfangs noch besorgt erkundigen, ob die Zweisamkeit
infolge der neuen räumlichen Enge keinen Schaden nehme, sind verstummt. Von
Neumietern der gleichen Wohnungen im Komplex fordert der Eigentümer jetzt
eine um 400 Euro höhere Miete. Ein Nachbar mit dem gleichen Wohnungsschnitt
habe sein 9-Quadrameter-Zimmer jahrelang untervermietet, erzählt sie. „Das
geht ja auch.“ Sie kann sich Maßstäbe nicht nur selbst setzen, sondern sie
auch ändern, wenn es nötig ist.
Der Gedanke, dass ihr Partner nicht mehr da sein könnte, beunruhigt sie hin
und wieder. „Allein könnte ich mir die Wohnung nicht leisten“, sagt
Muthgang. Eine kleinere bezahlbare Wohnung wäre in dieser Lage kaum zu
finden. Viele Ältere leben in einer Art verschämten Armut, um in ihren
Wohnungen bleiben zu können, nachdem der Partner gestorben ist. Bei
Alleinlebenden im Rentenalter liegt die Mietbelastung in Westdeutschland
durchschnittlich bei 44 Prozent des Einkommens, zeigt der neue
Armutsbericht. Das ist ein Rekord im Vergleich unter allen Altersgruppen.
Bisher kann Muthgang ihre Wohnkosten bezahlen. Von 850 Euro Rente gehen 300
Euro für ihren Mietanteil ab. Mit 100 Euro schlagen die Energiekosten,
Fernsehen, Telefon, Handy, Internet, zu Buche. 70 Euro kostet die
Monatskarte für Bus und Bahn. Bleiben noch 380 Euro für Essen, Getränke,
zum Ausgehen, für Freizeitkurse, Klamotten, Schuhe, Drogeriewaren,
Medikamente, Zeitungen, Friseur, homöopathische Präparate, Zugfahrten zu
den alten, geschiedenen Eltern. Und fürs Zahnkonto.
Wer sich die Posten vorrechnen lässt, versteht, warum man bei 850 Euro
Rente durchaus von Armut reden könnte. Und warum Muthgang erwägt, auf
Zahnimplantate künftig zu verzichten und das fürs Zahnkonto vorgesehene
Geld lieber anderweitig zu verwenden. Mit ihrer kleinen Rente kann sie
einen Antrag als „Härtefall“ bei der Kasse stellen. Die Kassen zahlen dann
eine Mindestversorgung mit Zahnersatz; das sind aber nur Teilprothesen,
keine Implantate. Sie könnte sich natürlich auch die Monatskarte für den
Nahverkehr sparen, schließlich fährt sie viel Fahrrad. Aber was ist im
Winter und mit den weiten Strecken?
## Sie schlich um den Seniorentreff
„Man bewegt sich in einer Sphäre des Niedrigkonsums“, sagt Gisa Muthgang.
Sie will nicht in Selbstmitleid verfallen, das ist ihr wichtig.
„Niedrigkonsum“ klingt mehr nach Öko, nach selbst gewähltem Lebensstil und
nicht nach Absturz und Ausschluss. Dass sie nahe am Wald wohne, sei ihr
„großes Glück“, sagt sie. Spaziergänge im Sonnenuntergang sind die Rettu…
für Tausende von Altersarmen, denn die Natur kostet nichts. Ihr anderes
Hobby ist nicht teuer: Muthgang spielt und singt seit Jahren in einer Band.
Da fallen nur 18 Euro im Monat für den Übungsraum an.
Gisa Muthgang trägt gerne Naturfaser, kocht viel Bio und legt Wert darauf,
auch beim Konsum wählerisch zu sein. In Secondhandklamotten würde sie sich
unwohl fühlen, vom Billigangebot der 1-Euro-Shops hält sie wenig. Das
Bioregal bei Aldi allerdings schätze sie inzwischen. Und sie findet, es ist
ein Politikum, „dass die großen Biomärkte meist viel zu teuer sind für
Leute mit geringem Einkommen“. Dann ist da die Seniorenfreizeitstätte.
Okay, da musste sie sich überwinden.
„Es ist hilfreich, ein paar Vorurteile abzulegen“, sagt sie.
Muthgang schlich ein paarmal am Seniorentreff vorbei, dann wagte sie sich
hinein. Der Feldenkrais-Kurs, eine Art Bewegungstherapie, kostet dort nur
20 Euro im Monat. Die Truppe entpuppte sich als muntere
Überlebensgemeinschaft. Man redet nicht ausführlich über die eigenen
Krankheiten, aber „wir tauschen Tipps aus über Ärzte, die
naturheilkundliche Behandlungen ohne Mehrkosten anbieten“, erzählt
Muthgang. Der Älteste im Kurs ist 80 Jahre alt, kommt aber noch runter auf
die Schaffellmatte.
Wenn man Muthgang beim Chai-Tee zuhört, erinnert man sich an die sparsame
Lebensweise der Kriegsgenerationen, die Meisterinnen darin waren,
Gemeinschaft herzustellen, ohne dass es viel kostete. Wandern, Singen,
Hausmusik, Vereine, Besuche, Kaffeeklatsch – die Rentnerinnenkultur der
60er Jahre war konsumfern. Rechnet man die Rente einer Angestelltenwitwe
aus den 60er Jahren um und zieht die Miete ab, dann verfügten Rentnerinnen
damals über eine Kaufkraft von nur 340 Euro. Diese Subkultur der Damen in
ihren beigen Anoraks, breiten Schuhen und dicken Brillen entwickelte sich
für die Nachkommen zum Inbegriff der Spießigkeit. Aber vielleicht hat man
da etwas übersehen.
## Reiche Erben, verarmte Künstler
Denn die Spartricks dieser Rentnergenerationen und der konsumferne
Lebensstil vieler Studentenmilieus tauchen vielleicht in neuen Varianten
bei den konsumschwachen Älteren wieder auf.
Muthgang verfügt über eine weitere Voraussetzung, die beim Leben in der
Sparsamkeit hilft: einen sozial gemischten Freundeskreis. Sie kennt etliche
alte Künstler, die ärmer sind als sie. Schauspieler und Musiker sind es,
die früher als Freiberufler nicht viel verdienten und jetzt im Alter darum
kämpfen, nicht beim Grundsicherungsamt anklopfen und auf den Anträgen den
Wert ihrer Musikinstrumente oder einer Datsche im Berliner Umland als
verwertbaren Besitz angeben zu müssen.
„Die andern in der Band hielten mich immer für reich“, erzählt Muthgang,
„die sagten, du arbeitest im öffentlichen Dienst, das ist doch ein gut
bezahlter, sicherer Job. Die hatten völlig falsche Vorstellungen von den
Gehältern.“
Aber sie trifft sich auch viel mit einer Freundin, die früher einmal
Lehrerin war und eine gute Pension bezieht. Diese Freundin ist seit Kurzem
Erbin und sucht sich jetzt die Ayurveda-Hotels in Sri Lanka sehr sorgfältig
aus. Sie hat ihre Freundin Gisa eingeladen zur Wellnesswoche ins Biohotel
nach Österreich, sie wolle alles zahlen. Muthgang lehnte ab. „Ich will mich
innerlich unabhängig fühlen können und zu nichts verpflichten“, sagt sie.
Die reichen ErbInnen und die verarmten Künstler – Muthgang steht
gewissermaßen in der Mitte, und das scheint ein Trost zu sein.
Männer im Übrigen reden höchst ungern über ihre Armut. Das stellt auch
fest, wer männliche Interviewpartner zu dem Thema sucht. Solange es privat
bleibt, erzählen Männer ähnliche Geschichten wie Gisa Muthgang, aber sie
würden lieber aus dem Fenster springen, als sich in einem Zeitungsartikel
als Altersarme zitiert zu sehen. Frauen sind da eventuell pragmatischer und
verknüpfen ihr Selbstwertgefühl nicht so stark mit ihrer finanziellen
Situation.
## Früher half sie Armen
Auch Muthgang kämpft hin und wieder mit Gefühlen des Verzichts. Nicht lange
und weit in Urlaub zu fahren, das ließe sich aushalten. Auch kein Auto zu
haben sei kein Problem. „Aber die homöopathischen Behandlungen, die fehlen
mir“, sagt sie. Für die Konsultationen bei der Homöopathin mangelt es an
Geld. Auch die Feldenkrais-Einzelbehandlungen wegen ihrer Rückenschmerzen
kann sie nicht mehr besuchen. Ihre langjährige Krankengymnastin rechnet
inzwischen nur noch privat ab – für Muthgang ist das nicht bezahlbar.
Manche mögen das für Luxussorgen halten, so wie es Menschen gibt, die nicht
verstehen, wieso sich Hartz-IV-Empfänger auch mal in ein Café setzen wollen
oder Niedrigverdiener rauchen. Aber das Gefühl von Wahlfreiheit und
Selbstbestimmung beinhaltet eben genau das, sich wenigstens ein oder zwei
Dinge zu leisten, die nicht nur dem bloßen Überleben dienen.
Muthgang würde zwei von neun Kriterien „materieller Entbehrung“ erfüllen,
die aus der europäischen Sozialberichterstattung stammen: Sie kann sich
kein Auto und keinen Urlaub leisten. Das ist noch relativ komfortabel. Im
Vergleich zu Sabine Buchholz.
Wer Buchholz in ihrer Einzimmerwohnung in Berlin-Wedding besucht, begreift,
was es heißt, wirklich eingeschränkt zu sein durch die Armut und um einen
Rest von Wahlfreiheit, um Selbstbestimmung hart kämpfen zu müssen. Der
Unterschied lässt sich beziffern: „200 Euro im Monat mehr, das wäre eine
andere Welt“, sagt die 64-Jährige, die mit ihrer Katze in ihrem kleinen
Apartment lebt.
Buchholz bezieht Hartz IV. Seit einer Krebserkrankung kann sie nicht mehr
arbeiten. Bald geht sie in Rente, eine sehr kleine Rente mit aufstockender
Grundsicherung. Sie wird also ein Einkommen in Höhe von Hartz IV bekommen
und gehört dann zu den offiziell Altersarmen.
## 600 Euro zum Leben
Auch Buchholz, die in Wirklichkeit anders heißt, stammt aus der
Mittelschicht, einem Beamtenhaushalt in Hessen. Sie hat Sozialpädagogik
studiert. Auch sie wird nichts erben, und es würde ihr auch nichts nützen:
Jedes zufließende Vermögen muss verbraucht werden, bevor es Grundsicherung
gibt. Buchholz hat als Sozialpädagogin in der Obdachlosenhilfe gearbeitet,
ganz früher mal. Sie war immer kränklich. „Ich dachte damals: Es kann
leicht passieren. und du stehst selbst auf der anderen Seite“, erzählt sie.
Sie wurde arbeitslos, es folgten ABM-Stellen, Kurse, ein paar Anläufe,
einen neuen Job zu finden, Beschäftigungsmaßnahmen, bei denen nichts
eingezahlt wird in die Rente. Sie trat eine Stelle über den
Bundesfreiwilligendienst an, im Büro einer Wohlfahrtseinrichtung. Sie bekam
200 Euro an Aufwandsentschädigung, obendrauf auf den Regelsatz von Hartz
IV. 200 Euro mehr bedeuten 600 Euro im Monat zum Leben plus Miete. Es
entspricht einem Arbeitseinkommen von mehr als 900 Euro.
„Mit dem Geld von der Stelle beim Bundesfreiwilligendienst konnte man
einigermaßen leben“, sagt Buchholz, „ich konnte auch mal einen Kaffee
trinken gehen, mir was Neues kaufen.“ Doch es war eben kein richtiger Job.
Die Stelle war auf neun Monate befristet. Und dann kam der Krebs. Und dann
wieder Hartz IV. Sicher, während ihrer Studentenzeit hat sie auch nicht
mehr gehabt, „aber es ist ein Riesenunterschied, wenn du weißt, diese
Armut, die bleibt für immer“.
409 Euro Regelsatz hat Buchholz im Monat, davon gehen Kosten ab für
Haushaltsenergie, Telefon, Handy, Internet, die Brille, das Monatsticket,
Katzenfutter, Essen, Klamotten, Drogeriewaren. Auch Buchholz kocht lieber
Bio, erst recht nach dem Krebs. Die Waschmaschine ging neulich kaputt.
Buchholz kaufte eine gebrauchte vom Regelsatz, für 50 Euro. Das Ding
funktioniert nicht richtig, ständig fließt Wasser aus.
## Jeden Monat im Dispo
Dabei hat sie nicht mal den vollen Regelsatz zur Verfügung. 20 Euro muss
sie monatlich an das Jobcenter zurückzahlen, das hängt mit dem Krankengeld
von der Stelle beim Bundesfreiwilligendienst zusammen, das sie
zwischenzeitlich bezog. Sie wusste nicht, dass sie das nicht darf:
Krankengeld beziehen plus Hartz IV. Das Jobcenter fordert nun einige
hundert Euro zurück, häppchenweise. Und dann ist da noch der Dispo. Viele
Hartz-IV-Empfänger überziehen den Dispo und zahlen lebenslang allmonatlich
Zinsen an die Bank, ohne den Kredit jemals tilgen zu können. Buchholz zahlt
25 Euro im Monat.
Auch Sabine Buchholz kennt die Subkultur des Niedrigkonsums, die
1-Euro-Shops, Billigklamottenläden, Flohmärkte. Sie schätzt öffentliche
Räume, in denen man sich bewegen kann, „ohne Geld bezahlen zu müssen“,
erzählt sie. Der Besuch irgendwelcher Shoppingmalls, wo der Latte drei Euro
fünfzig kostet, kommt für sie nicht infrage. Parks ohne Eintritt,
Nachbarschaftszentren, Stadtteilbibliotheken, Flohmärkte – die sind
überlebenswichtig für die Menschen, die im Alter arm sind.
Sabine Buchholz wohnt in der Nähe eines Parks, und wenn die Stimmung und
das Wetter gut sind, picknickt sie auf dem Rasen. So wie die migrantischen
Familien, die am Wochenende kommen. Zeitungen liest sie gratis in der
Stadtteilbibliothek, und sie geht gern auf Flohmärkte und in
Secondhandläden.
Eine gewisse Wahlfreiheit hat sich Buchholz bewahrt. Die Läden von KiK zum
Beispiel würde sie nicht betreten, wegen der Arbeitsbedingungen der
Menschen, die die Kleidung für den Discounter herstellen. Sie besitzt ein
iPad samt Vertrag, eine langjährige Freundin hat es ihr geschenkt, als
Buchholz ins Krankenhaus musste zur Krebsoperation. Das mit dem Schenken
„ist kein großes Thema zwischen uns“, sagt sie. Wer mehr hat, gibt ein
bisschen was ab.
## Die Tafel wird normal
Sie hat ebenfalls manche Vorurteile abgelegt. „Bei der Tafel gibt es auch
nette Momente“, sagt sie, „da herrscht keine Atmosphäre von Absturz. Nur
die Vordrängler, die nerven.“ Dienstags geht sie zur Ausgabestelle für
Lebensmittel in einer Kirche. Man muss sich als Empfänger von
Grundsicherung registrieren lassen und bekommt für einen Euro wöchentlich
von Supermärkten gespendetes Gemüse, Obst und Brot.
Eigentlich spart man dadurch nicht viel Geld, nur so um die 30 Euro im
Monat, sagt Sabine Buchholz. Wenn sie ehrlich sei, gehe sie zur Tafel auch
wegen der Abwechslung, wegen der Ansprache. Die Krebserkrankung raubt viel
Kraft, oft kommt sie kaum noch aus dem Haus. Doch bei der Tafel trifft sie
auf freundliche Freiwillige, meist Frauen, die Zucchini, Kohl und Brot
ausgeben. Als Buchholz nach der Chemotherapie mit einem Kahlkopf
auftauchte, waren einige Freiwillige besonders nett zu ihr. Menschen in
Grenzsituationen ist man bei der Tafel gewöhnt.
Dass normale Leute kommen, ist ihr wichtig. Viele Jüngere, Alleinerziehende
sind dort. Eine alte Dame mit Rollator hat sie schon öfter gesehen, die
grüßt immer freundlich. Auch ein Mann in orange Kleidung, vielleicht ein
Buddhist, holt sich bei der Tafel Gemüse und Obst ab.
## Dann kauft sie eine Hollywoodschaukel
Sabine Buchholz kann ihre früheren Klienten jetzt gut verstehen, die von
damals, als sie selbst als Sozialpädagogin in einer Suppenküche arbeitete.
Wie rasend einen das macht, nichts kaufen zu können. „Und dann kamen die
Leute plötzlich mit einem brandneuen Handy an und hatten schon ihr Geld für
den halben Monat verbraten“, erzählt sie. „Jetzt kann ich das nachfühlen.
Manchmal will man eben auch ein schickes Handy oder Markenturnschuhe, man
will dazugehören. Das macht einen verrückt.“
Ihr verrücktester Kauf war eine Hollywoodschaukel, ein Sonderangebot beim
Discounter. „Es war plötzlich so eine Fantasie von Geborgenheit und Urlaub,
als ich mir vorstellte, wie das Ding in meiner Wohnung steht und ich drin
liege und schaukle“, erzählt Buchholz. Mit einer Freundin baute sie die
Hollywoodschaukel in ihrer Einzimmerwohnung auf. Sie war sperriger als
erwartet.
Man kam nicht mehr ans Bett und konnte auch nicht mehr bequem am Esstisch
sitzen. Und auch nicht richtig doll schaukeln. Nach einer Woche bauten sie
die Schaukel wieder ab. Es fanden sich Käufer über eBay. Sie holten die
zerlegte Schaukel auf dem Fahrrad ab. „Die sahen auch irgendwie arm aus“,
sagt Sabine Buchholz. Es war ein älteres Paar.
12 Feb 2017
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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