| # taz.de -- Arm im Alter: Die Sonne scheint für alle kostenlos | |
| > Wann fängt Armut an? Reichen 850 Euro für ein anständiges Leben? Über die | |
| > Bedeutung des Gefühls, eine Wahl zu haben. | |
| Bild: Die Natur kostet nichts | |
| DasZahnkonto ist Gisa Muthgangs Erfindung. Vor längerer Zeit schon hat sie | |
| Geld für ihre Zahnbehandlungen angelegt. Jeden Monat zahlt sie 100 Euro | |
| ein. Manche Menschen sparen auf ein Auto, Muthgang spart auf neue | |
| Backenzähne. Zähne hauen ins Budget, wenn man nur 850 Euro im Monat hat. | |
| „Man muss umdenken“, sagt die ehemalige Erzieherin, die mit 60 Jahren | |
| vorzeitig in Rente ging, „es ist ein neuer Lebensabschnitt“. | |
| Muthgang empfängt zum Tee in ihrer kleinen Wohnung, zweieinhalb Zimmer mit | |
| Grünblick im Berliner Bezirk Charlottenburg. Nichts Überflüssiges steht | |
| herum, nur zwei Gitarren verraten, dass man sich in einem Haushalt mit | |
| Musikern befindet. Muthgang hat eine Zeit der kontrollierten Schrumpfung | |
| hinter sich. | |
| Sie stammt aus der Mittelschicht, verbrachte ihre Kindheit im | |
| Einfamilienhaus am Grunewald, in einer Gegend, in der viele Berliner leben, | |
| die mehr Geld haben als der Durchschnitt. Der Vater war Abteilungsleiter in | |
| einem großen Medienkonzern. Er verließ die Familie mit drei Kindern früh, | |
| heiratete ein zweites Mal und ist jetzt im hohen Alter ein teurer | |
| Pflegefall. „Mit einem Erbe kann ich nicht rechnen“, sagt Muthgang. | |
| Sie arbeitete als Erzieherin im Hort einer Ganztagsschule, Vollzeit, eine | |
| engagierte Pädagogin aus der linksalternativen Szene. Nach gesundheitlichen | |
| Krisen verminderte sie nach und nach ihre Arbeitszeit. Mit 60 ist sie raus, | |
| Burn-out. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner zusammen, einem Musiker, der | |
| auch wenig hat. Die beiden führen getrennte Kassen. Ihren richtigen Namen | |
| will sie nicht in der Zeitung lesen. | |
| In zehn bis zwanzig Jahren könnte es viele Ältere geben, die so wie Gisa | |
| Muthgang mit wenig Geld auskommen müssen. Die Gefahr, arm zu werden, ist | |
| bei den über 65-jährigen Frauen und Männern laut Mikrozensus in den | |
| vergangenen Jahren gestiegen. Der Entwurf des 5. Armuts- und | |
| Reichtumsberichts der Bundesregierung nennt Risikofaktoren für Altersarmut: | |
| lange Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit ohne Vorsorge, eine lange | |
| Familienphase, Teilzeitarbeit, Scheidung, Krankheit. | |
| ## Auf neun Quadratmetern darf geraucht werden | |
| Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) will deshalb eine Art Mindestrente in | |
| einer Höhe zwischen 850 oder 900 Euro einführen für jene, die lange | |
| gearbeitet haben. Das wäre etwa so viel Geld, wie Gisa Muthgang im Monat | |
| hat. Wie lebt es sich mit einem Einkommen in dieser Höhe? Wann stellt sich | |
| das Gefühl von Armut ein? | |
| „Man bewegt sich eher in Bereichen, wo alles wenig oder nichts kostet“, | |
| sagt Muthgang, „aber arm will ich mich nicht fühlen.“ | |
| Welche Werte sind wichtig, wenn das Einkommen sinkt? Gisa Muthgangs Antwort | |
| lautet: Wahlfreiheit und Selbstbestimmung, das Gefühl, trotz | |
| eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten die Kontrolle über das eigene | |
| Leben zu behalten. | |
| „Ich habe meine finanzielle Situation lange kommen sehen“, sagt die | |
| schlanke Sechzigerin mit den kurzen blonden Haaren und den großen Augen, | |
| „wir haben uns drauf vorbereitet“. Mit den Mietkosten fängt das | |
| kontrollierte Schrumpfen an. Das kinderlose Paar leistete sich vor Jahren | |
| noch eine Wohnung mit 100 Quadratmetern im Dachgeschoss. Die Freunde | |
| bewunderten die großzügigen Zimmer, die tolle Aussicht, den Wintergarten. | |
| Doch als Muthgang klar wurde, dass ihre Kraft nicht reichen wird bis zum | |
| gesetzlichen Rentenbeginn mit 66 Jahren, entschloss sich das Paar zu einer | |
| Verkleinerung. | |
| 56 Quadratmeter groß ist ihre Zweieinhalbzimmerwohnung mit Balkon und Blick | |
| auf einen Wald. Vor dem Umzug haben sie viele Bücher und Klamotten | |
| verschenkt und verkauft. „Man wirft auch Ballast ab“, sagt Muthgang. Sie | |
| hört sich für einen Moment an wie eine der Minimalisten, die es als | |
| Lebensstil begreifen, nicht zu viel zu besitzen. Muthgang setzt sich ihre | |
| Maßstäbe selbst. Sie versucht es zumindest. | |
| Durch den Umzug sparte das Paar 600 Euro Miete. Muthgang und ihr | |
| Lebenspartner zahlen jetzt zusammen 600 Euro Warmmiete. Sein Zimmer ist | |
| neun Quadratmeter groß. „Wer will, darf darin rauchen“, sagt sie. | |
| ## Die verschämte Armut | |
| Die Freunde, die sich anfangs noch besorgt erkundigen, ob die Zweisamkeit | |
| infolge der neuen räumlichen Enge keinen Schaden nehme, sind verstummt. Von | |
| Neumietern der gleichen Wohnungen im Komplex fordert der Eigentümer jetzt | |
| eine um 400 Euro höhere Miete. Ein Nachbar mit dem gleichen Wohnungsschnitt | |
| habe sein 9-Quadrameter-Zimmer jahrelang untervermietet, erzählt sie. „Das | |
| geht ja auch.“ Sie kann sich Maßstäbe nicht nur selbst setzen, sondern sie | |
| auch ändern, wenn es nötig ist. | |
| Der Gedanke, dass ihr Partner nicht mehr da sein könnte, beunruhigt sie hin | |
| und wieder. „Allein könnte ich mir die Wohnung nicht leisten“, sagt | |
| Muthgang. Eine kleinere bezahlbare Wohnung wäre in dieser Lage kaum zu | |
| finden. Viele Ältere leben in einer Art verschämten Armut, um in ihren | |
| Wohnungen bleiben zu können, nachdem der Partner gestorben ist. Bei | |
| Alleinlebenden im Rentenalter liegt die Mietbelastung in Westdeutschland | |
| durchschnittlich bei 44 Prozent des Einkommens, zeigt der neue | |
| Armutsbericht. Das ist ein Rekord im Vergleich unter allen Altersgruppen. | |
| Bisher kann Muthgang ihre Wohnkosten bezahlen. Von 850 Euro Rente gehen 300 | |
| Euro für ihren Mietanteil ab. Mit 100 Euro schlagen die Energiekosten, | |
| Fernsehen, Telefon, Handy, Internet, zu Buche. 70 Euro kostet die | |
| Monatskarte für Bus und Bahn. Bleiben noch 380 Euro für Essen, Getränke, | |
| zum Ausgehen, für Freizeitkurse, Klamotten, Schuhe, Drogeriewaren, | |
| Medikamente, Zeitungen, Friseur, homöopathische Präparate, Zugfahrten zu | |
| den alten, geschiedenen Eltern. Und fürs Zahnkonto. | |
| Wer sich die Posten vorrechnen lässt, versteht, warum man bei 850 Euro | |
| Rente durchaus von Armut reden könnte. Und warum Muthgang erwägt, auf | |
| Zahnimplantate künftig zu verzichten und das fürs Zahnkonto vorgesehene | |
| Geld lieber anderweitig zu verwenden. Mit ihrer kleinen Rente kann sie | |
| einen Antrag als „Härtefall“ bei der Kasse stellen. Die Kassen zahlen dann | |
| eine Mindestversorgung mit Zahnersatz; das sind aber nur Teilprothesen, | |
| keine Implantate. Sie könnte sich natürlich auch die Monatskarte für den | |
| Nahverkehr sparen, schließlich fährt sie viel Fahrrad. Aber was ist im | |
| Winter und mit den weiten Strecken? | |
| ## Sie schlich um den Seniorentreff | |
| „Man bewegt sich in einer Sphäre des Niedrigkonsums“, sagt Gisa Muthgang. | |
| Sie will nicht in Selbstmitleid verfallen, das ist ihr wichtig. | |
| „Niedrigkonsum“ klingt mehr nach Öko, nach selbst gewähltem Lebensstil und | |
| nicht nach Absturz und Ausschluss. Dass sie nahe am Wald wohne, sei ihr | |
| „großes Glück“, sagt sie. Spaziergänge im Sonnenuntergang sind die Rettu… | |
| für Tausende von Altersarmen, denn die Natur kostet nichts. Ihr anderes | |
| Hobby ist nicht teuer: Muthgang spielt und singt seit Jahren in einer Band. | |
| Da fallen nur 18 Euro im Monat für den Übungsraum an. | |
| Gisa Muthgang trägt gerne Naturfaser, kocht viel Bio und legt Wert darauf, | |
| auch beim Konsum wählerisch zu sein. In Secondhandklamotten würde sie sich | |
| unwohl fühlen, vom Billigangebot der 1-Euro-Shops hält sie wenig. Das | |
| Bioregal bei Aldi allerdings schätze sie inzwischen. Und sie findet, es ist | |
| ein Politikum, „dass die großen Biomärkte meist viel zu teuer sind für | |
| Leute mit geringem Einkommen“. Dann ist da die Seniorenfreizeitstätte. | |
| Okay, da musste sie sich überwinden. | |
| „Es ist hilfreich, ein paar Vorurteile abzulegen“, sagt sie. | |
| Muthgang schlich ein paarmal am Seniorentreff vorbei, dann wagte sie sich | |
| hinein. Der Feldenkrais-Kurs, eine Art Bewegungstherapie, kostet dort nur | |
| 20 Euro im Monat. Die Truppe entpuppte sich als muntere | |
| Überlebensgemeinschaft. Man redet nicht ausführlich über die eigenen | |
| Krankheiten, aber „wir tauschen Tipps aus über Ärzte, die | |
| naturheilkundliche Behandlungen ohne Mehrkosten anbieten“, erzählt | |
| Muthgang. Der Älteste im Kurs ist 80 Jahre alt, kommt aber noch runter auf | |
| die Schaffellmatte. | |
| Wenn man Muthgang beim Chai-Tee zuhört, erinnert man sich an die sparsame | |
| Lebensweise der Kriegsgenerationen, die Meisterinnen darin waren, | |
| Gemeinschaft herzustellen, ohne dass es viel kostete. Wandern, Singen, | |
| Hausmusik, Vereine, Besuche, Kaffeeklatsch – die Rentnerinnenkultur der | |
| 60er Jahre war konsumfern. Rechnet man die Rente einer Angestelltenwitwe | |
| aus den 60er Jahren um und zieht die Miete ab, dann verfügten Rentnerinnen | |
| damals über eine Kaufkraft von nur 340 Euro. Diese Subkultur der Damen in | |
| ihren beigen Anoraks, breiten Schuhen und dicken Brillen entwickelte sich | |
| für die Nachkommen zum Inbegriff der Spießigkeit. Aber vielleicht hat man | |
| da etwas übersehen. | |
| ## Reiche Erben, verarmte Künstler | |
| Denn die Spartricks dieser Rentnergenerationen und der konsumferne | |
| Lebensstil vieler Studentenmilieus tauchen vielleicht in neuen Varianten | |
| bei den konsumschwachen Älteren wieder auf. | |
| Muthgang verfügt über eine weitere Voraussetzung, die beim Leben in der | |
| Sparsamkeit hilft: einen sozial gemischten Freundeskreis. Sie kennt etliche | |
| alte Künstler, die ärmer sind als sie. Schauspieler und Musiker sind es, | |
| die früher als Freiberufler nicht viel verdienten und jetzt im Alter darum | |
| kämpfen, nicht beim Grundsicherungsamt anklopfen und auf den Anträgen den | |
| Wert ihrer Musikinstrumente oder einer Datsche im Berliner Umland als | |
| verwertbaren Besitz angeben zu müssen. | |
| „Die andern in der Band hielten mich immer für reich“, erzählt Muthgang, | |
| „die sagten, du arbeitest im öffentlichen Dienst, das ist doch ein gut | |
| bezahlter, sicherer Job. Die hatten völlig falsche Vorstellungen von den | |
| Gehältern.“ | |
| Aber sie trifft sich auch viel mit einer Freundin, die früher einmal | |
| Lehrerin war und eine gute Pension bezieht. Diese Freundin ist seit Kurzem | |
| Erbin und sucht sich jetzt die Ayurveda-Hotels in Sri Lanka sehr sorgfältig | |
| aus. Sie hat ihre Freundin Gisa eingeladen zur Wellnesswoche ins Biohotel | |
| nach Österreich, sie wolle alles zahlen. Muthgang lehnte ab. „Ich will mich | |
| innerlich unabhängig fühlen können und zu nichts verpflichten“, sagt sie. | |
| Die reichen ErbInnen und die verarmten Künstler – Muthgang steht | |
| gewissermaßen in der Mitte, und das scheint ein Trost zu sein. | |
| Männer im Übrigen reden höchst ungern über ihre Armut. Das stellt auch | |
| fest, wer männliche Interviewpartner zu dem Thema sucht. Solange es privat | |
| bleibt, erzählen Männer ähnliche Geschichten wie Gisa Muthgang, aber sie | |
| würden lieber aus dem Fenster springen, als sich in einem Zeitungsartikel | |
| als Altersarme zitiert zu sehen. Frauen sind da eventuell pragmatischer und | |
| verknüpfen ihr Selbstwertgefühl nicht so stark mit ihrer finanziellen | |
| Situation. | |
| ## Früher half sie Armen | |
| Auch Muthgang kämpft hin und wieder mit Gefühlen des Verzichts. Nicht lange | |
| und weit in Urlaub zu fahren, das ließe sich aushalten. Auch kein Auto zu | |
| haben sei kein Problem. „Aber die homöopathischen Behandlungen, die fehlen | |
| mir“, sagt sie. Für die Konsultationen bei der Homöopathin mangelt es an | |
| Geld. Auch die Feldenkrais-Einzelbehandlungen wegen ihrer Rückenschmerzen | |
| kann sie nicht mehr besuchen. Ihre langjährige Krankengymnastin rechnet | |
| inzwischen nur noch privat ab – für Muthgang ist das nicht bezahlbar. | |
| Manche mögen das für Luxussorgen halten, so wie es Menschen gibt, die nicht | |
| verstehen, wieso sich Hartz-IV-Empfänger auch mal in ein Café setzen wollen | |
| oder Niedrigverdiener rauchen. Aber das Gefühl von Wahlfreiheit und | |
| Selbstbestimmung beinhaltet eben genau das, sich wenigstens ein oder zwei | |
| Dinge zu leisten, die nicht nur dem bloßen Überleben dienen. | |
| Muthgang würde zwei von neun Kriterien „materieller Entbehrung“ erfüllen, | |
| die aus der europäischen Sozialberichterstattung stammen: Sie kann sich | |
| kein Auto und keinen Urlaub leisten. Das ist noch relativ komfortabel. Im | |
| Vergleich zu Sabine Buchholz. | |
| Wer Buchholz in ihrer Einzimmerwohnung in Berlin-Wedding besucht, begreift, | |
| was es heißt, wirklich eingeschränkt zu sein durch die Armut und um einen | |
| Rest von Wahlfreiheit, um Selbstbestimmung hart kämpfen zu müssen. Der | |
| Unterschied lässt sich beziffern: „200 Euro im Monat mehr, das wäre eine | |
| andere Welt“, sagt die 64-Jährige, die mit ihrer Katze in ihrem kleinen | |
| Apartment lebt. | |
| Buchholz bezieht Hartz IV. Seit einer Krebserkrankung kann sie nicht mehr | |
| arbeiten. Bald geht sie in Rente, eine sehr kleine Rente mit aufstockender | |
| Grundsicherung. Sie wird also ein Einkommen in Höhe von Hartz IV bekommen | |
| und gehört dann zu den offiziell Altersarmen. | |
| ## 600 Euro zum Leben | |
| Auch Buchholz, die in Wirklichkeit anders heißt, stammt aus der | |
| Mittelschicht, einem Beamtenhaushalt in Hessen. Sie hat Sozialpädagogik | |
| studiert. Auch sie wird nichts erben, und es würde ihr auch nichts nützen: | |
| Jedes zufließende Vermögen muss verbraucht werden, bevor es Grundsicherung | |
| gibt. Buchholz hat als Sozialpädagogin in der Obdachlosenhilfe gearbeitet, | |
| ganz früher mal. Sie war immer kränklich. „Ich dachte damals: Es kann | |
| leicht passieren. und du stehst selbst auf der anderen Seite“, erzählt sie. | |
| Sie wurde arbeitslos, es folgten ABM-Stellen, Kurse, ein paar Anläufe, | |
| einen neuen Job zu finden, Beschäftigungsmaßnahmen, bei denen nichts | |
| eingezahlt wird in die Rente. Sie trat eine Stelle über den | |
| Bundesfreiwilligendienst an, im Büro einer Wohlfahrtseinrichtung. Sie bekam | |
| 200 Euro an Aufwandsentschädigung, obendrauf auf den Regelsatz von Hartz | |
| IV. 200 Euro mehr bedeuten 600 Euro im Monat zum Leben plus Miete. Es | |
| entspricht einem Arbeitseinkommen von mehr als 900 Euro. | |
| „Mit dem Geld von der Stelle beim Bundesfreiwilligendienst konnte man | |
| einigermaßen leben“, sagt Buchholz, „ich konnte auch mal einen Kaffee | |
| trinken gehen, mir was Neues kaufen.“ Doch es war eben kein richtiger Job. | |
| Die Stelle war auf neun Monate befristet. Und dann kam der Krebs. Und dann | |
| wieder Hartz IV. Sicher, während ihrer Studentenzeit hat sie auch nicht | |
| mehr gehabt, „aber es ist ein Riesenunterschied, wenn du weißt, diese | |
| Armut, die bleibt für immer“. | |
| 409 Euro Regelsatz hat Buchholz im Monat, davon gehen Kosten ab für | |
| Haushaltsenergie, Telefon, Handy, Internet, die Brille, das Monatsticket, | |
| Katzenfutter, Essen, Klamotten, Drogeriewaren. Auch Buchholz kocht lieber | |
| Bio, erst recht nach dem Krebs. Die Waschmaschine ging neulich kaputt. | |
| Buchholz kaufte eine gebrauchte vom Regelsatz, für 50 Euro. Das Ding | |
| funktioniert nicht richtig, ständig fließt Wasser aus. | |
| ## Jeden Monat im Dispo | |
| Dabei hat sie nicht mal den vollen Regelsatz zur Verfügung. 20 Euro muss | |
| sie monatlich an das Jobcenter zurückzahlen, das hängt mit dem Krankengeld | |
| von der Stelle beim Bundesfreiwilligendienst zusammen, das sie | |
| zwischenzeitlich bezog. Sie wusste nicht, dass sie das nicht darf: | |
| Krankengeld beziehen plus Hartz IV. Das Jobcenter fordert nun einige | |
| hundert Euro zurück, häppchenweise. Und dann ist da noch der Dispo. Viele | |
| Hartz-IV-Empfänger überziehen den Dispo und zahlen lebenslang allmonatlich | |
| Zinsen an die Bank, ohne den Kredit jemals tilgen zu können. Buchholz zahlt | |
| 25 Euro im Monat. | |
| Auch Sabine Buchholz kennt die Subkultur des Niedrigkonsums, die | |
| 1-Euro-Shops, Billigklamottenläden, Flohmärkte. Sie schätzt öffentliche | |
| Räume, in denen man sich bewegen kann, „ohne Geld bezahlen zu müssen“, | |
| erzählt sie. Der Besuch irgendwelcher Shoppingmalls, wo der Latte drei Euro | |
| fünfzig kostet, kommt für sie nicht infrage. Parks ohne Eintritt, | |
| Nachbarschaftszentren, Stadtteilbibliotheken, Flohmärkte – die sind | |
| überlebenswichtig für die Menschen, die im Alter arm sind. | |
| Sabine Buchholz wohnt in der Nähe eines Parks, und wenn die Stimmung und | |
| das Wetter gut sind, picknickt sie auf dem Rasen. So wie die migrantischen | |
| Familien, die am Wochenende kommen. Zeitungen liest sie gratis in der | |
| Stadtteilbibliothek, und sie geht gern auf Flohmärkte und in | |
| Secondhandläden. | |
| Eine gewisse Wahlfreiheit hat sich Buchholz bewahrt. Die Läden von KiK zum | |
| Beispiel würde sie nicht betreten, wegen der Arbeitsbedingungen der | |
| Menschen, die die Kleidung für den Discounter herstellen. Sie besitzt ein | |
| iPad samt Vertrag, eine langjährige Freundin hat es ihr geschenkt, als | |
| Buchholz ins Krankenhaus musste zur Krebsoperation. Das mit dem Schenken | |
| „ist kein großes Thema zwischen uns“, sagt sie. Wer mehr hat, gibt ein | |
| bisschen was ab. | |
| ## Die Tafel wird normal | |
| Sie hat ebenfalls manche Vorurteile abgelegt. „Bei der Tafel gibt es auch | |
| nette Momente“, sagt sie, „da herrscht keine Atmosphäre von Absturz. Nur | |
| die Vordrängler, die nerven.“ Dienstags geht sie zur Ausgabestelle für | |
| Lebensmittel in einer Kirche. Man muss sich als Empfänger von | |
| Grundsicherung registrieren lassen und bekommt für einen Euro wöchentlich | |
| von Supermärkten gespendetes Gemüse, Obst und Brot. | |
| Eigentlich spart man dadurch nicht viel Geld, nur so um die 30 Euro im | |
| Monat, sagt Sabine Buchholz. Wenn sie ehrlich sei, gehe sie zur Tafel auch | |
| wegen der Abwechslung, wegen der Ansprache. Die Krebserkrankung raubt viel | |
| Kraft, oft kommt sie kaum noch aus dem Haus. Doch bei der Tafel trifft sie | |
| auf freundliche Freiwillige, meist Frauen, die Zucchini, Kohl und Brot | |
| ausgeben. Als Buchholz nach der Chemotherapie mit einem Kahlkopf | |
| auftauchte, waren einige Freiwillige besonders nett zu ihr. Menschen in | |
| Grenzsituationen ist man bei der Tafel gewöhnt. | |
| Dass normale Leute kommen, ist ihr wichtig. Viele Jüngere, Alleinerziehende | |
| sind dort. Eine alte Dame mit Rollator hat sie schon öfter gesehen, die | |
| grüßt immer freundlich. Auch ein Mann in orange Kleidung, vielleicht ein | |
| Buddhist, holt sich bei der Tafel Gemüse und Obst ab. | |
| ## Dann kauft sie eine Hollywoodschaukel | |
| Sabine Buchholz kann ihre früheren Klienten jetzt gut verstehen, die von | |
| damals, als sie selbst als Sozialpädagogin in einer Suppenküche arbeitete. | |
| Wie rasend einen das macht, nichts kaufen zu können. „Und dann kamen die | |
| Leute plötzlich mit einem brandneuen Handy an und hatten schon ihr Geld für | |
| den halben Monat verbraten“, erzählt sie. „Jetzt kann ich das nachfühlen. | |
| Manchmal will man eben auch ein schickes Handy oder Markenturnschuhe, man | |
| will dazugehören. Das macht einen verrückt.“ | |
| Ihr verrücktester Kauf war eine Hollywoodschaukel, ein Sonderangebot beim | |
| Discounter. „Es war plötzlich so eine Fantasie von Geborgenheit und Urlaub, | |
| als ich mir vorstellte, wie das Ding in meiner Wohnung steht und ich drin | |
| liege und schaukle“, erzählt Buchholz. Mit einer Freundin baute sie die | |
| Hollywoodschaukel in ihrer Einzimmerwohnung auf. Sie war sperriger als | |
| erwartet. | |
| Man kam nicht mehr ans Bett und konnte auch nicht mehr bequem am Esstisch | |
| sitzen. Und auch nicht richtig doll schaukeln. Nach einer Woche bauten sie | |
| die Schaukel wieder ab. Es fanden sich Käufer über eBay. Sie holten die | |
| zerlegte Schaukel auf dem Fahrrad ab. „Die sahen auch irgendwie arm aus“, | |
| sagt Sabine Buchholz. Es war ein älteres Paar. | |
| 12 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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