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# taz.de -- Schlaf und Erholung: Geiz zahlt sich nicht aus
> Die meisten Erwachsenen kommen mit sieben bis acht Stunden Schlaf pro
> Nacht aus. Dennoch gönnen wir uns meist nicht mal das.
Bild: Im Schlaf muss man nicht auf dem Boden bleiben
Berlin taz | Der oft nachtaktive Berliner Piano-Pop-Musiker Lambert drückte
im Interview unlängst aus: „Ich gehe ungern ins Bett, selbst wenn ich total
müde bin. Immer habe ich das Gefühl, damit etwas abzuschießen.“
Und tatsächlich: Die Anlässe, dem Schlaf die eine oder andere halbe Stunde
wegzunehmen, haben im letzten Jahrhundert – besonders in den letzten 20
Jahren – zugenommen: Die zunehmende Vernetzung unserer Lebenswelt sorgt für
Kommunikations- und Konsummöglichkeiten rund um die Uhr, auch
Freizeitoptionen und Dienstleistungen, von Supermärkten bis zu
Telefonhotlines, sind allzeit verfügbar.
In der Folge vollziehen wir unseren Schlaf heute mechanisiert wie noch nie.
Abends fahren wir, analog zur Funktionsweise eines Computers, herunter, um
fünf bis acht Stunden später zu rebooten. In dieses Zeitfenster hat sich
unser Schlaf bitteschön einzufügen. Er ist von einem Naturzwang zu einem
Geschenk geworden, das man sich selbst macht. Oder mit dem man geizt.
Die Wissenschaft widmet sich derweil der Frage, wie wir unser
Schlafbedürfnis weiter reduzieren können: 2009 etwa wurde eine Genvariante
identifiziert, die [1][dafür sorgt, dass manche Menschen nach sechs Stunden
richtig ausgeschlafen sind]: Mäuse, denen dieses DEC2 genannte Eiweiß
eingepflanzt wurde, waren jeden Tag anderthalb Stunden länger aktiv. Und an
Militärinstitutionen in aller Welt wird zu der Frage geforscht, wie
Soldaten zumindest temporär von der Schlafforderung ihres Körpers befreit
werden können. Dass derartige Erkenntnisse auch in zivilen Lebenswelten
ankommen, ist nur eine Frage der Zeit.
## Tägliche Eindrücke werden sortiert
Die Gründe dafür, dass wir nicht genug Schlaf bekommen, unterscheiden sich
in Lebenswelten und -phasen. Gesellschaftsdurchdringend ist jedoch das
Resultat: Wir schlafen immer weniger. Mehr als die Hälfte aller Deutschen –
so eine Zahl, über die man in der Diskussion öfter stolpert – sogar
deutlich zu wenig. Im Rest der Welt sieht es nicht besser aus. Der
Schlafbedarf ist zwar individuell verschieden und verändert sich im Laufe
des Lebens. Pi mal Daumen lässt sich sagen: Die meisten Erwachsenen sind
mit sieben bis acht Stunden gut beraten, es gibt aber auch Menschen, die
regelmäßig ihre neun Stunden brauchen.
Hinsichtlich der Langzeitfolgen dieser Entwicklung befindet sich die
Menschheit in einer Art Großversuch mit ungewissem Ausgang.
Forschungsergebnisse legen einen Zusammenhang zwischen Schlafmangel und
Stoffwechselerkrankungen und anderen Zivilisationsleiden nahe. Ein großes
Thema in der Gesundheitspolitik ist der Schlaf trotzdem noch nicht.
Da wir über unsere Arbeitszeit nur begrenzt selbst bestimmen, hätte mehr
Raum für den Schlaf weniger Freizeit zur Folge – was viele zweifeln lässt,
ob das eine gute Idee ist. Doch es sind nicht nur die Zwänge der
Arbeitswelt, die an unsere Auszeiten knabbern.
Wir selbst glauben gern, beim Schlafen Lebenszeit zu verschwenden, denn was
wir im nächtlichen Daseinsdrittel erleben, entzieht sich unserem
Bewusstsein – von gelegentlichen Erinnerungen an Träume abgesehen. Das ist
insofern paradox, da sich unser Bewusstsein überhaupt erst entwickeln kann,
weil im Schlaf all die Eindrücke, die täglich auf uns einprasseln, so
sortiert werden, dass wir etwas mit ihnen anfangen können. Im Schlaf trennt
unser Gehirn die Spreu vom Weizen.
Theoretisch wissen die meisten Menschen, dass sie ausreichende Ruhephasen
brauchen, um sich am Leben zu erfreuen. Dennoch versuchen wir, möglichst
viel in unseren Tagen unterzubringen, und bedienen uns dabei Technologien,
von denen wir glauben, dass sie uns Lebenszeit schenken.
Das hat wohl auch damit zu tun, dass der Schlafvermeidung ein gewisser
Glamour anhängt: Durch sie kann man unter Beweis stellen, dass man für eine
Sache brennt – besonders in der Arbeitswelt, wo der Glaube immer noch
verbreitet ist, dass der „frühe Vogel den Wurm fängt“ – obwohl wir das
agrarische Zeitalter lange hinter uns gelassen haben. Von sogenannten
Leistungsträgern – auf Chefetagen, in der Finanzwirtschaft und im
Politikbetrieb – wird erwartet, sich jeden Tag aufs Neue über ihr
Schlafbedürfnis hinwegzusetzen.
Margaret Thatcher zum Beispiel behauptete einst, nur vier Stunden zu
brauchen, und fand: „sleep is for wimps“ (Schlaf ist für Weicheier). Bill
Clinton dagegen hatte zumindest so viel Realitätssinn, dass er nach seiner
Präsidentschaft fehlenden Schlaf für die größten Fehler seiner Laufbahn
verantwortlich machte.
Auch im Kulturbetrieb und der Populärkultur gilt Schlafverzicht oft als
Beleg, dass man leidenschaftlich bei der Sache ist. Pop- und Filmstars
bekennen sich gern mit mehr als nur ein bisschen Koketterie zu nächtlicher
Rastlosigkeit und ihrem geringen Schlafbedürfnis. Augenringe gelten eben
nicht nur unter Bankern als Beleg dafür, dass man für seine Sache brennt.
## Luxus, der nichts kostet
Und tatsächlich würden viele bemerkenswerte Bücher, Musik- und Kunstwerke
wohl gar nicht existieren, wenn alle Menschen ein gesundes Verhältnis zu
ihrem Schlaf hätten. Rainer Werner Fassbinder prägte einst das Diktum vom
Schlaf, den er nachholen kann, wenn er tot ist. Und der Elektronikkünstler
Aphex Twin fand, dass man mit zwei Stunden pro Nacht zurechtkommt: „Man
gewöhnt sich im Laufe von drei Wochen daran. Ich habe schon als Kind für
mich entschieden, dass Schlaf Lebensverschwendung ist“, erzählte er dem
[2][Online-Magazin The Quietus].
Dass unser Schlafbedürfnis gemischte Gefühle auslöst, liegt wohl – zu einem
gewissen Grad unabhängig vom aktuellen Zeitgeist – in der menschlichen
Natur begründet. Vielleicht lassen wir uns deshalb in der Sache allzu
bereitwillig Unsinn einreden. Aktuell ist das die Idee, dass unser Schlaf
optimierungsbedürftig ist. Obwohl er doch prima seinen Job macht, wenn man
ihn nur lässt.
Schlafen ist eigentlich ein Luxus, der nichts kostet. Oder zumindest nichts
kosten muss. Doch in den letzten Jahren hat die Welt des Marketings das
Thema entdeckt und will uns diese uns angeborene, selbstverständliche
Ressource zurückverkaufen.
Neuerdings setzt die Schlafindustrie nicht nur darauf, dass sich mit
schlechtem Schlaf Geld verdienen lässt – wovon die Pharma- und
Ratgeberindustrie seit Langem profitiert. Sie versucht zudem, bei
problemlos Schlafenden Unsicherheit zu schüren, Luft nach oben ist
schließlich immer. Wer garantiert mir schon, dass ich bisher den maximalen
Nutzen aus meinen Nächten gezogen habe? Menschen, die sich von ihrem
Ruhebedürfnis vielleicht schon entfremdet haben, wird versprochen, dass sie
ihn mit Apps oder smarten Armbanduhren besser verstehen und für sich
„nutzen“ können.
## Privates Vergnügen
Über den Schlaf wird viel behauptet, was sich schwer bestätigen oder
widerlegen lässt. Er ist eine geduldige Projektionsfläche. Die
Gleichsetzung von ausreichendem Schlaf und Faulheit in der Arbeitswelt ist
für unseren Umgang mit dieser Ressource jedoch so wenig hilfreich wie der
Alarmismus angesichts einer aus dem Takt geratenen Welt, bei dem unser
Schlafmangel zum Ansatzpunkt für Überforderungsdiskurse wird. Oder, wie
beim New Yorker Kunsttheoretiker Jonathan Crary, der mit [3][“24/7 –
Schlaflos im Spätkapitalismus“] eine [4][vielbeachtete Polemik
veröffentlicht hat], als Beleg für die Verkommenheit des alle
Lebensbereiche durchdringenden Neoliberalismus. Die Debatte über Schlaf ist
zu einem Aufhänger für Kulturpessimismus geworden.
Vermutlich tun wir aber gut daran, unseren Schlaf nicht als Metapher zu
überstrapazieren. Besser wir entdecken unser persönliches Schlafbedürfnis
wieder – und machen uns daran, es im Rahmen unserer aktuellen
Lebensumstände zu realisieren. Man gewöhnt sich nämlich viel zu leicht an
Müdigkeit und überhört ihre Zeichen in der Kakofonie des Alltags.
Schlaf als ganz privates Vergnügen lässt sich jede Nacht aufs Neue
entdecken. Wenn man die Augen schließt, entzieht man sich für ein paar
Stunden allen Anforderungen. Im Bett verbrachte Zeit ist Freizeit im
wahrsten Sinne des Wortes.
26 Mar 2016
## LINKS
[1] http://www.sciencecodex.com/gene_variation_that_lets_people_get_by_on_fewer…
[2] http://thequietus.com/articles/16069-aphex-twin-afx-deep-cuts
[3] https://www.wagenbach.de/buecher/titel/966-24-7.html
[4] /Kunstkritiker-ueber-Spaetkapitalismus/!5031458
## AUTOREN
Stephanie Grimm
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