# taz.de -- Abseits von Lohnarbeit: Gesellschaft der befreiten Zeit | |
> Müßiggang im Lauf der Zeit: Gregor Ritschel plädiert im Buch „Freie Zeit… | |
> für einen Mentalitätswandel weg von der Lohnarbeit. | |
Bild: Arbeiterinnen in einer Gerberei in Frankreich um 1925 | |
„Arbeite nur – und die Freude kommt von selbst,“ soll Goethe gesagt haben. | |
Ob das so stimmt, kann man bezweifeln. Die interessantere Frage ist, was | |
passiert, wenn wir nicht arbeiten. Der Soziologe Gregor Ritschel ist ihr | |
nachgegangen und entwirft eine politische Ideengeschichte der freien Zeit. | |
Die arbeitsfreien Stunden wurden, wie er zeigt, bereits in der Antike | |
zwiespältig gesehen: Als umkämpfte Ressource einerseits, die Erholung von | |
der Arbeit und zweckfreie Muße bietet und gesellschaftlich stabilisierend | |
wirkt. Und andererseits als ein Raum der (Ideen-)Bildung, weswegen | |
arbeitsfreie Stunden immer auch als potenzielle Gefahr für die herrschende | |
Ordnung gesehen wurden. | |
Freizeit zwischen Systemerhalt und Subversion, diese Ambivalenz arbeitet | |
der Autor historisch heraus. Schon Platon warnte vor einer Freizeitmoral, | |
die durch Müßiggang den Bürgersinn auflöse und politischen Umsturz bringen | |
könne. | |
Im antiken Rom hingegen fürchtete man sich nicht vor flanierenden Bürgern. | |
Hier avancierte, wie Ritschel darlegt, die Kultur des städtischen | |
Müßiggangs zum kulturellen Leitbild, das otium urbanum stand allen Bürgern | |
offen. Bei den Germanen wiederum war die Muße Privileg des Kriegers. | |
## Ora et Labora | |
Im Mittelalter entwickelte sich in Europa aus dem kirchlichen Takt von Ora | |
et Labora das Zeitregime der Uhren und Werkglocken – wobei zunächst nur so | |
viel gearbeitet wurde wie nötig. Erst mit dem einsetzenden Frühkapitalismus | |
wurde die freie Zeit schmerzhaft rar. | |
„Der Kampf für den Achtstundentag war der gemeinsame Nenner aller | |
Arbeiterorganisationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa | |
wie auch in den Vereinigten Staaten“, schreibt Ritschel und beschreibt die | |
teils blutigen Kämpfe, die in Deutschland mit der Novemberrevolution | |
erfolgreich endeten. | |
Der Autor legt dar, wie in dem Maße, in dem der Primat der Ökonomie | |
regierte, die Menschen ein Arbeitswahn befiel, gespeist von einer | |
protestantischen Arbeitsethik, [1][die schon Marx’ Schwiegersohn Paul | |
Lafargue 1880 in seinem Manifest „Recht auf Faulheit“ beklagt]e. | |
Während Marx den Schlüssel zum Glück des Individuums im freien Dilettieren, | |
also dem selbstbestimmten Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten, doch | |
innerhalb der Arbeitssphäre sah, forderte Lafargue das Proletariat auf, „zu | |
seinen natürlichen Instinkten zurück(zu) kehren“ und „die Faulheitsrechte | |
(zu) verkünden“. Sein Ideal: Nicht mehr als drei Stunden täglich zu | |
arbeiten, um den Rest des Tages und der Nacht zu faulenzen und zu | |
schwelgen. | |
## Das Streben nach Konsum | |
In dieser Diskussion schwingen bereits viele Aspekte mit, die heutige | |
Diskurse rund um Arbeit und Freizeit prägen, Ritschel erinnert in diesem | |
Zusammenhang an Gerhard Schröders Satz: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ | |
Zunächst aber wendet sich der Autor der Ideologie zu, die im 20. | |
Jahrhundert die Arbeitsethik komplementierte und dann ersetzte: das Streben | |
nach Konsum und Wohlstand. | |
Der demokratisierte Warenkonsum, verstärkt durch PR und Werbung, machte | |
manche gewerkschaftliche Errungenschaft zunichte, wie auch emanzipatorische | |
Ansätze, etwa beim Cornflakes-Hersteller Kellogg’s, der zwischen 1930 und | |
1950 den Sechsstundentag eingeführt hatte. | |
Ritschel belegt, wie sich die Arbeitszeit nach dem Zweiten Weltkrieg | |
wieder ausdehnte – an die Stelle des Kampfs um weniger Stunden war das | |
Bedürfnis getreten, mehr zu arbeiten, um einen „demonstrativen Lebensstil“ | |
mit Statussymbolen und aufwendiger Freizeitgestaltung pflegen zu können. | |
Dieses kapitalistische Hamsterrad ist vor einigen Jahren ins Stocken | |
gekommen, wie Ritschel analysiert. Durch die Endlichkeit der natürlichen | |
Ressourcen, die Erschöpfung des Subjekts; aber auch durch die Endlichkeit | |
der Arbeit selbst, die durch Automatisierungsprozesse knapper wird. | |
Wie herausfordernd das werden kann, [2][ahnte schon Hannah Arendt 1960 in | |
„Vita Activa“:] „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine | |
Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige | |
Tätigkeit, auf die diese sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller | |
sein?“ | |
## Privileg der Akademiker | |
Gregor Ritschel fragt, ob das wirklich so verhängnisvoll ist – und findet | |
beim Philosophen André Gorz Hoffnung: Dieser wies 2007 auf neue | |
Lebensweisen hin, die auf weniger Konsum und mehr lokal-gemeinschaftlichem | |
Produzieren beruhten. Ob diese Nischen Vorboten einer „Gesellschaft der | |
befreiten Zeit“ sind, wie Gorz glaubte? Oder doch das Privileg einiger | |
akademischer Kopfarbeiter in einer von sozialer Ungleichheit geprägten | |
(Arbeits-)Welt? | |
Der Autor jedenfalls hält es mit der Soziologin Julie Rose, die eine | |
gerechte Verteilung auch der freien Zeit fordert, da eine lebendige | |
Demokratie gemeinsame Räume der Muße brauche. Ritschel geht dafür zurück zu | |
Hobbes und Tocqueville [3][und zur Gestalt des Citoyens, der im 19. | |
Jahrhundert an die Seite des Bourgeois tritt.] Diese politische Figur und | |
die Staatsform konnten erst entstehen durch freie Zeit zur Selbst- und | |
Ideenbildung. | |
Den gesellschaftlichen Austausch als Motor der Demokratie sieht Ritschel in | |
Gefahr, beschleunigt durch die Vereinzelung durch Homeoffice-Arbeit und | |
personalisierten (Medien-)Konsum. Ganz zu schweigen von der Lähmung durch | |
prekäre Bullshit-Jobs. | |
Sein Buch, das im letzten Kapitel viele gegenwärtige Denkansätze | |
versammelt, von den Glücklichen Arbeitslosen bis zu Aaron Bastanos Manifest | |
„Fully Automated Luxury Communism“, plädiert für eine Befreiung der Zeit. | |
Politische Maßnahmen wie eine kostenlose Infrastruktur, Förderung von | |
Teilzeitarbeit und ein bedingungsloses Grundeinkommen sollen den Rahmen | |
bilden für einen Mentalitätswandel: weg von der Lohnarbeit. | |
29 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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