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# taz.de -- Marx und der Krieg: Kämpfen in Ketten
> Das Prinzip des Handels beförderte weltweit Freiheit, Gleichheit und
> Frieden. Wäre da nicht die kapitalistische Arbeitslogik.
Es sollte beunruhigen, wie leichtfertig gegenwärtig das Versprechen „Wandel
durch Handel“ verworfen wird. Mit dem Prinzip Handel war schließlich einmal
aller Glaube an die Moderne, an Fortschritt und Aufklärung verbunden. „Es
ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und
der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“, schrieb Immanuel Kant
in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“. Krieg repräsentiert für ihn die
Kontinuität mit der Barbarei der Vorzeit.
Zur Erinnerung: Von der Neolithischen Revolution vor etwa 10.000 Jahren bis
zur Neuzeit galt Krieg als ehrenwerte Beschäftigung und war eher die Regel
als die Ausnahme. Reich war in der alten Welt derjenige, dem viel
fruchtbares Land und die dazugehörige Anzahl an Sklaven oder Leibeigenen
gehörten. Weil die Produktivität der Sklavenarbeit in der gegebenen Ordnung
kaum variabel war, konnte nur wohlhabender werden, wer Land eroberte und
fremde Völker versklavte. Erst mit der sich in den Städten ausbreitenden
bürgerlichen Gesellschaft setzte sich ein neues, friedfertiges Prinzip in
der Welt durch: Reichtum durch rationale Teilung der Arbeit zwischen
freiwillig kooperierenden Bürgern. In Folge stieg die Produktivität
unabhängig vom Besitz fruchtbarer Böden. Im späten 16. Jahrhundert war das
kleine, auf Handel und Manufakturwesen beruhende Holland der reichste Staat
der Welt, danach das die Handelsrouten der Weltmeere beherrschende England.
Was der vormoderne Mensch nur durch Krieg und auf Kosten anderer erreichen
konnte, bekommt der moderne Mensch nur in Arbeitsteilung mit der
Weltgesellschaft, durch Handel und – so zumindest die liberale Idee –
zugunsten aller.
Während Kant sich mit seinem Zeitgenossen Adam Smith darin einig war, dass
ewiger Frieden durch eine Vertiefung des Prinzips der freien Arbeit
realisierbar wäre, bemerkte einige Jahrzehnte nach ihm [1][Karl Marx], dass
genau dieses Prinzip selbstwidersprüchlich geworden war und statt ewigem
Frieden immer neue Konflikte wahrscheinlich und langfristig sogar
unvermeidbar macht. Seine Forderung nach „Rücksichtslose(r) Kritik alles
Bestehenden“ wurde im Westen weitestgehend verdrängt und im ehemaligen
Ostblock zu einer Rechtfertigungsideologie verfälscht. Für Marx hing von
der Klärung des Selbstwiderspruchs der Arbeit ab, ob die Versprechen der
Moderne eingelöst würden oder aller zivilisatorischer Fortschritt auch den
Schritt in eine neue Form von Barbarei bedeuten würde.
Konservative Denker hingegen bleiben bis heute eine wirkliche Erklärung
dafür schuldig, warum das moderne Prinzip Handel nie das vormoderne Prinzip
Krieg verdrängt hat. Sie neigen zu pessimistischen Feststellungen: Die
menschliche Natur sei zu egoistisch, Nationalismus stärker als die
kosmopolitische Kooperation in Adam Smiths „handelstreibender
Gesellschaft“.
Worin besteht jedoch andererseits der von Marx bemerkte Selbstwiderspruch,
der immer neue Kriege bedingt? Aufklärer wie Kant und Adam Smith gingen vor
der Industriellen Revolution davon aus, dass das Wachstum des Kapitals zu
einer größeren Nachfrage nach Arbeit führt, da diese, neben zu
vernachlässigenden Werkzeugen und kleinen Maschinen, der einzige
Produktionsfaktor war, in den Kapitalisten im 18. Jahrhundert investieren
konnten. Sie gingen daher von einer harmonischen Aufwärtsspirale aus: Mit
der Größe des Kapitals sollten die Löhne steigen, „Wandel durch Handel“ …
hier im marxistischen Zusammenhang gebraucht – sollte den „Weltbürgerlichen
Zustand“ einleiten. In diesem Sinn befasst sich Adam Smiths politische
Ökonomie ebenso wie Marx’ Kritik derselben nicht mit Wirtschaft im engen
Sinn, sondern mit allen sozialen Beziehungen, die in der universellen
Tauschgesellschaft erstmals eine Totalität, ein voneinander abhängiges
Ganzes, bilden.
Diese Totalität signalisierte schon aus Sicht der Aufklärung nicht weniger
als eine fundamentale Umwandlung der bisherigen menschlichen Natur. Statt
„in sich“ zu leben, den eigenen Instinkten nach, wie der Genfer Philosoph
Jean-Jacques Rousseau bemerkte, lebt der moderne Mensch „außer sich“, muss
seine natürlichen Reflexe und Instinkte überwinden, um auf sozial
akzeptierte Weise und in effizienter Kooperation seine Bedürfnisse zu
befriedigen. Wie schwierig die Überwindung der ersten fast noch tierischen
Natur des Menschen gewesen sein muss, belegt noch heute jede
Kindererziehung. Kant bemerkte diese Veränderbarkeit auch in der Geschichte
der Menschheit vom „Edlen Wilden“ bis hin zum zivilisierten Menschen, der
sich durch das Mittel der Vergesellschaftung eine zweite Natur schuf, die
er durch die Art der gesellschaftlichen Einrichtung fortlaufend entwickelt.
So bedingt die moderne „handelstreibende Gesellschaft“ objektiv, dass wir
uns subjektiv zumindest prinzipiell als freie und gleiche Vertragspartner
anerkennen, wohingegen die verschiedenen Völker, Kasten und Stände der
Vormoderne sich eher wie unterschiedliche Arten einer Gattung
entgegengetreten sind. Eine Kritik an Rassismus und Sexismus beispielsweise
bemüht – unabhängig davon, ob das den Beteiligten bewusst ist – das
ureigene liberale Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft vom gerechten
Tausch mit gleichen Rechten: das „Sollen“ wird gegen das „Sein“ dieser
Gesellschaft mobilisiert, wie Kant sagen würde. Zuvor wäre dergleichen
Kritik undenkbar gewesen, da hier die Ungleichheit der Menschen, etwa mit
der Unterscheidung zwischen jenen mit blauem und rotem Blut oder zwischen
den Barbaren und der eigenen Gruppe, grundlegend war.
Nun aber wurden in der Industriellen Revolution Maschinen, Technik und
Wissenschaft – das „allgemeine gesellschaftliche Wissen“ nach Marx –, s…
rationaler Teilung der [2][Arbeit] alleine, dazu verwendet, die
Produktivität zu steigern. Dadurch aber wird infolge jeder technischen
Neuerung weniger menschliche Arbeit benötigt, ihr Wert reduziert. Was
Arbeit erleichtern sollte, untergräbt gleichzeitig das Fundament einer
Gesellschaft, die auf ihr beruht – die Gesellschaft der Arbeit gerät in
einen Selbstwiderspruch. Das Leben der übergroßen Mehrheit wird unsicher,
weil es davon abhängt, ob ihre Arbeit Wert hat. Jeder Fortschritt bedeutet
zugleich neue Unsicherheit. Wie Max Horkheimer einmal ironisch bemerkte,
wird „anstatt der Arbeit der Arbeiter überflüssig“.
Da die industrielle Produktion so eine neuartige permanente Klasse von
Arbeitslosen schuf, hat das Kapital die Möglichkeit, die Not der auf Arbeit
Angewiesenen zur Zahlung niedriger Löhne zu nutzen. Niedrige Löhne wiederum
reduzieren den Markt für Waren, also muss die Produktion weiter
rationalisiert werden. Neue Maschinen und Technologien werden eingesetzt
und der Lohn in Folge weiter gedrückt. Währenddessen schaffen neue
Produktionstechnologien neue Arbeitsformen, die die Nachfrage nach Arbeit
und so relativ ihren Preis erhöht. Neue, besser gestellte Arbeiterschichten
entstehen – bis auch sie im nächsten Zyklus absteigen.
Der periodisch wiederkehrende Wertverfall der Arbeitskraft macht es jedoch
notwendig, einen Teil der überflüssigen Arbeiter abzuwickeln. Um nicht
unter die Räder zu geraten, bilden sich national wie international
innerhalb „der“ Arbeiterklasse Gruppenaffinitäten, die miteinander
konkurrieren: In- gegen Ausländer, gut gegen schlecht Bezahlte, Ethnien,
Religionsgemeinschaften und Nationalitäten gegeneinander. Die verschiedenen
Teile der Arbeiterklasse konkurrieren nicht um zusätzlichen Wohlstand,
sondern gegen den Abstieg. Diese bittere Konkurrenz führt zu Krieg, obwohl
in einer weltweiten arbeitsteiligen Gesellschaft alle auch auf gegenseitige
Kooperation angewiesen sind. In dem durch den Selbstwiderspruch der Arbeit
angetriebenen Konflikt innerhalb der Arbeiterklasse steckt für Marx alles
Konfliktpotenzial einer kapitalistischen Gesellschaft – vom Streik bis hin
zu Krieg und Völkermord.
Statt kosmopolitisch-bürgerlicher Kooperation tendiert die Gesellschaft
inmitten aller Modernität in Richtung vormodernen Tribalismus. Unter
kapitalistischen Vorzeichen stellt sich die Frage, ob die „Überflüssigen“
durch Alimente, Vereinsamung, Sozialarbeit, Drogen und Alkohol friedlich
eingehen oder die ganze Gesellschaft mit sich reißen, wie historisch im
Nationalsozialismus oder in Bürgerkriegen? Die andere Option der
Herrschenden besteht darin, das Chaos in Kriegen nach außen zu exportieren
und ihre eigene geopolitische Konkurrenz zu verheizen.
Nicht jedoch Konkurrenz per se oder die der Kapitalisten untereinander sind
nach Marx die primäre Ursache für Krieg, sondern die Unfreiheit von
Verhältnissen, die dazu zwingen, in Sisyphusarbeit immer weiter zu
expandieren, um dem Wertverfall der Arbeitskraft entgegenzuarbeiten. Marx
hielt es deshalb für notwendig, „die Proletarier aller Länder“ politisch …
vereinigen. In letzter Konsequenz war für ihn dafür eine weltweit
revolutionäre Neuorganisation der Gesellschaft erforderlich, die die
internationale Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse beseitigen würde. In
Abwesenheit einer Vereinigung gehen Marxens Proletarier allerdings mit
ihren „Ketten“ aufeinander los. Der Klassenkampf im internationalen Sinn
von Marx hat sich in den der Arbeiter untereinander verwandelt, spätestens
seitdem der Marxismus politisch tot ist.
Doch trotz des politischen Scheiterns des [3][Marxismus] im frühen 20.
Jahrhundert und trotz aller Illusionen, die die letzten Jahrzehnte stabiler
Instabilität mit sich gebracht haben, bleibt die von Marx aufgeworfene
Problematik ungelöst.
5 Jun 2022
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Jan Schroeder
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