| # taz.de -- Abschluss der Filmfestspiele Cannes 2022: Lachen mit Marx | |
| > Die Filmfestspiele von Cannes endeten mit einer Goldenen Palme für Ruben | |
| > Östlund. Eine solide Entscheidung in einem durchwachsenen Jubiläumsjahr. | |
| Bild: Mir Freude am Slapstick: Ruben Östlund | |
| Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Dieser | |
| Spruch darf nicht fehlen, wenn ein russischer Düngemitteloligarch und ein | |
| US-amerikanischer Kapitän einer Luxusjacht sich die schönsten Zitate von | |
| Karl Marx in alkoholbefeuerter Eintracht an den Kopf werfen. Jedenfalls | |
| nicht in Ruben Östlunds Satire „Triangle of Sadness“, mit dem der Schwede | |
| am Sonnabend bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der | |
| Goldenen Palme geehrt wurde. | |
| Der Entscheidung war unter Filmkritikern großes Rätselraten vorausgegangen, | |
| weil sich in diesem Jahr kein klarer Favorit abzeichnen wollte. Zu | |
| unterschiedlich fielen die Reaktionen auf die Wettbewerbsbeiträge aus, die | |
| gewohnt mit großen Namen aufwarteten, aber nur sehr vereinzelt für große | |
| Begeisterung sorgten. [1][Ruben Östlund, der vor fünf Jahren mit der | |
| Kunstbetriebssatire „The Square“ ebenfalls die Goldene Palme] erhalten | |
| hatte, überraschte mit seinem Folgesieg, der sich weniger eindeutig als | |
| Sieger empfahl. | |
| Vorzüge hat das „Triangle of Sadness“ aber genügend. Der erste Teil der a… | |
| Triptychon angelegten schwarzen Komödie allein schon lohnt sich zu sehen. | |
| Darin zeichnet der Streit eines Model-Paars darüber, wer im Restaurant die | |
| Rechnung bezahlt, sehr fein die manipulativen Seiten in Beziehungen nach, | |
| die Verunsicherung, die mit aufgeweichten Rollenbildern einhergeht, und die | |
| Schwierigkeit, ehrlich mit sich selbst zu sein. | |
| Wenn man anschließend dieses Paar auf einer Luxusjacht begleitet, ist mit | |
| den Feinheiten schnell Schluss. Dann lernt es etwa ein freundliches älteres | |
| britisches Ehepaar kennen, das mit den spezialisierten technischen | |
| Produkten seines Unternehmens nach eigener Auskunft hilft, Demokratien rund | |
| um die Welt zu sichern. Auf Nachfrage der jungen Models erfahren diese, | |
| dass zum Portfolio ebenso Handgranaten wie Landminen gehören. | |
| Auch den fröhlichen Oligarchen und seinen Gesprächspartner, den Kapitän, | |
| gespielt von Woody Harrelson, lernt man auf der Reise kennen. Die Fahrt | |
| läuft nicht ganz nach Plan, als ein Sturm aufkommt, müssen die Reisenden | |
| sehr viel Unverdautes von sich geben. | |
| ## Freude am Slapstick | |
| Doch selbst diese Plattheiten mit viel Freude am Slapstick kann man als | |
| gelungen betrachten. Es fällt einfach sehr schwer, nicht zu lachen. Ein | |
| weiterer schöner Einfall des Drehbuchs ist der Auftritt der Schauspielerin | |
| Iris Berben in der Rolle einer von einem Schlaganfall gezeichneten Dame, | |
| die sich lediglich mit der Phrase „in den Wolken“ mehr recht als schlecht | |
| Gehör verschaffen kann. | |
| Die Wahl von „Triangle of Sadness“ ist mithin keine schlechte, selbst wenn | |
| man anderen Filmen die Auszeichnung eher gewünscht hätte. Nicht unbedingt | |
| für die Altmeister, die sich dieses Jahr selten von ihrer besten Seite | |
| zeigten. Eher für jüngere Kandidaten wie den [2][Rumänen Cristian Mungiu, | |
| der mit „R. M. N.“ den Rassismus in seinem Land als Realsatire] schildert. | |
| Seine Geschichte eines Orts in Siebenbürgen, der gegen Arbeiter aus Sri | |
| Lanka mobil macht, hat einen wahren Fall zum Vorbild und wäre einer | |
| Auszeichnung allemal würdig gewesen. Dass Mungiu leer ausging, war eines | |
| der Versäumnisse der Jury. | |
| Für andere starke Beiträge gab es immerhin Nebenpreise. So erhielten die | |
| [3][Belgier Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch für ihre in | |
| Italien mit italienischen Schauspielern gedrehte stille Romanverfilmung „Le | |
| otto montagne“] wenigstens den Preis der Jury. Den teilen sie sich mit dem | |
| polnischen Regisseur Jerzy Skolimowski, dessen „EO“ als Hommage an Robert | |
| Bressons Klassiker „Zum Beispiel Balthasar“ (1966) in seiner | |
| selbstverliebten Art zu den schwächeren Filmen gehörte. Trotz anrührender | |
| Eseldarsteller. | |
| ## Mitunter sprunghaft | |
| Verdient auch der Preis für die Beste Regie, der an den Koreaner Park | |
| Chan-wook für dessen rätselhaften Thriller „Decision to Leave“ ging. Die | |
| Weise, wie sich bei ihm Thriller und Romanze verbinden, wirkte mitunter | |
| sprunghaft, speiste einen dafür jedoch nie mit Erwartbarem ab. | |
| Weniger überzeugend gelang diese Kombination bei der Französin Claire Denis | |
| in ihrem Beitrag „Stars at Noon“. Die Begegnung einer Journalistin und | |
| eines dubiosen Geschäftsmannes in Nicaragua verliert sich eher im Diffusen, | |
| als dass sie daraus ihren Reiz bezöge. Der Große Preis der Jury war da | |
| nicht ganz nachvollziehbar. Genauso wenig die anteilige Verleihung dieses | |
| Preises an den Belgier Lukas Dhont, dessen Drama „Close“ über die tragische | |
| Freundschaft zweier Jungen starke juvenile Darsteller aufbot, die | |
| Geschichte dieser gescheiterten Nähe aber nicht ausreichend | |
| herausarbeitete. | |
| So bleibt eine Ausgabe mit einem Weltkino, das selten etwas riskiert. Am | |
| ehesten taten das noch der Kanadier David Cronenberg, der seine | |
| Spezialität, den Body Horror, in „Crimes of the Future“ zu neuen komischen | |
| Höhen trieb, und der in Dänemark lebende iranische Regisseur Ali Abbasi, | |
| dessen Thriller über Gewalt gegen Frauen immerhin mit einem Preis für die | |
| beste Schauspielerin bedacht wurde. Zar Amir Ebrahimi, die darin eine | |
| Investigativjournalistin spielt, erhielt die Auszeichnung denn auch zu | |
| recht. | |
| ## Seltsame Dinge geschehen | |
| Auch in den Nebenreihen musste man sich nach Entdeckungen ein wenig | |
| umsehen. In der unabhängigen Reihe „Qinzaine des réalisateurs“ gab es mit | |
| „Enys Men“ des britischen Filmemachers Mark Jenkin ein formal und | |
| rhythmisch strenges, zugleich stimmiges Gespensterstück, das auf der Insel | |
| Enys Men spielt. Mary Woodvine gibt darin die einzige Bewohnerin, die in | |
| immergleicher Routine die Flora des einsamen Einlands vor der Küste | |
| Cornwalls beobachtet. Bis seltsame Dinge geschehen. | |
| Seltsame Dinge geschehen auch im französischen Film „La montagne“ des | |
| Regisseurs Thomas Salvador, der zugleich die Hauptrolle eines Unternehmers | |
| spielt, dessen Begeisterung für die Berge ihn buchstäblich immer tiefer ins | |
| Felsmassiv eindringen lässt. Eine höchst ungewöhnliche Variation über das | |
| Motiv des Alpenglühns. Mit „Le parfum vert“ seines Landsmanns Nicolas | |
| Pariser kommt eine schräge Krimikomödie hinzu, in der Sandrine Kiberlain | |
| als exzentrische Comiczeichnerin und Vincent Lacoste als Schauspieler der | |
| Comédie Française unversehens im Herzen einer rechten Verschwörung gegen | |
| die Demokratien Europas landen. | |
| Frische Blicke gab es zudem in der Reihe „Un certain regard“ zu begrüßen. | |
| Der Australier Thomas M. Wright begeisterte mit seinem lakonischen Krimi | |
| „The Stranger“, der als Porträt zweier verlorener Männer die Darsteller | |
| Joel Edgerton und Sean Harris brillieren lässt. In „The Silent Twins“ geht | |
| die polnische Agnieszka Smoczyńska eindringlich dem Schicksal zweier | |
| schwarzer Zwillingsschwestern in Schottland nach, deren Kreativität mit den | |
| Anforderungen der Realität kollidiert. Und mit ihrem Debütfilm „War Pony“ | |
| zeigen die Filmemacherinnen Riley Keough und Gina Gammell mit spontaner | |
| Energie das Aufwachsen zweier Lakota-Jungen im Pine-Ridge-Reservat. Für | |
| ihre Arbeit mit Laiendarstellern konnten sie sich über die Camera d’or für | |
| den besten Erstlingsfilm freuen. | |
| ## Letzte Aufnahmen aus Mariupol | |
| Über dem Festivaltrubel, bei dem man die Tage gern mit zu vielen Filmen | |
| vollstopfte, drohte die Realität des Kriegs Russlands gegen die Ukraine aus | |
| dem Blick zu geraten. Ein Korrektiv im Programm bildeten die letzten | |
| Aufnahmen des litauischen Filmemachers Mantas Kvedaravičius aus der | |
| Hafenstadt Mariupol. Nachdem dieser von russischen Soldaten getötet wurde, | |
| schaffte seine Verlobte Hanna Bilobrova das Material außer Landes und | |
| stellte den Film fertig. Die Bilder des Eingeschlossenseins, vom Grundstück | |
| einer Kirche aus gefilmt, ringsum zerstörte Gebäude, vermitteln vor allem, | |
| was es heißt, unter Belagerung auszuharren. | |
| Kvedaravičius’ aktuelles Vermächtnis korrespondierte mit den historischen | |
| Bildern des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa in dessen | |
| Dokumentarfilm „The Natural History of Destruction“ über die Zerstörung | |
| deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. Und markierte deutlich die Differenz | |
| dieser Bilder. Der Aggressor war bei Loznitsa schließlich Deutschland | |
| selbst. Dessen Propagandastrategie damals ähnelt erschreckend der von | |
| Russland heute. | |
| 29 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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