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# taz.de -- Stadt-Land-Konflikt im Film „Acht Berge“: Wald, Fluss, Wiese
> „Acht Berge“ begeistert mit ruhigem Tempo und monumentalen Bildern. Er
> erzählt von Freundschaft und lässt Stadt und Land aufeinander prallen.
Bild: Ein Dach ist auch ein Gipfel: Bruno (Alessandro Borghi) und Pietro (Luca …
Naturaufnahmen in Filmen haben oft etwas Ambivalentes. Die Schönheit der
Natur droht mitunter zur reinen Dekoration zu geraten, die jenseits ihres
Schauwerts für die Handlung keine Rolle spielt. James-Bond-Filme sind das
wohl bekannteste Beispiel für so einen cineastischen Postkartenmotivansatz.
Im [1][Film „Acht Berge“ der Belgier Felix Van Groeningen und Charlotte
Vandermeersch] sieht man gleich zu Beginn Bilder von bewaldeten Berghängen
und kargen Gipfeln. Die Ansichten im klassischen Fernsehformat 4:3 sind
beeindruckend schön und geben sich schon bald als tragender Teil der
Geschichte zu erkennen. Von romantischer Verklärung ist diese weit
entfernt.
In diesen Bergen im Norden Italiens macht der junge Pietro mit seinen
Eltern im Sommer Urlaub. Wobei er die meiste Zeit mit seiner Mutter
(bürgerlich fürsorglich: Elena Lietti) verbringt, der Vater geht unter der
Woche in Turin seiner Arbeit als Ingenieur nach und kommt bloß an den
Wochenenden zu gemeinsamen Ausflügen dazu.
Der im Aostatal gelegene Ort Grana bietet neben der Natur wenig
Abwechslung. Von den einst mehreren Hundert Einwohnern sind keine 20
geblieben, das einzige Kind dort heißt Bruno. Als Pietro und Bruno sich
kennenlernen, freunden sich die grundverschiedenen Jungen rasch an. Bruno
macht Pietro mit „seinen“ Bergen vertraut, Pietros Mutter hilft Bruno beim
Lernen für die Schule. Eine Kindheitsidylle über Klassenunterschiede hinweg
scheint sich anzukündigen.
Mit „Acht Berge“ haben Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch den
gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti verfilmt. Für den Regisseur Van
Groeningen ist es nach „Die Beschissenheit der Dinge“ von 2009 die zweite
Adaption einer in Teilen autobiografischen Coming-of-Age-Geschichte. Und
nach „Beautiful Boy“ (2018) mit Timothée Chalamet und Steve Carrell ist es
die zweite Produktion, die er außerhalb Belgiens gedreht hat.
Zum ersten Mal führte Van Groeningen jetzt mit seiner Lebensgefährtin
Vandermeersch Regie, das Drehbuch stammt gleichfalls von ihnen zusammen.
## Lakonischer Tonfall
Wüsste man nicht, wer für die Regie zuständig ist, könnte man „Acht Berge…
für einen durch und durch italienischen Film halten. Fast vollständig in
Italien und mit einer überwiegend italienischen Besetzung gedreht, deren
Hauptdarsteller norditalienische Akzente sprechen, stellt sich nie das
Gefühl ein, man habe es mit einer fördermittelbefeuerten Form von
Filmemacher-„Tourismus“ zu tun.
Was auch daran liegen könnte, dass der Film einen lakonischen Tonfall
wählt, der sich der Weite seiner Kulisse anpasst. Van Groeningen und
Vandermeersch statten ihre Erzählung weniger aus, als dass sie dem Publikum
Raum für eigene Fragen lassen.
Dabei gibt es zwischendurch sogar wiederkehrend einen Erzähler aus dem Off.
Es ist die Stimme Luca Marinellis, der den erwachsenen Pietro spielt.
„Acht Berge“ folgt seiner Sicht, der des Jungen aus der Großstadt, der in
Grana das unbeschwerte Spielen mit Bruno sichtlich genießt, für den der
Aufenthalt in den Bergen aber zugleich etwas zeitlich Begrenztes ist. Nach
dieser Freude kommt für ihn unerbittlich das Leid in der Stadt. Hinter der
Zwangsläufigkeit dieser Dynamik sieht Pietro seinen Vater (besorgt
autoritär: Filippo Timi), dessen Strenge das Leben des Jungen in Turin
bestimmt. Konflikte zeichnen sich früh ab.
## Der Vater als abwesende Größe
Die Väter werden denn auch für das Schicksal der Freundschaft von Pietro
und Bruno maßgeblich Verantwortung tragen. Wo Brunos Vater eine abwesende
Größe bleibt, der notgedrungen im Ausland auf dem Bau arbeitet, ist Pietros
Vater gegenüber Bruno zugewandt, es gibt sogar Pläne, den Dorfjungen in
Turin wohnen zu lassen, damit er in der Stadt zur Schule gehen kann.
Bruno ist begeistert, Pietro skeptisch, auch wegen drohender Konkurrenz.
Denn Pietro erweist sich als der an Kräften Unterlegene, beim Besteigen
eines Gletschers zu dritt bleibt ihm in einer besonders starken Szene
buchstäblich die Luft weg, womit er seinen alpinen Vater enttäuscht,
während diesen Brunos Geschicklichkeit beeindruckt.
Dann kommt alles anders und die Jungen sehen sich lange Zeit nicht mehr.
Erst nach dem plötzlichen Tod von Pietros Vater finden sie Jahrzehnte
später wieder zueinander. Der erwachsene Bruno, felsartig stoisch von
Alessandro Borghi gegeben, ist in den Bergen geblieben, versucht mehr
schlecht als recht, die Käserei seines Onkels nach traditioneller Methode
am Leben zu halten. Pietro hat nach einem Streit mit seinem Vater das
Studium geschmissen und den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, schlägt sich
mit Gelegenheitsjobs durch und versucht sich als Dokumentarfilmer und
Autor.
Bei allen Differenzen erweist sich die Freundschaft Brunos und Pietros als
etwas stabil Selbstverständliches, das so unverrückbar währt wie die
steinernen Massive um sie herum. Mit kleinen Gesten umreißen Van Groeningen
und Charlotte Vandermeersch nebenbei die Gegensätze von Stadt und Land in
den konträren Lebensentwürfen der Freunde. Wo Bruno, der es nicht geschafft
hat, das Dorf hinter sich zu lassen, sich in die Gleichförmigkeit seines
Daseins fügt, ist Pietro immer noch auf der Suche, reist in die Ferne nach
Nepal, wo es ihn ebenso ins Gebirge zieht.
## Brunos Beharrlichkeit
Bruno wiederum merkt bald, dass sein Vorhaben, nach altem Brauch Käse
herzustellen, unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum mehr möglich ist,
will sich jedoch nicht an die Umstände anpassen. Er beharrt darauf, in
genau diese Gegend zu gehören und alles so zu tun, wie es die Dinge seiner
Meinung nach erfordern.
Als Pietro mit Freunden in die Berge kommt, schwärmen diese von der
Landschaft und fabulieren spontan davon, ihre bisherigen Karrieren
zugunsten eines Lebens in der Natur aufgeben zu wollen. Was Bruno mit dem
Hinweis pariert, dass Leute wie er nicht einmal von „Natur“ sprechen. Für
ihn gibt es nur konkrete Dinge wie Wald, Fluss, Wiese.
Die Nähe zwischen Bruno und Pietro ungeachtet ihrer Differenzen lässt oft
an ein Paar denken, das lediglich nicht zusammenlebt und sich körperlich
ebenso wenig vereint. Dass beide irgendwann Partnerinnen finden, jeder auf
seine Art, stört diese auch nach langer Trennung ungebrochen enge Beziehung
nicht sonderlich. In den Bergen schaffen sie schließlich einen Platz für
sich, an den sie regelmäßig zurückkehren.
Als „Acht Berge“ im vergangenen Mai in Cannes lief, erhielt er den Preis
der Jury, den er sich allerdings mit der Eselhommage „EO“ des polnischen
Regisseurs Jerzy Skolimowski teilte. [2][Die Goldene Palme ging hingegen an
Ruben Östlunds laut-grelle Gesellschaftssatire „Triangle of Sadness“.]
In Italien, wo Cognettis Roman ein preisgekrönter Bestseller ist, spricht
„Acht Berge“ auch das Kinopublikum an. Man kann dem bis in die Kinderrollen
hervorragend besetzten und mit dem leisen Folk-Soundtrack des schwedischen
Singer-Songwriters Daniel Norgren treffsicher introspektiv unterlegten Film
nur wünschen, dass er hierzulande ebenfalls auf offene Augen und Ohren
stößt. Über die Befindlichkeiten zweier europäischer Männer geht sein Thema
weit hinaus.
12 Jan 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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