# taz.de -- In Erwartung der Berlinale: Neustart auf der Baustelle | |
> Die Berlinale eröffnet am Donnerstag nach den Pandemiejahren wieder für | |
> viel Publikum. Manchmal erschwert ein Zaun den Weg zum Kino. | |
Bild: Der Berlinale Bär wird am Berlinale Palast angebracht | |
Heute Abend startet die 73. Berlinale. Mit Rebecca Miller hat man eine | |
verlässliche Regisseurin für den Eröffnungsfilm gewinnen können. Die | |
US-Amerikanerin war zuletzt [1][2016 mit der erfolgreichen Beziehungs- und | |
Kinderwunschkomödie „Maggies Plan“ in Berlin] zu Gast gewesen. Jetzt hat | |
sie „She Came to Me“ mitgebracht, wieder eine Komödie. Als Stars sind Peter | |
Dinklage, Anne Hathaway und Marisa Tomei von der Partie. Dinklage spielt | |
darin einen Komponisten in der Krise, der Film erzählt zudem von den | |
jüngeren sozialen Verwerfungen in den USA. Ein Auftakt, auf den man sich | |
schon mal freuen kann. | |
Für die Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek und den künstlerischen Leiter | |
Carlo Chatrian ist es ihre vierte gemeinsame Berlinale. Gleichwohl nennen | |
sie diese Ausgabe ihre erste „richtige“. Sie begannen 2020 zwar mit einem | |
„normalen“ Festival, doch unmittelbar nach dessen Ende änderte sich für s… | |
die Geschäftsordnung, pandemiebedingt. Seitdem mussten sie in den folgenden | |
Ausgaben in erster Linie auf die erschwerten Bedingungen für | |
Kulturveranstaltungen reagieren. Im vergangenen Jahr noch mit halbleeren | |
Kinosälen, jetzt kann wieder jeder Platz besetzt sein. | |
Ob es so richtig losgeht diesmal, bleibt dabei abzuwarten. Immer noch ist | |
einiges anders als früher, besonders das „Herz“ der Berlinale, der | |
Potsdamer Platz, macht aktuell sehr wenig her. Den Berlinale Palast für die | |
Premieren gibt es noch, doch ringsum ist vor allem viel Baustelle. | |
Am Sony Center klafft in der Mitte, wo bis 2019 unter der Erde die Säle des | |
Cinestar waren, ein großes Loch. Auf der anderen Seite ist die Alte | |
Potsdamer Straße zur Hälfte ebenfalls gesperrt für eine geplante | |
Fußgängerzone. Die ehemaligen Potsdamer Arkaden durchlaufen eine | |
Transformation zur Erlebniswelt „The Playce“, im Keller finden sich ein | |
paar Fressbuden, viel Leben bringt das nicht. Und zur Zeit ist sogar das | |
Cinemaxx am Platz eine Baustelle, die lediglich für Pressevorführungen | |
genutzt wird. Dem Publikum bleibt immerhin das Arsenal mit dem Programm des | |
„Forums“. | |
## Abenteuer der Berliner Topografie | |
Als wäre das noch nicht genug, scheidet dieses Jahr der | |
Friedrichstadt-Palast aus, er war traditionell der Ort für die Berlinale | |
Specials, zu denen ein Teil der Stars anreist. Die müssen jetzt zur Verti | |
Music Hall, einer „Multifunktionshalle“ neben der Mercedes-Benz Arena, | |
einem Areal inmitten der Betongoldwüste des Investorenprojekts Mediaspree | |
entlang des Flussufers. | |
Einen „Neustart“ brauche die Berlinale, hatte Rissenbeek zur | |
Pressekonferenz Ende Januar angekündigt. Ob diese veränderte Topografie | |
dazu beiträgt, dass über die Berlinale hinaus wieder mehr Leute den Weg ins | |
Kino finden? | |
Das stärkste Argument für das Kino bleiben, ungeachtet allgegenwärtiger | |
Alternativen durch Streaming daheim oder unterwegs, die Kinos selbst. Denen | |
kann die Berlinale an bewährten Orten wie dem Zoopalast oder dem Delphi | |
erneut verstärkt Leben einhauchen mit dem Trubel, der sich in den kommenden | |
zehn Tagen einstellen dürfte. | |
Neben dem Aspekt, dass das gemeinsame Sitzen im dunklen Saal es zumindest | |
beschwerlicher macht, etwa während des Films einlaufende Nachrichten am | |
Telefon zu kontrollieren, ist es nach wie vor ein anderes Erlebnis, mit | |
sehr vielen anderen Leuten erwartungsvoll vor einem Kino zu stehen, als auf | |
dem Sofa zu sitzen und mit der Fernbedienung das Auswahlmenü eines | |
Streamingdiensts abzusuchen. Wenn die Berlinale diesen Unterschied in | |
positiver Hinsicht ins Gedächtnis rufen hilft, hat sie schon ziemlich viel | |
erreicht. | |
## Vertraute und neue Namen im Wettbewerb | |
Bei dem, was es auf der Berlinale im Kino zu sehen geben wird, zeigte sich | |
in den vergangenen Wochen der eine oder die andere verwundert. Als | |
„Berlinale Special“ stellt das Festival unter anderem [2][Todd Fields „T�… | |
vor, in dem Cate Blanchett eine Dirigentin an der Spitze der Berliner | |
Philharmoniker verkörpert]. | |
Toller Film, doch er hatte vergangenes Jahr seine Premiere im Wettbewerb | |
von Venedig. Dass er jetzt zwei Wochen vor dem bundesweiten Kinostart | |
hinzugezogen wurde, erweckt den Anschein, man wolle mit Blanchett noch | |
einen weiteren Weltstar präsentieren, da diese im Wettbewerb etwas fehlen. | |
Im Wettbewerb wiederum laufen 18 Filme, fünf davon, ein knappes Drittel, | |
ist deutsch. Das ist sehr viel an hiesiger Produktion. Vertraute Namen sie | |
alle, Margarethe von Trotta, Christian Petzold, Angela Schanelec, Christoph | |
Hochhäusler und Emily Atef treten für den Goldenen Bären an. Doch muss man | |
hinterher beurteilen, ob ihre Beiträge ausnahmslos zu Recht ihren Weg in | |
die Auswahl gefunden haben. | |
Umgekehrt ist ein Großteil der übrigen Namen neu im Wettbewerb, die | |
Mexikanerin Lila Avilés etwa, die in „Totém“ eine Familiengeschichte | |
erzählt, der italienische Regisseur Giovanni Abbruzzese, der in „Disco Boy“ | |
als Hauptdarsteller Franz Rogowski einen Fremdenlegionär spielen lässt, | |
oder der japanische Regisseur, der mit „Suzume“ einen von zwei | |
Animationsfilmen vorstellt. Der andere, „Art College 1994“, stammt vom | |
chinesischen Regisseur Liu Jian, er war 2017 mit „Have a Nice Day“ schon | |
einmal im Wettbewerb vorstellig. | |
## Schwerpunkte Ukraine und Iran | |
„Die Realität ist zurück“, hatte Chatrian die Auswahl kommentiert. Was | |
nicht allein für den Wettbewerb gilt, sondern ebenso für das restliche | |
Programm. Die Realität ist dabei insbesondere die Lage im Iran und in der | |
Ukraine. Beiden Ländern sind Schwerpunkte gewidmet, über verschiedene | |
Sektionen verteilen sich die Filme, ausgenommen der Wettbewerb. | |
Als Berlinale Special stellt der US-amerikanische Schauspieler Sean Penn | |
seinen zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gedrehten | |
Dokumentarfilm „Superpower“ vor. Das „Forum“ präsentiert den Film „In | |
Ukraine“ von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski, die den Alltag des Landes im | |
Krieg beobachteten. Im „Panorama“ geht Roman Liubyi mit „Iron Butterflies… | |
dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 über dem Osten der Ukraine | |
durch eine russische Luftabwehrrakete im Juli 2014 nach. | |
Und in der „Perspektive deutsches Kino“, die zum ersten Mal von der | |
taz-Autorin Jenni Zylka geleitet wird, hat die Filmemacherin Steffi | |
Niederzoll den Fall der iranischen Studentin [3][Reyhaneh Jabbari] | |
rekonstruiert, die nach sieben Jahren im Gefängnis wegen Mordes gehängt | |
wurde, weil sie sich in Notwehr gegen eine Vergewaltigung verteidigt hatte. | |
## Die Wirklichkeit beschränkt sich nicht auf zwei Staaten | |
Die Wirklichkeit beschränkt sich verständlicherweise nicht auf diese beiden | |
Staaten. Einen historischen Gerichtsprozess aus Südamerika dokumentiert „El | |
juicio“ von Ulises de la Orden im Forum. Die Verhandlungen gegen die | |
argentinische Junta nach dem Ende der Militärdiktatur aus dem Jahr gab es | |
vergangenes Jahr im [4][Spielfilm „Argentinien, 1985“] zu sehen. Hier | |
bilden ausschließlich die Videoaufnahmen aus dem Gerichtssaal das Material, | |
von 530 auf drei Stunden verdichtet. | |
Bei den Spielfilmen im „Panorama“ hingegen gibt es unter anderem von İlker | |
Çatak und Ira Sachs verschiedene Einblicke in die Widrigkeiten des | |
Alltaglebens. In Çataks „Das Lehrerzimmer“ muss sich Leonie Benesch als | |
Klassenlehrerin behaupten, bei Sachs gibt Franz Rogowski einen | |
Filmregisseur im polyamourösen Gefühlschaos. | |
Seit 2020 gehört zusätzlich die Sektion „Encounters“ zum Programm der | |
Berlinale, ein paralleler Wettbewerb neben dem Bären-Reigen. Auch dieses | |
Jahr sind formal eigenwillige Filme etwa vom belgischen Regisseur Bas | |
Devos, der kurdisch-deutschen Filmemacherin Ayşe Polat, ihrer finnischen | |
Kollegin Tia Kouvo oder dem sehr produktiven südkoreanischen Regisseur Hong | |
Sangsoo zu erwarten. | |
Was weiter Fragen aufwirft, ist das Verhältnis dieser Sektion zum Forum, in | |
diesem Jahr zum letzten Mal unter der Leitung der früheren | |
taz-Filmredakteurin Cristina Nord. Vom Ansatz her stehen beide Sektionen | |
etwas in Konkurrenz. Belebt diese? Oder ist auch hier womöglich eine Art | |
Neustart geplant? | |
16 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Rebecca-Miller-ueber-Musik-und-Milieu/!5278519 | |
[2] /Cate-Blanchett-als-Dirigentin-in-Venedig/!5878665 | |
[3] /Notwehr-gegen-Vergewaltiger-im-Iran/!5031624 | |
[4] /Regisseur-ueber-Argentinien-1985/!5890753 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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