| # taz.de -- Dokumentarfilmer über Diktatur: „Die Justiz kann heilen“ | |
| > 1985 steht die argentinische Junta vor Gericht. Der Dokumentarfilm „El | |
| > juicio“ von Ulises de la Orden basiert auf Videomaterial aus dem Prozess. | |
| Bild: Nicht nur die Aussagen, auch Gestik und Mimik erzählen: Zeugin Myriam Le… | |
| Im April 1985 fand erstmals in Argentinien ein Prozess gegen führende | |
| Mitglieder der Militärjunta statt. Vor einem zivilen Gericht wurden Emilio | |
| Massera, Jorge Rafael Videla und sieben weitere Militärs des | |
| Staatsterrorismus, der Freiheitsberaubung, Entführung und des Mordes | |
| angeklagt. Während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 | |
| verschwanden mehr als 30.000 Personen. Das staatliche argentinische | |
| Fernsehen dokumentierte die Gerichtsverhandlung in 530 Stunden auf | |
| Videomaterial. | |
| taz: Herr de la Orden, Ihr Dokumentarfilm „El juicio“ (Der Prozess) handelt | |
| von dem ersten Prozess in Argentinien gegen Verantwortliche der | |
| Militärdiktatur. Dafür verwenden Sie ausschließlich die historischen | |
| Videoaufzeichnungen aus dem Gerichtssaal. Wie entstand die Idee zu dem | |
| Filmprojekt? Was ist die Besonderheit dieses Materials? | |
| Ulises de la Orden: Der Prozess gegen die Militärjunta beginnt 1985, nur | |
| zwei Jahre nachdem wir in Argentinien die Demokratie wiedererlangt haben, | |
| in einer politisch und wirtschaftlich äußerst schwierigen Situation. Drei | |
| Jahre nach dem Falklandkrieg war das Land wirtschaftlich und international | |
| isoliert. Aber politisch gab es einen Aufschwung. Entscheidender war, die | |
| Demokratie wieder hergestellt zu haben. Dieser juristische Prozess war das | |
| erste Mal, dass es uns Argentiniern gelang, die Befehlshaber einer Diktatur | |
| vor Gericht zu stellen – in diesem Fall der schrecklichsten Diktatur in der | |
| Geschichte Argentiniens. | |
| In einem früheren Dokumentarfilm porträtierten Sie den Alltag an einer | |
| freien Schule im Tigredelta nahe Buenos Aires. Ein großer Kontrast zu | |
| Ihrem jüngsten Beitrag auf der Berlinale. | |
| Vor „El juicio“ hatte ich mich nie mit der Diktatur beschäftigt. Ich habe | |
| mit Themen gearbeitet, die politischer Natur waren und einen sozialen Blick | |
| hatten. Ich suche nach Geschichten, die unerzählt sind. Gleichzeitig war es | |
| für mich eine Aufgabe, die anstand. | |
| Was hat Sie als Filmemacher an den Archivaufnahmen gereizt? | |
| Es handelt sich um 530 Stunden aufgezeichnetes Material. Neben den | |
| Zeugenaussagen, die sehr eindrücklich sind, gibt es darin etwas, das dem | |
| audiovisuellen Medium eigen ist. Man sieht die Gesten, vor allem die der | |
| Richter und der Staatsanwälte, in einigen Momenten auch die der Verteidiger | |
| und der Militärs. Das ist kein Text, aber das Bild ist so kraftvoll und | |
| eloquent, dass es umso mehr bedeutet. | |
| Achtzehn Kapitel gliedern den fast dreistündigen Dokumentarfilm. Wie hat | |
| sich diese Struktur aus dem umfangreichen Filmmaterial entwickelt? | |
| Am Anfang haben wir neun Monate lang gesichtet. Das war extrem produktiv. | |
| Dabei entstand ein erstes Drehbuch. Die Idee war es, nicht nach der | |
| Chronologie des Prozesses und nicht nach Fällen, sondern nach Themen in | |
| Kapiteln zu arbeiten. | |
| Die historischen Aufnahmen zeigen die Zeugen mit dem Rücken zur Kamera, nur | |
| selten sind ihre Gesichter im Profil zu sehen. Ihre Schilderungen von | |
| Folter, Vergewaltigung, Sadismus und Plünderung bilden das Zentrum der | |
| Anklage und geben den Tausenden Opfern eine Stimme. Der Staatsanwalt nennt | |
| die Anhörung einen „stetigen Abstieg in die Hölle“. Die Dramaturgie von �… | |
| juicio“ verstärkt diesen Eindruck. | |
| Dabei geht im Grunde um die Schlüsselthemen, die in dem Prozess zur Sprache | |
| kamen und die es den Richtern ermöglichten, eine Verurteilung zu erreichen. | |
| Und die Justiz hat eindeutig festgestellt, dass es kein Krieg war, dass es | |
| sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, die von den | |
| argentinischen Streitkräften gegen die argentinische Bevölkerung begangen | |
| wurden. | |
| Im Jahr 1985 wurde der Prozess im argentinischen Fernsehen nicht gezeigt? | |
| Das Material blieb größtenteils unveröffentlicht. Während der | |
| Verhandlungsdauer wurden nur drei Minuten pro Tag und ohne Ton | |
| ausgestrahlt. | |
| Nur Bilder wurden gezeigt? | |
| Damals versuchte die Verteidigung, den Prozess um jeden Preis zu | |
| verhindern. Angesichts des Risikos, dass die Anwälte diese | |
| Fernsehübertragung als Vorverhandlung bewerten könnten, um den Prozess zu | |
| unterbrechen, beschlossen die Richter, nur Ausschnitte ohne Ton zu zeigen. | |
| Welche politischen Folgen hatte der Prozess? | |
| Unmittelbar nach dem Prozess kam es 1986 zu Putschversuchen des Militärs, | |
| die zwar nicht erfolgreich waren, aber es hätten sein können. Alfonsín, der | |
| damalige Präsident, erließ danach zwei Gesetze, die eine weitere | |
| juristische Strafverfolgung fast unmöglich machten – das | |
| Schlussstrichgesetz (Ley de Punto Final) und das Gesetz über die | |
| Gehorsamspflicht (Ley de Obediencia Debida). Und in den 1990er Jahren | |
| begnadigte Menem die letzten noch inhaftierten Militärs, alle waren frei. | |
| Danach gab es 20 Jahre Straflosigkeit, bis die Regierung Kirchner die | |
| Prozesse wieder aufnahm. | |
| 1985 waren Sie Teenager. Erinnern Sie sich an die Ereignisse? | |
| Nein, damals war ich knapp 15 Jahre alt und lebte in den USA. Aber ich habe | |
| Erinnerungen an den Falklandkrieg 1982. Im Jahr 1983 begannen dann die | |
| Proteste, die ein Ende der Diktatur und Wahlen forderten. Zu dieser Zeit | |
| lebte ich in Argentinien und ich ging mit meinem Vater zu all diesen | |
| Demonstrationen. Diesen ganzen politischen Frühling, der zu den Wahlen und | |
| der Regierung Alfonsín führt, habe ich hautnah miterlebt. | |
| Bereits 1984 war der berühmte Nunca-más-Bericht über das Verschwindenlassen | |
| von Personen erschienen. Die Veröffentlichung hat die Eröffnung des | |
| Prozesses sicherlich befördert. | |
| Ja, aber vor Gericht hatte der Bericht keine Relevanz, denn nur die | |
| Zeugenaussagen vor Gericht hatten juristisch einen Wert. Deshalb ist es | |
| auch sehr wichtig, die Auswirkungen dieser Zeugenaussagen auf die | |
| Gesellschaft zu berücksichtigen. Alles wurde vor Gericht gesagt, alles | |
| wurde in diesem Prozess gesagt. Es wurde nichts ungesagt gelassen. Und die | |
| Stärke dieser Zeugenaussagen ist, dass sie Beweise sind, sie wurden vor | |
| Gericht unter Eid gesagt. Jede Zeugenaussage ist ein Beweis. | |
| Im vergangenen Jahr kam auch der Spielfilm „Argentina 1985“ von Santiago | |
| Mitre in die Kinos mit Ricardo Darín in der Rolle des Staatsanwalts | |
| Strassera. | |
| Im Jahr 2013 hatte ich mit dem Projekt begonnen und irgendwann erfuhr ich, | |
| dass sie diesen Spielfilm drehen. Ich denke „El juicio“ und „Argentina | |
| 1985“ sind zwei völlig unterschiedliche Filme, die sich gegenseitig | |
| ergänzen. [1][Es ist gut, dass „Argentinien 1985“ dieses Ereignis bekannt | |
| gemacht hat.] Heute ist es nicht nur ein Gesprächsthema für alle | |
| Argentinier, sondern die ganze Welt weiß, dass wir diesen Prozess | |
| durchgeführt haben. | |
| Auch die Dokumentaraufnahmen in „El juicio“ zeigen Julio César Strassera in | |
| einer dramatischen Rolle. Wer war dieser Staatsanwalt? | |
| Strassera ist leider schon vor einigen Jahren gestorben. Er war ein Beamter | |
| in der Justiz, der schon vor und auch während der Diktatur dort gearbeitet | |
| hat. Den Prozess hat man ihm übertragen. Es war eine Aufgabe, nach der er | |
| nicht gesucht hatte, und er wurde ihr gerecht. Er wurde der Aufgabe nicht | |
| nur gerecht, sondern er bewältigte sie hervorragend. In Argentinien hatte | |
| es zuvor noch nie eine mündliche Verhandlung gegeben. Es hatte noch nie | |
| einen Staatsanwalt wie ihn gegeben, aber er war ein ganz gewöhnlicher Mann. | |
| In seinem bewegenden Schlussplädoyer spricht Strassera von einer | |
| Rückeroberung der Zivilisation. | |
| Zu Moreno Campo, dem stellvertretenden Staatsanwalt, der im Gerichtssaal | |
| neben Strassera zu sehen ist, habe ich eine enge Verbindung. Er sagt, die | |
| Justiz hat die Fähigkeit, das Schicksal zu ändern und zu heilen. Nicht | |
| sofort und nicht auf perfekte Weise. Dieser Prozess war nicht perfekt. | |
| Danach folgte das Amnestiegesetz. Wir haben bereits 40 Jahre | |
| Gerichtsverfahren hinter uns. Aber vor diesem Prozess gegen die Junta | |
| hatten wir acht Militärdiktaturen im 20. Jahrhundert. Für jedes politische | |
| Problem, für jedes wirtschaftliche und soziale Problem war die | |
| argentinische Lösung ein Staatsstreich. Nach diesem Prozess änderte sich | |
| unser Schicksal. Wir hatten nie wieder einen Staatsstreich. Wir haben | |
| ständig wiederkehrende Wirtschaftskrisen, politische Krisen, soziale | |
| Krisen. Aber unsere Demokratie ist solide. | |
| 22 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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