# taz.de -- Argentinische Militärdiktatur: Schatten der Vergangenheit | |
> Während der argentinischen Militärdiktatur soll Luis Kyburg an Verbrechen | |
> beteiligt gewesen sein. Heute lebt er in Berlin. Wird er noch angeklagt? | |
Es war ein Samstagabend, der 31. Juli 1976. Andrés und seine Frau Virginia | |
waren zum Abendessen ausgegangen. Als sie mit ihrer einjährigen Tochter in | |
ihre Wohnung in der Küstenstadt Mar del Plata zurückkehrten, warteten dort | |
fünf Soldaten in Zivil auf sie. Andrés und Virginia mussten sich mit den | |
Händen gegen die Wand stellen. Es folgten Schläge, Fragen, eine | |
Durchsuchung. Nachdem sie dem Hausverwalter und seiner Frau ihre Tochter | |
übergeben hatten, wurden sie abgeführt. | |
Obwohl er mit einer Kapuze über dem Kopf auf dem Boden eines Wagens lag, | |
erkannte Andrés die Route. Die Abzweigung auf der Avenida Independencia, | |
ein leichter Anstieg, dann der steile Abstieg der Avenida Colón auf dem Weg | |
zum Strand. „Ich habe es in meinem Kopf verfolgt, als ob ich es sehen | |
könnte“, erzählt er heute in einem Gespräch mit der taz in der europäisch… | |
Stadt, in der er seit den späten 1970er Jahren lebt. | |
Mehr als ein Jahr waren Andrés und Virginia nach ihrer Festnahme in Haft. | |
Heute sind sie 71 Jahre alt, haben drei erwachsene Kinder und sind | |
Überlebende eines geheimen Gefangenenlagers, das während der | |
Militärdiktatur in Argentinien zwischen 1976 und 1983 im Marinestützpunkt | |
Mar del Plata betrieben wurde. Dort wurden Oppositionelle inhaftiert und | |
gefoltert, nach Schätzungen verschwanden etwa 300 Menschen spurlos, die | |
genaue Zahl ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen gehen davon | |
aus, dass der Militärdiktatur bis zu 30.000 Menschen zum Opfer fielen. | |
Andrés und Virginia heißen eigentlich anders. Als Zeugen sagten sie bereits | |
in mehreren Gerichtsverfahren über Gräueltaten aus, die in den | |
verschiedenen Gefängnissen, in denen sie inhaftiert waren, begangen wurden. | |
Heute, 46 Jahre später, ist Andrés auch Zeuge im Ermittlungsverfahren der | |
Berliner Staatsanwaltschaft gegen Luis Esteban Kyburg, einst Offizier des | |
Marinestützpunkts Mar del Plata und stellvertretender Kommandeur einer | |
Kampfschwimmereinheit. | |
Kyburg hat die argentinische und die deutsche Staatsbürgerschaft. Von der | |
argentinischen Justiz [1][wurde er lange mit einem internationalen | |
Haftbefehl] wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht. In | |
Argentinien droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. 2013 ist er mit 65 | |
Jahren nach Berlin geflüchtet. Ein großer, oft elegant gekleideter Mann. Er | |
zog nach Prenzlauer Berg, besuchte Deutschkurse der Volkshochschule, ging | |
Tango und Salsa tanzen. Wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft wird er | |
von Deutschland nicht an Argentinien ausgeliefert. | |
Beim Fall Kyburg geht es um eines der dunkelsten Kapitel der argentinischen | |
Geschichte. Am 24. März 1976 putschte eine Militärjunta gegen die | |
amtierende Präsidentin Isabel Martínez de Perón. Die Militärdiktatur zielte | |
nicht nur darauf ab, ein neoliberales System zu etablieren und die | |
organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen, sondern auch die „Subversion“ | |
zu besiegen. Alle, die sich für linke und fortschrittliche Ideen | |
engagierten oder nur damit sympathisierten, sollten eliminiert werden. | |
Nach ihrer Machtübernahme richteten die Militärs im ganzen Land geheime | |
Haftanstalten ein: Polizeistationen, öffentliche Gebäude und Armeegelände | |
wurden in eine Terrormaschine verwandelt. Tausende von Menschen wurden | |
entführt, gefoltert, ermordet oder verschwanden spurlos. In Gefangenschaft | |
geborene Babys wurden ihren Eltern weggenommen, wuchsen oft in Familien von | |
Militärangehörigen auf. | |
Im Dezember 1983 kehrte Argentinien zur Demokratie zurück. Als Erstes | |
wurden damals die Oberbefehlshaber der Streitkräfte vor Gericht gestellt. | |
Aber bald wurden Gesetze erlassen, die eine juristische Aufarbeitung | |
verlangsamten, später gab es Begnadigungen. Erst Präsident Néstor Kirchner | |
hob diese 20 Jahre nach Ende der Militärdiktatur wieder auf. Alle | |
Untersuchungen wurden wieder aufgenommen. In Argentinien sind bisher 1.058 | |
Personen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden. 22 | |
Angeklagte sind vor der Justiz ins Ausland geflohen. So wie Luis Esteban | |
Kyburg. | |
In vier Prozessen wurden die Grausamkeiten dokumentiert, die im | |
Militärstützpunkt in Mar del Plata während der Diktatur begangen wurden. | |
Dank der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen und den Anwälten der | |
Kläger konnte die Justiz das Organigramm des Stützpunkts und die | |
Zuständigkeit aller Militärangehörigen, die in jenen Jahren dort dienten, | |
rekonstruieren. | |
## Ein Organigramm des Terrors | |
Aus dem Organigramm, in dem Kyburgs Name zum ersten Mal auftaucht, geht | |
hervor, dass er einen hohen Rang innerhalb der Task Force 6 innehatte, | |
einer Gruppe von Einheiten der Marine, zu der auch die Agrupación de Buzos | |
Tácticos gehörte, eine Kampfschwimmereinheit, deren stellvertretender | |
Kommandant er zwischen Februar 1976 und Januar 1977 war – im Zeitraum der | |
größten Gewalt. Alle Mitglieder der Task Force 6 wurden vor Gericht | |
gestellt, weil sie Entführungen, Folterungen und Morde angeordnet oder | |
sogar persönlich ausgeführt haben sollen. | |
Im Juni 2013 wurde Kyburg von der argentinischen Staatsanwaltschaft | |
vorgeladen. Er erschien aber nicht. Bereits 2012 hatte er die deutsche | |
Staatsbürgerschaft beantragt, die ihm aufgrund seiner Abstammung zustand. | |
Über die Vereinigten Staaten reiste er nach Berlin, wo er sich in | |
Sicherheit wähnte. Und er hatte nicht ganz unrecht. | |
Kyburg lebte lange unauffällig in einer Wohnung in Prenzlauer Berg, dem | |
Bezirk, in dem er heute nach mehreren Umzügen immer noch wohnen soll. In | |
den ersten Monaten besuchte er einen Deutschkurs und schloss Freundschaft | |
mit einer Gruppe junger Leute. Abends ging er mit seiner Frau zum | |
Tangotanzen in ein Lokal, in dem ihm später der Zutritt verweigert wurde, | |
als seine Vergangenheit bekannt wurde. | |
„Er war das Leben auf der Party und hatte eine großartige Art, mit Menschen | |
in Kontakt zu treten. Er hatte mehrere Freundeskreise, er war ein sehr | |
geselliger Mensch“, erinnert sich im Gespräch mit der taz eine Freundin aus | |
Kyburgs ersten Jahren in Berlin, die anonym bleiben möchte. | |
Obwohl seit Juli 2013 ein internationaler Haftbefehl gegen Kyburg vorlag, | |
machte er keine Anstalten, sich zu verstecken. „Er stellte sich immer mit | |
seinem richtigen Namen vor, erzählte uns, dass er aus Argentinien stamme, | |
und sagte sogar, dass er bei der Marine gewesen sei. Keiner von uns war | |
Argentinier, und niemand kam auf die Idee, dass er während der Diktatur | |
beim Militär gewesen sein könnte“, erzählt die frühere Freundin. | |
Als sie von Kyburgs Vergangenheit erfuhr, sei das für sie ein Schock | |
gewesen. Mit der Zeit habe sie über einige Aussagen nachgedacht, die nun in | |
einem anderen Licht erschienen. „Er hatte teilweise sehr seltsame | |
politische Ansichten über den Zweiten Weltkrieg. Er war auch ein sehr | |
aggressiver Kritiker von Cristina Kirchner“, sagt sie. „Aber wir dachten | |
alle, dass dies mit seinem Alter zusammenhängt, wir haben ihn nicht allzu | |
sehr damit konfrontiert. Wir haben uns so verhalten, wie wenn die | |
Großmutter etwas Verwerfliches sagt. Er war unser Freund.“ | |
2014 war über die argentinische Botschaft in Berlin ein anonymer Hinweis | |
über Kyburgs Aufenthaltsort bei Interpol eingegangen. Daher bat die | |
argentinische Justiz im folgenden Jahr Deutschland um die Auslieferung. | |
Einige Wochen später teilte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft in einem | |
Schreiben mit, dass die deutsche Regierung die Überstellung des ehemaligen | |
Offiziers formell ablehne. Deutschland liefert eigene Staatsbürger | |
grundsätzlich nicht an Staaten außerhalb der EU aus. | |
2016 wurden in Argentinien zwölf Militäroffiziere in jenem Fall verurteilt, | |
in dem auch Kyburg vorgeladen gewesen war. Neun von ihnen erhielten | |
lebenslange Haftstrafen, drei weitere wurden für Verbrechen an 123 Opfern | |
zu jeweils acht, zehn und zwölf Jahren Haft verurteilt. Luis Kyburg war der | |
große Abwesende im Prozess – und der einzige Offizier, der in dem Fall | |
nicht bestraft wurde. | |
Mit der Entscheidung, ihn nicht auszuliefern, war der Fall Kyburg für die | |
deutsche Justiz aber nicht beendet. „Sie ist verpflichtet, gegen ihn zu | |
ermitteln“, sagt Silvia Rojas Castro, Rechtsberaterin beim [2][European | |
Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)], einer in | |
Berlin-Kreuzberg ansässigen Organisation, die von dem bekannten | |
Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck gegründet wurde. Kaleck vertritt nun | |
die Opfer in dem Fall. | |
Die Liste der Opfer umfasst Überlebende wie Andrés und Virginia – deren | |
Identität auf Wunsch der Opferanwälte vertraulich bleibt, um einen | |
möglichen Prozess nicht zu gefährden –, aber auch Inhaftierte, die bis | |
heute vermisst werden. Darunter sind Omar Marocchi und Susana Haydeé Valor. | |
Die beiden waren ein Paar. Und sie waren Mitglieder der peronistischen | |
Guerillaorganisation Montoneros. Wegen ihrer politischen Tätigkeit wurden | |
sie in ihrer Heimatstadt Tandil in der Nähe von Buenos Aires bedroht. | |
Anfang 1976 zogen sie nach Mar del Plata. „Sie dachten, dass sie durch | |
einen Umzug in eine andere Stadt sicher wären. Das war offensichtlich | |
falsch, es war sehr riskant“, sagt Anahí Marocchi, Omar Marocchis ältere | |
Schwester, im Gespräch mit der taz. | |
Am 18. September 1976 brach ein Sonderkommando der Marine in ihr Haus ein, | |
entführte sie und brachte sie in den Marinestützpunkt. Aus den Aussagen von | |
Familienmitgliedern geht hervor, dass Susana Valor damals im dritten Monat | |
schwanger war. Mit den Zeugenaussagen von Überlebenden wie Andrés und | |
Virginia konnte rekonstruiert werden, was in dem Militärstützpunkt mit den | |
Gefangenen in der Regel geschah. | |
„Als wir ankamen, legten sie uns Ketten an Händen und Füßen an, trugen uns | |
eine Treppe hinauf, legten uns auf Matratzen auf den Boden und sagten | |
nichts weiter“, erinnert sich Andrés. „Den ganzen Tag saßen wir an der | |
Wand, unsere Füße schwollen an und unsere Beine. Wir aßen von dreckigen | |
Metalltabletts, und das Einzige, was man tun konnte, war, auf die Toilette | |
zu gehen.“ | |
## Der Folterraum war im Keller | |
Im Keller des Marinestützpunktes befand sich der Folterraum. „Es war ein | |
etwa fünf mal acht Meter großer Raum mit einem Metallbett und einem Podest, | |
auf dem man an Händen und Füßen gefesselt und mit Stromstößen verhört | |
wurde“, erinnert sich Andrés. | |
„Die Häufigkeit, mit der sie dich mitnahmen, hing davon ab, welche | |
Informationen sie bei dir vermuteten – und ob sie die während der | |
Folterungen erhielten. Das hing im Wesentlichen vom Grad des politischen | |
Engagements ab“, sagt Andrés. Er und seine Frau waren Mitglieder einer | |
Universitätsorganisation. Diese sei nicht so wichtig gewesen. Das, so | |
glaubt er, könnte sie vor einem tödlichen Schicksal bewahrt haben. | |
„Virginia und ich wurden zweimal getrennt voneinander in den Folterraum | |
gebracht: Sie folterten uns beide mit Elektroschocks, und dann betatschte | |
einer der Beamten sie und versuchte, sie zu missbrauchen.“ | |
An jeder Foltersitzung, erzählt Andrés, waren mindestens drei Personen | |
beteiligt: Einer übernahm die Rolle des Befragers, die anderen | |
kontrollierten die Technik. „Ich kann nicht sagen, wie lange die Verhöre | |
gedauert haben, weil man die Zeit völlig aus den Augen verlor“, sagt er. | |
„In diesen Fällen gab es kein besser oder schlechter. Sobald sie dich mit | |
dem Viehtreiber anfassten, war es sehr schlimm. Aber unsere Erfahrungen | |
waren sicher nicht die schlimmsten, viele Menschen wurden während der | |
Folter getötet.“ | |
In ihren Zellen konnten die Häftlinge nicht miteinander sprechen. Aber in | |
ihrem Weinen, in ihren Schmerzenslauten, in ihren Bitten, zur Toilette | |
gehen zu dürfen, erkannten sie manchmal die Stimmen von Menschen, die sie | |
kannten. | |
Andrés und Virginia hatten trotz allem Glück. Beide wurden nach einiger | |
Zeit in zwei andere Gefangenenzentren der Provinz Buenos Aires und dann in | |
ein gemeinsames Gefängnis verlegt, wo ihre Inhaftierung offiziell gemacht, | |
also „legalisiert“ wurde. Über Andrés’ Vater, der Anwalt war, beantragt… | |
sie 1977, das Land mit ihrer kleinen Tochter zu verlassen. | |
Über das Schicksal von Omar Marrocchi und Susana Valor sind bis heute keine | |
weiteren Informationen bekannt. | |
Während einer Videokonferenz von Menschenrechtsaktivisten 2017 erwähnte | |
eine Anwältin, dass Luis Kyburg als flüchtiger Ex-Militär in Europa lebt. | |
[3][Zwei Aktivisten und ein argentinischer Journalist begannen daraufhin | |
eine Recherche, machten ihn in Berlin aus] und wandten sich an die | |
unabhängige Menschenrechtsorganisation ECCHR. | |
So lernten sie Simon Rau kennen, einen jungen deutschen Anwalt, der 2019 | |
verstarb, zuvor aber eine Schlüsselrolle in dem juristischen Verfahren | |
spielte, das Kyburg heute ins Gefängnis bringen könnte. Rau untersuchte den | |
Fall und fand einen juristischen Weg, ihn vor Gericht bringen zu können: | |
Mit einer Anzeige, die nur von einem direkten Verwandten eines Opfers | |
eingereicht werden konnte, könnte Kyburg in Deutschland für die im | |
Marinestützpunkt begangenen Verbrechen belangt werden. | |
Kaleck und Rau nahmen Kontakt zu Anahí Marocchi auf, der Schwester von | |
Omar, der im Marinestützpunkt verschwand. „Wir haben eine formelle Klage | |
eingereicht, um Anahí als Familienmitglied zu vertreten, was uns das Recht | |
gibt, die Akten zu lesen“, sagt Wolfgang Kaleck. „Vom ersten Moment an nahm | |
sich die Staatsanwaltschaft des Falls an und begann ihn ernsthaft zu | |
untersuchen. Das ist nicht immer so.“ | |
Das Verfahren ist komplex, weil Kyburg nicht wegen Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit angeklagt werden kann, wie es in Argentinien der Fall wäre. | |
Deutschland hat zwar ein völkerrechtliches Strafgesetzbuch, das seit 2002 | |
in Kraft ist, aber nicht rückwirkend gilt. Aus diesem Grund ermittelt | |
[4][Dirk Feuerberg] von der Berliner Staatsanwaltschaft gegen Kyburg wegen | |
Mordes, des einzigen Verbrechens, das infrage kommt und noch nicht verjährt | |
ist. | |
Da es aber keine Leiche gibt, ist die Beweisführung schwierig. „Wir müssen | |
die Strafverfolgung näher an die Logik der Diktatur in Argentinien | |
heranführen“, fordert Wolfgang Kaleck, der seit den 1990er Jahren in | |
Argentinien und Deutschland in Anwaltsteams in Fällen der Militärdiktatur | |
gearbeitet hat. „Schon damals sagten uns Anwälte und Angehörige, dass wir | |
das Verschwindenlassen nicht als Mord behandeln können, aber das ist die | |
einzige Alternative, damit der Fall bestehen bleibt.“ | |
Im Juli 2020, als Kyburgs Fall öffentlich wurde, fing [5][ein Reporter von | |
Bild-TV mit einem Kamerateam] ihn in Berlin auf der Straße ab und befragte | |
ihn zu den Menschen, die während der Diktatur in Argentinien verschwunden | |
waren – und zu seiner Verantwortung. Er warte darauf, ob in Deutschland ein | |
Prozess gegen ihn eröffnet werde, sagte er in gebrochenem Deutsch. In | |
Argentinien werde er sich nicht dem Gericht stellen. Er sei unschuldig. | |
Die Pandemie bremste 2020 die Ermittlungen, weil die Staatsanwaltschaft | |
ursprünglich nach Argentinien reisen wollte, um Zeugenaussagen persönlich | |
aufzunehmen. Nach langer Verzögerung wurde beschlossen, die | |
Familienmitglieder von Opfern und Überlebende wie Andrés per Videostream zu | |
befragen. 2022 wurden die letzten Befragungen abgeschlossen. | |
Die Berliner Staatsanwaltschaft muss sich nun entscheiden: Entweder sie | |
erhebt formell Anklage gegen Kyburg, oder sie stellt die Ermittlungen ein, | |
ohne ihn zu belangen. Ein Prozess könnte zwischen sechs Monaten und zwei | |
Jahren dauern. Würde er schuldig gesprochen, könnte Kyburg zu einer | |
lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden. In Anbetracht seines Alters und | |
seines Gesundheitszustands würde er womöglich zu einem Hausarrest | |
verurteilt werden. | |
Was den Angehörigen bis dahin bleibt, ist zu warten. Im Juli dieses Jahres | |
besuchte der argentinische Staatssekretär für Menschenrechte Horacio | |
Pietragalla Corti Deutschland und traf sich sowohl mit dem ermittelnden | |
Staatsanwalt Feuerberg als auch mit den ECCHR-Anwälten, um das Interesse | |
der argentinischen Regierung an dem Fall zu unterstreichen. | |
„Deutschland verurteilt immer noch Menschen, die während des | |
Nationalsozialismus Verbrechen begangen haben. Wenn man wirklich hinter | |
dieser Idee steht, dann habe ich Hoffnung“, sagt Andrés. „Ich würde ihn | |
gerne verurteilt sehen, aber gegen ihn zu ermitteln ist bereits ein Schritt | |
nach vorn. Es ist wichtig, dass nicht die Erinnerung an die Sieger in die | |
Geschichte eingeht, sondern die an die Besiegten.“ | |
Anahí Marocchi, die Schwester des verschwundenen Omar Marocchi, stimmt zu: | |
„Wenn wir diese Straflosigkeit nicht abschaffen, kann sich so etwas | |
wiederholen. Es scheint unglaublich, dass wir immer noch erklären müssen, | |
dass es hier nicht um Rache geht. Wir wollen nur Gerechtigkeit.“ Dann | |
bricht ihre Stimme, es ist die Erinnerung an Omar: „Diejenigen von uns, die | |
geliebte Menschen verloren haben, können nicht trauern und haben einen | |
großen Schmerz. Ich habe das Gefühl, dass jeder Schritt der Aufarbeitung | |
mir hilft, die letzten Momente meines Bruders und seiner Freundin Susana zu | |
rekonstruieren. Und dass mir das erlaubt, sie zu begleiten“. | |
27 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.argentina.gob.ar/persona-buscada/kyburg-0 | |
[2] https://www.ecchr.eu/ | |
[3] /Ermittlungen-gegen-mutmasslichen-Folterer/!5709539 | |
[4] https://www.berlin.de/generalstaatsanwaltschaft/leitung/behoerdenleitungsve… | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=02mGt8AVtyo | |
## AUTOREN | |
Pilar Safatle | |
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