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# taz.de -- Diktatur in Argentinien: Geburtsort: Morón, Name: Unbekannt
> Während Argentiniens Militärdiktatur blühte der Handel mit Säuglingen.
> Mit 22 erfährt Carina Rosavik, dass auch sie betroffen ist – und macht
> sich auf die Suche nach ihrer Herkunft.
Bild: Carina Rosavik (rechts) und Carolina Sangiorgis wussten bis 2022 nichts v…
Mit dem Klingeln an der Tür nimmt Carina Rosaviks Leben eine Wende. Zwei
Männer stehen davor, einer fragt: „Haben Sie Zweifel an Ihrer Herkunft?“ Es
ist das Jahr 1999, im September, Rosaviks Mutter ist vor zwei Wochen an
einem Schlaganfall verstorben. Und ja, Carina Rosavik hat Zweifel daran,
wer ihre biologischen Eltern sind, große sogar. Sie bittet die beiden
Männer herein, in das Einfamilienhaus im argentinischen Córdoba.
Rosavik, damals 22 Jahre alt, und die Männer setzen sich an diesem Tag ins
Wohnzimmer, so erinnert sie sich. Die beiden stellen sich als Vertreter von
Menschenrechtsorganisationen vor. Sie haben sich der Suche von Nachkommen
von Menschen verschrieben, die während der Militärdiktatur Argentiniens
zwischen 1976 und 1983 ermordet wurden. Menschen, die schwanger oder mit
Säuglingen oder Kleinkindern inhaftiert wurden und deren Kinder die
Militärs verschenkten oder verkauften. Die Kinder wuchsen bei fremden
Familien auf, oft ohne jemals davon zu erfahren.
Carina Rosavik weiß, dass sie 1976 gleich zu Beginn der Diktatur geboren
wurde. Sie hat auch von den Verbrechen des Militärs gehört, von den
zehntausenden Entführungen, der Folter und den sogenannten
[1][Todesflügen], bei denen politisch Verfolgte sediert und anschließend
über dem Fluss Rio de la Plata oder vor der Küste Argentiniens aus dem
Flugzeug in den Tod gestürzt wurden. Insgesamt gehen
Menschenrechtsorganisationen von 30.000 Verschwundenen aus. Es ist die
Geschichte des Landes, aus dem sie kommt, aber sie spielt zu einer Zeit, an
die sich Carina Rosavik nicht erinnert, abstrakt und weit weg.
Doch an diesem Nachmittag tragen die beiden Männer die Geschichte zu ihr.
In das Wohnzimmer ihres vermeintlichen Elternhauses. Mit einer Akte,
hunderte Seiten dick.
In der Akte ist ihr Leben in Dokumenten festgehalten: eine rätselhafte
Geburtsurkunde, Prozessunterlagen, ein medizinischer Bericht,
Laborgutachten, auf denen ihr Name steht.
Es sind Belege für ein von Rosaviks Eltern streng gehütetes Geheimnis.
Belege, die Gewissheiten mit sich bringen: Dass ihre Mutter gelogen hat
darüber, wo Carina Rosavik geboren wurde und von wem. Dass die diffuse
Suche nach der Wahrheit, die ihr bisheriges Leben prägte, einen Sinn hatte
und kein Gespenst war. Was Rosavik zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß,
ist: Dass bald auch jemand nach ihr suchen wird.
Über 20 Jahre später, im September 2022, steht Carina Rosavik vor einem
Wandgemälde in Córdoba. Auf der bunt angemalten Wand sind ein kleines
Mädchen und ein Schriftzug abgebildet: „Mama buscame“ – „Mama suche mi…
Carina Rosavik, eine Frau mit wachem Blick, ist inzwischen 47 Jahre alt.
Das Bild, es könnte von ihr stammen. Drei Stunden lang erzählt sie der taz
ihre Geschichte, vor dem Wandbild, später in einem Café, dann bei einem
Spaziergang durch die Stadt. Sie spricht oft schnell, fast gehetzt. Selbst
wenn sie von Dingen erzählt, die lange zurückliegen, klingt es, als wären
sie gestern passiert.
Carina Rosavik kommt am 12. Dezember 1976 zur Welt. Als Kind lebt sie mit
der Frau und dem Mann, die sie als ihre Eltern kennenlernt, und einem
jüngeren Bruder in einem Einfamilienhaus in Córdoba. Der Vater arbeitet als
Mechaniker beim Militär, die Mutter betreibt einen kleinen Laden für
Haushaltsgeräte. Als Carina in die Schule kommt, fällt ihr zum ersten Mal
auf, dass etwas nicht passt. „Als meine Eltern mich einmal dort abholten,
hat ein anderes Kind gefragt, ob das meine Großeltern sind.“ Ihre Mutter
ist damals um die 50, ihr Vater um die 60 Jahre alt.
Als sie in die Pubertät kommt, bemerkt sie noch etwas: Sie und ihr Bruder
sehen sich nicht ähnlich, und die beiden Geschwister ähneln auch ihren
Eltern nicht. Aber so etwas gibt es auch in anderen Familien, also denkt
sie nicht weiter darüber nach. Mit 15 nimmt ihre Mutter sie mit zum Arzt,
obwohl sie sich gar nicht krank fühlt. Fünf Röhrchen Blut habe man ihr dort
abgenommen: „Weil es so viel Blut war und ich nicht verstand, warum,
erinnere ich mich noch so gut an diesen Tag“, erzählt sie. Es gebe einen
Verdacht auf Anämie, habe ihre Mutter auf dem Heimweg erklärt. Den Arzt
sieht Carina Rosavik nicht wieder.
Je älter sie wird, desto lauter werden ihre Zweifel. Und eine Erinnerung
drängt sich ihr auf: Als Dreijährige sitzt sie im Büro des Ladens der
Mutter, als eine Nonne hereinkommt, in jeder Hand einen Korb. Die Nonne
fragt die Mutter: “Welches wolltest du nochmal? Junge oder Mädchen?“
“Junge“, antwortet die Mutter. „Von diesem Tag an hatte ich den kleinen
Bruder, den ich mir so sehr gewünscht hatte. Nur hatte ich meine Mutter
niemals schwanger gesehen“, erinnert sich Rosavik.
Mit 17 konfrontiert Carina Rosavik ihre Mutter zum ersten Mal mit ihren
Zweifeln. Als sie von der Nonne und dem Korb spricht, wird die Mutter
wütend: “Wie willst du dich an etwas erinnern, das so lange her ist?“ Sie
solle aufhören, sich solche Geschichten auszudenken. Zu dem Zeitpunkt weiß
Carina Rosavik nicht, dass der Handel mit Neugeborenen ein Geschäft ist und
auch sie vielleicht einmal in einem solchen Korb lag, eingetauscht gegen
eine Summe Geld.
Mit Anfang 20 fragt Carina Rosavik ihre Mutter geradeaus: “Bin ich
adoptiert, ja oder nein?“ Ihre Mutter verneint. “Wo sind dann die Fotos von
dir als Schwangere?“ Die gebe es nicht mehr, sie seien bei einem Feuer
verbrannt. Später, bei einem anderen Streit, verspricht sich die Mutter,
wählt eine Formulierung, die sie in Rosaviks Augen verrät. Sie sagt: “Wir
haben dich aus Buenos Aires mitgebracht.“ Statt: “Ich habe dich in Buenos
Aires bekommen.“ Carina Rosavik schreit sie an: “Siehst du, du bist nicht
meine Mutter.“ So erzählt sie es. An den Streit erinnere sie sich nur noch
schemenhaft, sagt sie. Aber an die Wut, die Verzweiflung und die Ohnmacht
von damals erinnere sie sich noch gut.
In dieser Zeit geraten Carina Rosavik und ihre Mutter immer wieder
aneinander. Die Mutter sei oft nervös und fahrig gewesen, zum Einschlafen
habe sie Tabletten gebraucht. An ihren Vater habe sie liebevolle
Erinnerungen, aber auch er habe zu ihren Fragen geschwiegen. Er stirbt
1997, als sie 21 Jahre alt ist. Während der Diktatur und bis zu seiner
Rente war ihr Vater Angehöriger des Militärs. Ließ diese Nähe nicht den
Verdacht zu, dass er in eine illegale Adoption verstrickt gewesen sein
könnte? Darauf angesprochen, zuckt Carina Rosavik mit den Schultern. “Mein
Vater war immer sehr gut zu mir.“ Mit ihm habe sie einen Verbündeten
verloren, trotz seines Schweigens.
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters erleidet die Mutter einen Schlaganfall,
ist halbseitig gelähmt, kann nicht mehr sprechen. Rosaviks Fragen an ihre
Eltern bleiben nun endgültig unbeantwortet.
In dieser Zeit wird Carina Rosavik schwanger. Sie pflegt ihre Mutter, bis
sie selbst ins Krankenhaus muss. Etwas stimmt nicht mit der
Schwangerschaft, sie soll eine Blutprobe abgeben. Dabei kommt heraus:
Carina Rosavik hat eine andere Blutgruppe als in ihren Dokumenten angeben,
sie passt nicht zu der ihrer Eltern. Rosavik weiß jetzt sicher, dass ihre
Eltern nicht die biologischen sein können.
In diesen Monaten des Jahres 1999 bleibt für Carina Rosavik nichts, wie es
war. Im sechsten Monat verliert sie das Kind. Wenige Wochen später, im
September 1999, stirbt die Mutter. Etwa vierzehn Tage später klingelt es an
der Tür. Es sind Martín Fresneda und sein Kollege, mit Rosaviks Akte unterm
Arm.
Eine der Menschenrechtsorganisationen, die sie vertreten, ist über
Argentinien hinaus bekannt geworden – die Abuelas de Plaza de Mayo. Es ist
die Organisation der Mütter von Verschwundenen, die zum Zeitpunkt ihrer
Entführung schwanger waren oder kleine Kinder bei sich hatten. Die Abuelas
sind die Großmütter dieser Kinder, sie suchen ihre Enkel:innen.
Martín Fresneda, selbst ein Kind von Verschwundenen, erinnert sich im
Telefonat mit der taz an Besuche wie den bei Carina Rosavik. “Bei der
ersten Kontaktaufnahme mit Verdachtsfällen waren wir immer sehr angespannt.
Es kam oft vor, dass uns die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, wenn wir
den Leuten mitteilten, dass sie nach unseren Recherchen Kinder von
Verschwundenen waren.“
Carina Rosavik aber reagiert anders: Sie habe zu der Zeit nur noch 47 Kilo
gewogen, ausgemergelt sei sie gewesen, erzählt sie. “Als sie mir die
Wahrheit über meine Eltern sagten, ging es mir nicht schlecht. Im Gegenteil
– ich fühlte mich gut, irgendwie erleichtert“, erinnert sie sich. „Es war
ein magischer Moment, als ob mir endlich jemand attestierte, dass ich nicht
verrückt bin.“
Die Abuelas de Plaza de Mayo demonstrierten seit 1977 für die Rückgabe der
Enkelkinder an ihre biologischen Familien. Und sie recherchierten wie
verdeckte Ermittlerinnen, gingen in Waisenhäuser, Geburtshäuser, Kliniken,
auf der Suche nach Neugeborenen, die ihre Enkel:innen sein könnten.
Ihr Aktivismus sprach sich herum, immer mehr suchende Frauen kamen zu den
heimlichen Treffen. Sie brachten kleine Geschenke oder Blumensträuße mit,
als würden sie auf eine Geburtstagsfeier gehen. Als Tarnung und zum Schutz
vor politischer Verfolgung durch das Militär. Sie hörten sich um, sammelten
Beobachtungen, zum Beispiel von Leuten, denen auffiel, dass der Nachbar,
ein Militär, plötzlich ein Kind hatte, obwohl die Ehefrau nie schwanger
gewesen war.
Heute wird der Raub von Kindern in Argentiniens Diktatur als Teil eines
[2][systematischen Plans] gesehen, mit dem Ziel, die Kinder von
Oppositionellen in Familien mit der „richtigen“ Ideologie aufwachsen zu
lassen. Auch in anderen totalitären Staaten oder Kriegen wurde und wird
dieses Verbrechen begangen, etwa unter der [3][Franco-Diktatur] in Spanien.
Oder auch aktuell im [4][Angriffskrieg Russlands] gegen die Ukraine, wo
nach ukrainischen Angaben bereits [5][16.000 ukrainische Kinder] vom
russischen Militär verschleppt wurden.
Anfang der 80er Jahre feierte die Genetik einen Durchbruch: Anhand von
DNA-Vergleichen ließ sich nun auch die Abstammung eines Kindes von seinen
Großeltern nachweisen. Die Abuelas setzten sich für ein staatlich
gefördertes Programm zur Analyse und Dokumentation von genetischen Daten
ein. Mit Erfolg: Ende der 80er wurde die Nationale Bank für genetische
Daten gegründet, wenige Jahre später die Nationale Kommission für das Recht
auf Identität, kurz CoNaDI. Beide Institutionen sollten auch für Rosavik
noch eine wichtige Rolle spielen.
Zehntausende haben seither Blutproben bei der nationalen Gendatenbank
abgegeben. Die einen auf der Suche nach ihrer biologischen Herkunft, die
anderen nach verschwundenen Angehörigen, alle in der Hoffnung auf ein
Match. Doch die meisten DNA-Abgleiche fallen negativ aus, [6][über 14.000
„Negativos“] sind es aktuell. Ein Grund dafür ist, dass noch immer nicht
alle Gebeine ermordeter Verschwundener geborgen worden sind, aus geheimen
Gräbern, dem Rio de la Plata oder vom Meeresgrund.
Die Zahl der Kinder von Verschwundenen schätzen
Menschenrechtsorganisationen auf 500. Bis heute konnten von ihnen [7][132
per DNA-Abgleich gefunden] und mit ihren biologischen Familien vereint
werden.
Nach dem Besuch der Menschenrechtler glaubt Carina Rosavik, sie könnte eine
der verbleibenden offenen Fälle sein. Nein, sie fühlte es sogar, sagt
Rosavik. Sie nimmt an jenem Tag den Faden auf, den die zwei Männer ihr an
die Hand geben.
In der Akte findet Carina Rosavik zwei Geburtsurkunden, die nicht identisch
sind. Laut der einen Geburtsurkunde wurde Rosavik in einer Klinik in San
Justo la Matanza geboren, einem Vorort von Buenos Aires, als Carina
Rosavik. In der anderen steht Morón, ein anderer Vorort von Buenos Aires,
knapp sieben Kilometer entfernt, eingetragen als “N.N.“, lateinisch für
Nomen Nescio, Name unbekannt.
Mit den Informationen der Menschenrechtler und aus den Dokumenten in der
Akte setzt sich für Carina Rosavik nach und nach ein Bild ihrer eigenen
Biografie zusammen. Das kinderlose Paar aus Córdoba hatte den Säugling
offenbar kurz nach der Geburt in Buenos Aires abgeholt und mit nach Hause
genommen. In Córdoba versuchten die Eltern, das Kind beim Standesamt als
ihr eigenes zu registrieren. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Der
Sachbearbeiter des Standesamtes, der mit dem Militärapparat nichts zu tun
hatte, wurde misstrauisch ob ihres hohen Alters. Die Mutter 46, der Vater
55. Und weil das Kind in Buenos Aires geboren worden war, hätte es auch
dort zuerst registriert werden müssen.
Der Standesbeamte informierte die Polizei, das Paar kam in
Untersuchungshaft, das Mädchen in ein Waisenhaus. Als ein Strafverfahren
gegen das Paar eingeleitet wurde, erfuhren auch die Abuelas de Plaza de
Mayo davon und sammelten fortan alles, was sie zu dem Fall finden konnten.
Erst heimlich, dann nach Ende der Diktatur offiziell und mit Unterstützung
der Behörden. Sie gingen davon aus, dass Carina Rosavik in einem geheimen
Geburtshaus zur Welt kam, das unter der Kontrolle des Militärs stand.
Carina Rosavik blieb in dem Waisenhaus, bis zwei Jahre später ein
Adoptionsverfahren eingeleitet wurde. Die Eltern mit Kinderwunsch: wieder
dasselbe Paar aus Córdoba, das das Mädchen als Neugeborene aus Buenos Aires
als ihr eigenes Kind hatte ausgeben wollen. Das Strafverfahren: wegen
fehlender Beweise eingestellt. So steht es in den von den Abuelas
zusammengetragenen Gerichtsakten und Dokumenten.
In der Akte findet Carina Rosavik auch ein Dokument, an das sie mit ihrer
Erinnerung aus Jugendtagen anknüpfen kann. Darin steht, dass ihre DNA schon
mal abgeglichen wurde, als sie 15 Jahre alt war, auf richterliche
Anordnung. Die Abuelas hatten damals den Verdacht, dass sie die Enkelin
einer bestimmten Familie sein könnte, und erwirkten vor Gericht den
DNA-Abgleich. Rosavik weiß nun, wofür die fünf Röhrchen Blut eigentlich
bestimmt waren, das ihr damals abgenommen wurde, und dass der vermeintliche
Verdacht auf Anämie eine Lüge war.
Carina Rosavik stößt auch auf ein Bild von sich als Kind auf einem
Kindergeburtstag einer Freundin. Wer das Bild wie beschafft hatte, hätten
die Männer ihr nicht sagen können. “Es war, als wären sie mir durch mein
Leben gefolgt“, sagt sie.
Die Menschenrechtsorganisationen wussten schon lange vor 1999 von Carina
Rosaviks unklarer Herkunft. Doch etwas hielt sie davon ab, Rosavik früher
aufzusuchen: Sie hätten sich ihr erst nach ihrer Volljährigkeit nähern
dürfen, erklärt Martín Fresneda im Telefonat mit der taz. Ihre Eltern
hätten das juristisch durchgesetzt, als Rosavik ein Teenager war und als
die Organisation der Abuelas bereits einmal versucht hatte, Kontakt
aufzunehmen. Erst als 1999 beide Eltern tot waren und Rosavik volljährig,
war der richtige Moment gekommen, sagt der Menschenrechtler.
Carina Rosavik hat nach dem Besuch ganz unterschiedliche Gefühle. Sie ist
erleichtert über die neue Gewissheit, wütend, weil sie ihre Eltern nicht
mehr konfrontieren kann, und traurig, weil sie sich der Familie, die sie
trotz der vielen offenen Fragen immer als ihre betrachtet hat, nicht mehr
richtig zugehörig fühlt. Eine Unruhe breitet sich aus, die anders ist als
die Zweifel der Vergangenheit. Sie speist sich aus der Erkenntnis, dass es
da draußen jemanden geben könnte, der ihr das Gefühl von Zugehörigkeit
wieder zurückgeben könnte. Eine andere Mutter, ein anderer Vater,
vielleicht Geschwister, Tanten, Onkel. Lebend oder tot.
Carina Rosavik stürzt sich in die Suche. Sie gibt erneut eine DNA-Probe ab,
befragt Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins ihrer Adoptivfamilie. Alle
geben an, nichts über die Umstände ihrer Geburt zu wissen. Eine alte
Freundin der Eltern habe auf sie eingeredet: „Was soll dieses Suchen? Deine
Eltern haben dich geliebt, dir alles gegeben, was du brauchtest. Warum
kannst du dich nicht zufriedengeben?“ Carina Rosavik fühlt sich
missverstanden und allein. Manchmal werden nun auch andere Zweifel laut:
Bin ich undankbar? Habe ich überhaupt ein Recht auf die Wahrheit?
Das hat sie. Zumindest laut [8][Artikel 8 der UN-Kinderrechtskonvention],
die Argentinien 1990 ratifiziert hat. Dort steht: Die Vertragsstaaten
verpflichten sich, das Recht des Kindes zu achten, seine Identität,
einschließlich seiner Staatsangehörigkeit, seines Namens und seiner
gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen, ohne rechtswidrige Eingriffe zu
behalten.
Zwei Monate später kommt das Ergebnis des DNA-Abgleichs: Wieder negativ.
Wieder kein Hinweis auf ihre Herkunft.
In den folgenden Jahren jobbt Carina Rosavik in einem Restaurant, dann bei
einem Handyanbieter. Zweimal wird sie schwanger, bekommt Tochter und Sohn.
Sie hat nun eine eigene Familie, aber auch die vermag die Leerstelle nicht
zu füllen.
2004 hört sie von der CoNaDi, der Nationalen Kommission für das Recht auf
Identität, und von einem neuen, besseren DNA-Verfahren. Diesmal wird ihr
nicht nur Blut abgenommen. Sie wird fotografiert, gibt eine Haarprobe ab,
ihr Körper wird abgefilmt, Muttermal für Muttermal. Zwei Monate wartet sie
auf die Ergebnisse. Zwei Monate, in denen die Hoffnung wieder wächst.
Dann der Anruf: Negativ. Zum dritten Mal keine Übereinstimmung. Carina
Rosavik ist entmutigt. „Für eine lange Zeit spürte ich danach so eine
Leere“, erinnert sie sich. „Ich wusste einfach nicht, wie und wo ich noch
weitersuchen sollte.“
2008 hört Carina Rosavik von einer Plattform namens Facebook. Sie erstellt
ein Profil, tritt einer Gruppe bei, in der Menschen Gesuche für vermisste
Familienangehörige posten, und beginnt sich zu vernetzen. „Plötzlich gab es
Leute wie mich, in der gleichen Situation, die ohne oder nur mit sehr
wenigen Daten nach ihren biologischen Familien suchten.“ Wenn sie davon
erzählt, hört man ihr die Erleichterung, mit dem Suchen nicht mehr allein
zu sein, noch heute an. Sie wird zur digitalen Aktivistin, ist nun in
mehreren Gruppen aktiv, hilft anderen Suchenden, sich zu vernetzen. Endlich
bewegt sich etwas.
Ohne dass Carina Rosavik etwas davon weiß, tut sich in dieser Zeit noch
etwas. Ebenfalls im Jahr 2008 gibt in der knapp 1.000 Kilometer entfernten
Küstenstadt Mar del Plata eine Frau im ähnlichen Alter wie Carina Rosavik
eine DNA-Probe ab: Carolina Sangiorgi, geboren am 25.06.1978 in Morón, im
Speckgürtel von Buenos Aires, wie Carina Rosavik. Auch sie weiß nicht, wer
ihre biologischen Eltern sind, auch in ihrer Geburtsurkunde wurde sie als
N.N. vermerkt, ohne genaue Angaben zum Geburtsort. Doch anders als über
Rosaviks Leben lag über ihrem kein Schatten, der alles verdunkelte, keine
Lüge.
Im September 2022 sitzt Carolina Sangiorgi, eine fröhliche Frau, zweifache
Mutter, am Wohnzimmertisch in ihrer Wohnung in Mar del Plata und erzählt
von ihrer Kindheit. Schon als kleines Mädchen hätten ihre Eltern ihr
erklärt, dass sie zwar nicht die biologische, dafür aber ihre
“Herzenstochter“ sei, legal adoptiert, mit vollständigen Unterlagen. Sie
zeigt mehrere Dokumente aus den späten 70er Jahren, teilweise mit
handschriftlichen Vermerken.
Dann erzählt Carolina Sangiorgi, wie ihr Mann 2007 ein Buch über die
Schrecken der Militärdiktatur gelesen habe. „Es hat ihn nicht mehr
losgelassen.“ Er habe sie gefragt: „Was, wenn du ein Kind von
Verschwundenen bist?“ Carolina Sangiorgi, damals 30 Jahre alt, fühlte nie
den Drang, ihren biologischen Wurzeln nachzuspüren. Sie habe sich in ihrer
Kindheit immer zugehörig und niemals belogen gefühlt. 2008 gibt sie
schließlich doch der Neugier nach und eine DNA-Probe ab. Das Ergebnis
wenige Wochen später: negativ. Kurz ist da ein Gefühl von Enttäuschung.
Dann lebt sie ihr Leben weiter. So kommt es, dass die beiden Frauen sich
erst 15 Jahre später begegnen.
In Córdoba ist Carina Rosavik lange vor allem digital aktiv. Bis sie sich
im April 2014 zum ersten mal mit Leuten trifft, die in einer ähnlichen
Situation sind wie sie. An einem Nachmittag sitzen mehrere Frauen und ein
Mann in einem Stuhlkreis im Stadtarchiv von Córdoba, eine Psychologin
moderiert. Nacheinander erzählen sie, wen sie suchen und seit wann. Manche
Stimmen zittern, andere brechen, es fließen Tränen. Eine Frau sagt: „Ich
hatte immer dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht die Tochter meiner
Eltern zu sein.“Für Rosavik ist es, als würde sie sich selbst zuhören.
Dann ist eine ältere Frau an der Reihe, die nicht nach ihren Eltern sucht,
sondern nach ihrem Kind. Sie erzählt, als junge Frau habe sie als
Haushaltshilfe bei einer Familie gearbeitet. Als sie ungewollt schwanger
wurde, habe die Familie ihr angeboten, ihr mit dem Kind zu helfen. Doch als
das Kind zur Welt kam, habe man es ihr weggenommen und behauptet, es sei
tot geboren worden. Den angeblich toten Körper des Säuglings habe man sie
weder sehen noch beerdigen lassen.
Carina Rosavik fühlt sich wie gelähmt. Eine Mutter, der mutmaßlich ihr
Neugeborenes geraubt wurde? Von gewöhnlichen Ärzt:innen, und nicht von
Militärs? Was, wenn Rosavik gar keine Tochter von Verschwundenen war? Wenn
ihre Mutter gar nicht tot war, sondern noch nach ihr suchte, wie diese
Frau? Der Gedanke ist ihr so unheimlich, dass sie an jenem Abend ihre
eigene Geschichte nicht mehr erzählt.
Maria Gracia Iglesias, die Moderatorin der Gruppe an jenem Abend, erzählt
der taz im September 2022, wie dieses Treffen auch für sie den Beginn einer
neuen Phase der Aufarbeitung markierte. Für die 50-jährige Psychologin,
eine wuselige Frau mit lautem Lachen, war es eines der ersten persönlichen
Treffen von Suchenden in Córdoba und Umgebung, deren DNA-Abgleich noch kein
Match mit Verschwundenen aus der Diktatur ergeben hatte. Sie sagt: „Als ich
bemerkte, dass sich die Geschichten ähnelten, dachte ich, ich traue meinen
Ohren nicht.“ Vielen war erzählt worden, ihre biologischen Mütter seien
minderjährig gewesen, deshalb hätten sie sie als Neugeborene weggegeben. In
manchen Fällen lagen gefälschte Geburtsurkunden vor. Iglesias war sich
schnell sicher: Da musste noch etwas anderes hinterstecken.
Maria Gracia Iglesias arbeitete bereits seit 2004 für die CoNaDi und hatte
schon mehrere Familien mit vermissten Enkel:innen aus der Diktatur
wieder zusammengeführt. Aber die tausenden „Negativos“ hatten ihr immer
Rätsel aufgegeben. Nun schien es, als wären in Argentinien nicht nur
hunderte Kinder von Oppositionellen verschwunden, sondern auch Neugeborene
von Müttern, die mit Politik nichts zu tun hatten.
Tatsächlich haben [9][anschließende Recherchen] von Iglesias und anderen
Menschenrechtler:innen, Journalist:innen und Jurist:innen ergeben,
dass vor, während und nach der Militärdiktatur an verschiedenen Orten im
Land geheime Geburtshäuser betrieben wurden, von Hebammen oder Ärzt:innen.
Ein System getragen von Menschen, die an dem Handel mit Säuglingen
verdienten. Auch Polizisten und sogar Lkw-Fahrer beteiligten sich, indem
sie Schwangere aus entlegenen Regionen zu den heimlichen Geburtshäusern
brachten.
Die betroffenen Frauen: jung, vulnerabel, oft minderjährig, das Kind meist
unehelich gezeugt. Die Neugeborenen wurden teilweise zu Preisen im Wert von
Kleinwagen oder Häusern verkauft. Um das langwierige Verfahren einer
Adoption zu vermeiden, ließen sich wohlhabende Paare mit unerfülltem
Kinderwunsch auf den Deal ein.
War vielleicht auch Carina Rosaviks leibliche Mutter gar keine politisch
Verfolgte, sondern ein Opfer dieses Systems?
Nach dem Treffen im April 2014 wird Rosavik eine Art inoffizielles Mitglied
von Iglesias’ Recherche-Team. Die Psychologin bringt ihr bei, Akten zu
studieren und amtliche Dokumente zu lesen. Carina Rosavik findet Halt in
der gemeinsamen Suche. Bis wieder ein einziger Tag ihr Leben in ein Davor
und ein Danach teilt, wie damals 1999, als die beiden Männer vor ihrer Tür
standen.
Es ist der 24. August 2022. Am Nachmittag zieht sich Carina Rosavik in ihr
Schlafzimmer zurück, um mit Maria Gracia Iglesias zu telefonieren. Sie
sprechen über die neuesten Recherche-Ergebnisse, als Iglesias etwas sagt
wie: “Cary, eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes sprechen.“
Durch die technischen Fortschritte beim DNA-Vergleich seien in der
genetischen Datenbank BNDG neue Übereinstimmungen gefunden worden. Es habe
ein Match gegeben, zwei Schwestern, zu 100 Prozent blutsverwandt, gleiche
Mutter, gleicher Vater – „eine Schwester“, sagt Iglesias.
Carina Rosavik braucht einige Momente um zu begreifen, was Iglesias ihr da
gerade erzählt: „Was sagst du? Ich glaub, ich versteh nicht. Du verarschst
mich…“ „Doch Cary, es stimmt, wir sind sicher.“ Rosavik springt auf, re…
aus dem Zimmer, schreit es in die Wohnung und in die Welt: „Ich habe eine
Schwester, eine blutsverwandte Schwester!“
Am selben Tag erhält in der Küstenstadt Mar del Plata auch ihre Schwester
die Nachricht über das Match. Es ist Carolina Sangiorgi.
Gegen 17 Uhr sehen sich die Schwestern zum ersten Mal auf den kleinen
Bildschirmen ihrer Handys. Sangiorgis Mann filmt den Videoanruf mit seinem
Handy. In dem Mitschnitt ist zu sehen, wie die beiden Frauen lachen und
weinen, Carolina Sangiorgi hält sich die Hand vor den Mund, presst ein „Ich
weiß gar nicht, was ich sagen soll“ hervor. Ein zweites Mal begrüßen sie
sich, „Hallo Caro“, „Hallo Cary“, als wollten sie sich der Existenz der
jeweils anderen nochmal vergewissern. Drei Stunden telefonieren sie,
stellen einander Ehemänner und Kinder vor, plötzlich Schwager, Nichten und
Neffen.
Das Happy End scheint perfekt: das Glück zweier Schwestern, vereint nach
über 40 Jahren, und sie sehen einander so ähnlich. Doch während Carolina
Sangiorgis Leben noch reicher wird, bleibt in Carinas Rosaviks eine
Leerstelle. Sangiorgi, die legal adoptiert worden ist und nie wirklich
gesucht hat, freut sich über ein neues Familienmitglied. Carina Rosaviks
drängendste Frage aber bleibt. Sie verändert sich nur von „Wer sind meine
Eltern?“ in „Wer sind unsere Eltern?“
Sangiorgi zeigt Rosavik ihre Adoptionspapiere und Geburtsurkunde. Doch das
Einzige, was sich daran ablesen lässt, ist, dass sie beide in Morón geboren
worden sein sollen, mit 18 Monaten Abstand. Für Carina Rosavik ist damit
die Hoffnung auf eine neue Spur zu den biologischen Eltern schnell
begraben.
Gleichzeitig erscheinen ihre bisherigen Theorien mit der neuen Schwester in
einem anderen Licht. Wären sie wirklich Töchter einer Verschwundenen, hätte
die Mutter mit Rosavik im Bauch verhaftet worden sein müssen und dann auch
das zweite Kind, ihre Schwester, in Gefangenschaft bekommen haben. Maria
Gracia Iglesias von der Betroffenen-Organisation hält das für
unwahrscheinlich, es passt nicht zu den Erkenntnissen, die
Historiker:innen über die Militärdiktatur haben.
Oder sind beide Töchter jeweils von einer Hebamme oder einem Arzt geraubt
worden? Wie ließe sich erklären, dass die Mutter zweimal in die Fänge von
Menschenhändler:innen geriet?
Die letzte Option ist die wohl schmerzhafteste, weder Rosavik noch
Sangiorgi sprechen sie von sich aus an: Hat die Mutter die Töchter
freiwillig abgegeben? Carina Rosavik schüttelt beim Treffen im Café
ungläubig den Kopf. Carolina Sangiorgi am Wohnzimmertisch in Mar del Plata
schweigt erst, sagt dann „Ich glaub nicht.“
Maria Gracia Iglesias sagt, die größte Hoffnung liege in den Müttern
selbst. Die Suche nach der biologischen Familie ist auch ein Wettlauf gegen
die Zeit. Die leibliche Mutter der beiden Schwestern könnte heute etwa
zwischen 62 und 82 Jahren alt sein.
Argentinien hat deshalb seit 2021 [10][Kampagnen] gestartet, die explizit
die Mütter bitten, sich zu melden. Doch die Scham sei groß, sagt Iglesias,
das Schuldgefühl, das eigene Kind nicht vor fremden Händen geschützt zu
haben. Die Kampagnen seien ein Meilenstein in der Aufarbeitung des
Menschenhandels mit Neugeborenen, ein Signal an die Gesellschaft, diesen
Müttern Scham und Schuld zu nehmen.
Das Leben hat Carina Rosavic schon zweimal überrascht. Das Klingeln der
beiden Männer an der Tür. Der Telefonanruf mit der Nachricht, sie habe eine
Schwester. Es ist nur eine kleine Hoffnung, aber vielleicht wartet da noch
ein drittes Mal.
Die Recherche fand im Rahmen eines Austauschprogramms des Vereins
[11][Internationale Journalisten Programme e.V.] (IJP) in Argentinien
statt.
2 Apr 2023
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Todesflug
[2] /Menschenrechtsverbrechen-in-Argentinien/!5101977
[3] /Zwangsadoption-in-Spanien/!5069217
[4] /Krieg-in-der-Ukraine/!5849294
[5] /Kriegsverbrechen-in-der-Ukraine/!5921386
[6] https://www.tiempoar.com.ar/informacion-general/cuando-la-busqueda-de-ident…
[7] https://www.abuelas.org.ar/caso/buscar?tipo=3
[8] https://www.argentina.gob.ar/normativa/nacional/ley-23849-249/texto
[9] https://www.clarin.com/sociedad/hablan-hijos-robados-mafalda-partera-vendia…
[10] https://www.argentina.gob.ar/derechoshumanos/mamas-que-buscan
[11] https://www.ijp.org/stipendien/lateinamerika
## AUTOREN
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