| # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Kinder als Faustpfand | |
| > Zahlreiche Minderjährige aus der Ukraine werden nach Russland | |
| > verschleppt. Moskau behauptet, viele von ihnen seien Waisen. | |
| Bild: Kinder im Krieg: leichte Beute | |
| Dnipro/Moskau Er mag fünf oder sechs Jahre alt sein, hat schwarze Haare und | |
| eine Zahnlücke, David sein Name. „Da waren Panzer“, sagt er, „sie schoss… | |
| ganz viel. Wir gingen in den Keller.“ Mit seinem Bruder Maxim ist er in | |
| einem Video zu sehen, das die russische Nachrichtenagentur Ria im März | |
| verbreitete. Das Thema: Was die „Regierung“ der „Volksrepublik Donezk“ … | |
| die Regierung Russlands alles täten, um Kinder aus dem Kriegsgebiet zu | |
| holen. Wobei Russland die Kampfhandlungen natürlich nicht „Krieg“, sondern | |
| „militärische Spezialoperation“ nennt. | |
| David und Maxim wie auch siebzehn weitere Jungen und Mädchen, so Ria, seien | |
| [1][Kinder und Pflegekinder aus Mariupol], deren Eltern die Kinder | |
| abgegeben hätten oder deren Pflegeeltern verschollen seien. Russland | |
| betrachtet sie als Waisen. Im Beitrag heißt es: Die Kinder seien zur Kur in | |
| einem Mariupoler Sanatorium gewesen, als die Angriffe auf die Stadt | |
| begonnen hätten. Alle Erwachsenen aus dem Sanatorium hätten die Stadt und | |
| die Kinder verlassen, wird behauptet. | |
| Erst russische Truppen hätten die Mädchen und Jungen zwischen 4 und 17 | |
| Jahren „gerettet“ und in ein Waisenheim in Donezk gebracht. Auch in anderen | |
| russischen Staatsmedien finden sich die Gesichter der beiden Brüder. Es | |
| sind Beiträge über ein Waisenheim in Russland. | |
| Nach Angaben ukrainischer und russischer Behörden [2][bringt Russland jeden | |
| Tag Hunderte von Menschen aus der Ukraine weg.] „Evakuierung“ nennt das | |
| Russland. „Kidnapping“, sagt die Ukraine. Die Ukrainer*innen werden in | |
| ganz Russland in Übergangswohnheimen untergebracht oder kommen bei | |
| Verwandten unter. Oder in Waisenheimen. Journalist*innen wird der | |
| Zugang zu solchen Wohneinrichtungen hinter Zäunen verwehrt – oder nur in | |
| organisierter Form gestattet. | |
| Nach russischen Angaben will Russland 915.000 Ukrainer*innen aus der | |
| Ukraine geholt haben, darunter 170.000 Kinder. 1.700 davon seien elternlos, | |
| sagt Russlands Beauftragte für Kinderschutz Maria Lwowa-Belowa kürzlich. | |
| Schwer zu sagen, ob diese Zahlen glaubwürdig sind. Das | |
| UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) bestätigt bislang 550.000 deportierte | |
| Ukrainer*innen, darunter 121.000 Kinder. | |
| „Sie zählen die Leute busweise“, sagt Ludmila Denisowa, die ukrainische | |
| Ombudsfrau für Flüchtlinge. „Wir haben um Listen mit allen Familiennamen | |
| gebeten. Aber so etwas gibt es noch nicht. Aufgrund der ständigen Kämpfe | |
| sind solche Listen derzeit nicht zu bekommen, weil es keinen Zugang zu den | |
| russisch besetzten Gebieten gibt. Und zu russischem Staatsgebiet auch | |
| nicht.“ | |
| Russland vereinfacht derweil das Adoptionsrecht für Kinder aus dem Donbass. | |
| Bei allen Berichten in Russland geht es lediglich um die Kinder aus dieser | |
| Region, obwohl laut ukrainischen Angaben auch Kinder aus anderen Gebieten | |
| der Ukraine entführt worden sein sollen. | |
| Das könnte, so sagen ukrainische Expert*innen, damit zusammenhängen, | |
| [3][dass Russland mit den von Moskau anerkannten Separatistengebieten | |
| Donezk und Luhansk] an gemeinsamen Gesetzen arbeitet, unter anderem auch am | |
| veränderten Adoptionsrecht. Deshalb „durchlaufen“ alle von den russischen | |
| Truppen mitgenommenen ukrainischen Kinder zunächst sogenannte | |
| Fürsorgeeinrichtungen in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, meist in | |
| Donezk. Dann gelten sie als „Waisenkinder aus dem Donbass“. | |
| ## Die Kinder sollen Russisch lernen | |
| In russischen Foren tauschen sich Pflegeeltern über Möglichkeiten einer | |
| schnellen Adoption ukrainischer Kinder aus. Die russischen Behörden stören | |
| sich nicht einmal mehr an der ukrainischen Staatsbürgerschaft der Kleinen. | |
| Ukrainer*innen beklagen, dass es den Russ*innen auch durch solche | |
| Maßnahmen um die Zerstörung ukrainischer Identität gehe. | |
| Das russische Staatsfernsehen sendet derweil Bilder vom fröhlichen Empfang | |
| der ukrainischen Kinder in der Region Moskau. Geschmückt ist der Bahnhof, | |
| der Gouverneur wartet mit Plüschbären in Rosa und Hellblau. Es sind | |
| verstörende Bilder, wie er mit dem Spielzeug auf die Kinder zustürmt, | |
| Mädchen umarmt, sich freut, wie die Kinder „Mama“ zu ihnen unbekannten | |
| Frauen sagen. Er lässt sich mit den Kindern fotografieren, sich zurufen, | |
| dass es ihnen gut gehe. Freiwillige stünden bereits Schlange, um Kinder | |
| aufzunehmen und zu adoptieren, heißt es in dem Beitrag. | |
| Bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in dieser | |
| Woche erklärte die russische Kinderschutzbeauftragte Lwowa-Belowa, dass | |
| spezielle Register angelegt würden für die Waisenkinder aus dem Donbass. | |
| Pflegschaften und Adoptionen von Kindern aus der Ukraine sollen so | |
| problemloser werden. „Sagen Sie mir, wo die bürokratischen Hürden sind, und | |
| wir werden sie eliminieren“, meinte Putin. Nur: Haben die Kinder aus dem | |
| Donbass tatsächlich keine Familie mehr? | |
| Nein. | |
| Da ist die zwölfjährige Kira Obedinska. Auch sie saß in Mariupol fest. Ihr | |
| Vater war am 17. März bei den russischen Luftangriffen ums Leben gekommen, | |
| ihre Mutter bereits vor dem Krieg gestorben. Kira soll tagelang neben ihrem | |
| toten Vater in einem Keller ausgeharrt haben. Russische Soldaten hätten das | |
| verletzte Mädchen mit anderen Kindern in ein Krankenhaus nach Donezk | |
| gebracht, später nach Russland. Laut den russischen Behörden war sie ganz | |
| alleine. | |
| Zu Hause in der Ukraine aber kämpften Alexander und Swetlana Obedinski um | |
| ihre Enkelin. Sie wollten sie bereits aus Donezk herausholen, was sich als | |
| unmöglich herausstellte. Die Behörden verlangten die Vorlage von | |
| Vormundschaftsdokumenten. Wie aber sollten sie an die Sterbeurkunde des | |
| Sohnes kommen? Die Großeltern gaben nicht auf. Mittlerweile ist Kira wieder | |
| bei ihren Verwandten in der Westukraine. | |
| Auch die Brüder David und Maxim sind keine Waisen. Sie sollen eine | |
| ukrainische Pflegemutter haben, Ria ließ sie am Telefon zu Wort kommen. Ja, | |
| sagt Olga Lopatkina, die Kinder seien zur Kur ins Sanatorium nach Mariupol | |
| gefahren, dann seien die Bomben gekommen. „Wir wollten sie rausholen, aber | |
| mit dem Auto dauert es von unserem Zuhause in Wuhledar bis nach Mariupol | |
| zwei bis drei Stunden. | |
| Ich musste mich mit meinen zwei anderen Söhnen selbst im Keller verstecken. | |
| Wir sind einfach nicht bis nach Mariupol gekommen“, erzählt sie und spricht | |
| von einem „unmenschlichen Leid“. Sie verlor die Verbindung zu David und | |
| Maxim, ließ sich mit ihren anderen Kindern evakuieren. Derzeit soll sich | |
| die Familie in Frankreich aufhalten. Dass die beiden verlorenen Söhne in | |
| Russland sind, hätten ihr die Behörden mitgeteilt. „Aber wie soll ich sie | |
| aus Russland herausholen?“, fragt sie und weint fast. | |
| ## Ukrainer suchen Angehörige in Russland | |
| Wie viele ukrainische Familien ihre Nächsten in Russland suchen, ist nicht | |
| bekannt. „Wir müssen jeden konkreten Fall genau überprüfen und versuchen | |
| herauszufinden, ob die Kinder, die zu uns kommen, tatsächlich Waisen sind. | |
| Von schnellen Adoptionen zu sprechen, ist verfrüht“, sagt die Vorsitzende | |
| der Union Russischer Frauen in Moskau, Ekaterina Lachowa. Die Organisation | |
| steht der russischen Regierung nahe, widersetzt sich jedoch der Praxis, die | |
| Kinder aus der Ukraine schnell in russischen Familien unterbringen zu | |
| wollen. | |
| Im Mariupoler Stadtrat versucht man, Buch über alle verschwundenen Kinder | |
| zu führen. „Das ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, weil wir nur mit | |
| den Angaben von Angehörigen arbeiten können. Manchmal fallen uns auch | |
| entsprechende Nachrichten in den sozialen Netzwerken auf oder in der | |
| russischen Presse. Wir beschäftigen uns systematisch mit diesem | |
| Monitoring“, sagt der Vize-Bürgermeister von Mariupol, Arkadi Meschkow. | |
| „Nach unseren Informationen können wir bestätigen, dass 5.487 Kinder aus | |
| Mariupol fortgebracht wurden.“ | |
| Die ukrainische Ombudsfrau Denisowa sagt: „Zurzeit haben wir nur | |
| bruchstückhafte Informationen über die Schicksale der Kinder, die nach | |
| Russland gekommen sind.“ Sie wüssten, dass sich ein Teil von ihnen im | |
| nordrussischen Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen befindet. | |
| Es gebe ukrainische Kinder im zentralrussischen Pensa. „Dort leben sie in | |
| einem geschlossenen Lager, sie dürfen das Gelände nicht verlassen. Es | |
| heißt, dass sie in Sprachlager kommen, wo sie vom Ukrainischen aufs | |
| Russische umlernen müssen.“ Gerade habe sie einen Anruf erhalten, dass 30 | |
| Kilometer von Tscheboksary an der Wolga 1.000 ukrainische Bürger*innen | |
| aus Mariupol seien. „Und in Wladimir ist eine Gruppe von 14-, 15-jährigen | |
| Teenagern aus Mariupol. Eine vollständige Liste der Kinder haben wir noch | |
| immer nicht bekommen.“ | |
| Unter welchen Bedingungen die Kinder aus der Ukraine in Russland leben, | |
| lässt sich kaum herausfinden. Wenn staatsnahe russische Medien berichten, | |
| heißt es, dass die Kinder ein „schönes Leben“ und genug zu essen hätten, | |
| Kindergärten und Schulen besuchten, und mit „Spielzeug ausgestattet“ seien. | |
| Ausländische Journalist*innen haben keinen Zugang. Sobald das Büro der | |
| Kinderschutzbeauftragten Lwowa-Belowa hört, dass sich eine deutsche Zeitung | |
| meldet, wimmelt die Sekretärin ab: „Ich weiß auch nicht, warum der | |
| Zuständige nicht ans Telefon geht.“ Dabei hat der „Zuständige“ noch gar | |
| nicht erfahren, um welches Thema es geht. | |
| Mitarbeit: Gaby Coldewey | |
| 29 Apr 2022 | |
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| Inna Hartwich | |
| Anna Murlykina | |
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