# taz.de -- Bürgermeister über seine besetzte Stadt: „Das werden wir schaff… | |
> Melitopol liegt im Südosten der Ukraine – und ist von russischen Truppen | |
> besetzt. Bürgermeister Iwan Federow über die Lage dort – und warum er an | |
> einen Sieg glaubt. | |
Bild: Diese Menschen haben es geschafft, aus Melitopol zu fliehen | |
taz: Herr Federow, Sie sind rechtmäßig gewählter Bürgermeister der Stadt | |
Melitopol. Die Stadt ist von russischen Truppen besetzt. Wo halten Sie sich | |
jetzt auf? | |
Iwan Federow: In der Stadt Saporischschja, das ist ungefähr 100 Kilometer | |
von Melitopol entfernt. Ich bin in Sicherheit und überzeugt, dass die | |
russischen Geheimdienste sich die Haare raufen, weil sie mich im Austausch | |
gegen russische Gefangene haben laufen lassen. Aber ich habe nichts mehr zu | |
verlieren. Mein Haus, meine Arbeit habe ich bereits verloren, zum Glück ist | |
meine Familie in Sicherheit. | |
Sie wurden von den Russen gefangenen genommen und saßen sechs Tage in Haft. | |
Können Sie kurz schildern, wie das vonstatten ging? | |
Das waren Leute des russischen Geheimdienstes. Sie haben mir einen Sack | |
über den Kopf gezogen, die Hände gefesselt und mich in eine Zelle gesteckt. | |
Dort sagten sie mir, ich müsse als Bürgermeister zurücktreten. Zuerst habe | |
ich mich geweigert, dann aber doch unterschrieben. Aber sie ließen mich | |
nicht gehen, sondern hielten mich fest. In den ersten beiden Tagen hatte | |
ich keine Verbindung zur Außenwelt. | |
Was passierte in der Haft? | |
Sie taten grausame Dinge. In der Nachbarzelle haben sie jemanden | |
vergewaltigt und gefoltert, weil sie dachten, das sein ein ukrainischer | |
Soldat. Sie brachen ihm die Finger und die Hände, damit er gesteht. Aber er | |
war kein Soldat. | |
Hatten Sie Angst, dass Sie da nicht lebend rauskommen würden? | |
Ich wusste nicht, was mich erwartet. Sie hätten in jeder Minute kommen und | |
mich erschießen können. Ihnen ist egal, wen sie da vor sich haben. Ob ein | |
Abgeordneter, ein Bürgermeister oder normale Bürger*innen, für sie zählt | |
ein menschliches Leben nicht. | |
Melitopol wurde schon recht früh nach Beginn des Krieges von russischen | |
Truppen eingenommen. Angeblich haben die russischen Soldaten erwartet, als | |
Befreier mit Brot und Salz begrüßt zu werden. Wie war das in Melitopol? | |
Genauso, sie haben das tatsächlich geglaubt. Noch 2014 hatten sie diese | |
Unterstützung in Luhansk und Donezk ja auch bekommen. Deshalb dachten sie, | |
auf unserem Territorium würde die Reaktion die gleiche sein. Aber sie | |
hatten eins nicht verstanden: 2014 haben die Ukrainer*innen gesehen, was | |
Russland ist. Als die Krim annektiert wurde und Russland den Krieg im | |
Donbass angefangen hat. Seit diesen fast acht Jahren haben sich das Denken | |
und die Mentalität der Ukrainer*innen vollkommen geändert. | |
Und wie zeigte sich das in Melitopol? | |
Tausende Menschen sind friedlich gegen die Besetzung auf die Straße | |
gegangen. Stellen Sie sich vor: Da befinden sich Hunderte russische | |
Soldaten in der Stadt, wenn nicht sogar mehr. Sie haben auf die | |
Protestierenden geschossen und am nächsten Tag sind noch mehr | |
Bürger*innen gekommen. Das ist der Widerstand unseres Volkes. Deshalb | |
bin ich auch davon überzeugt, dass wir siegen werden. Russlands Präsident | |
Wladimir Putin tut jedoch alles, um unser Volk zu vernichten, auszulöschen. | |
Wie ist die Lage in Melitopol jetzt? | |
Schrecklich. Ungefähr 75.000 Menschen sind geblieben. Die russischen | |
Truppen rauben sie aus, plündern Wohnungen. Sicherheit gibt es überhaupt | |
nicht. Ich glaube, dass sie begreifen, dass sie dort nicht lange bleiben | |
werden, die Situation nicht ändern können und vor ihnen eine Katastrophe | |
liegt … Deshalb ist es heute ihre Aufgabe, so viel wie möglich | |
zusammenzuraffen, sich die Taschen zu füllen, bevor sie wieder abziehen. Im | |
vergangenen Monat wurden 20 Zivilist*innen getötet. Jetzt versuchen die | |
russischen Soldaten, Kinder in die Schulen und Kindergärten zu locken, sich | |
dort zu verschanzen und die Kinder als Geiseln zu nehmen. | |
Sie haben ihre Artillerie in Wohngebiete verlegt. Um diese Waffen zu | |
zerstören, müssen ukrainische Truppen auch dort angreifen. Das werden die | |
Russen dann als Beschuss von Zivilist*innen durch die ukrainische Armee | |
darstellen. Evakuierungen werden unterbunden, obwohl sich die ukrainische | |
Präsidialverwaltung jeden Tag mit entsprechenden Bitten an das russische | |
Verteidigungsministerium wendet. Alle Geschäfte sind geschlossen, die | |
Apotheken auch. Lebensmittel sind nur auf den Märkten erhältlich, | |
allerdings auch nur in begrenzten Mengen. | |
Deutschland wird in Kiew scharf kritisiert. Berlin sei zu zögerlich bei | |
Waffenlieferungen, heißt es. Wie ist Ihre Meinung dazu? | |
Auch ich verstehe das nicht. Deutschland reklamiert für sich international | |
eine Führungsrolle, unter anderem im Bereich der Wirtschaft und in der | |
Europäischen Union. Aber wenn es um Hilfe für die Ukraine geht, will sich | |
Deutschland aus irgendeinem Grund nicht an die Spitze setzen. Es ist gerade | |
zwei Monate her, da war Geld für die Ukrainer*innen sehr wichtig. Sie | |
sparten für ein Haus, eine Wohnung, ein Auto oder einen Urlaub. Jetzt, nach | |
fast zwei Monaten Krieg interessiert Geld niemanden mehr. | |
Ich kriege Gänsehaut, wenn ich das jetzt sage. Zehntausende | |
Zivilist*innen wurden getötet. Hunderttausende haben Verwandte und enge | |
Freund*innen verloren. Millionen ihre Wohnungen. 50 Prozent aller | |
ukrainischen Kinder mussten ihren Wohnort verlassen. Und Deutschland | |
überlegt, was das für seine Wirtschaft bedeutet. Worüber reden wir | |
eigentlich? Wir brauchen Waffen, und zwar jetzt. Es ist unglaublich. | |
Sie haben von einem Sieg gesprochen. Was heißt das genau? | |
Das heißt: Die Ukraine muss in ihren Staatsgrenzen von 1991 | |
wiederhergestellt werden. Das werden wir schaffen, wir sind so geeint wie | |
nie zuvor. Unser Präsident Wolodimir Selenski hat die totale und ehrliche | |
Unterstützung seines Volkes, etwas, was Putin nie haben wird. | |
Wie auch immer dieser Krieg ausgeht, es wird künftig ein Nebeneinander von | |
Russland und der Ukraine geben müssen. Wie soll das funktionieren? | |
Jeder Zweite oder Dritte in Melitopol hat Verwandte in Russland. Doch der | |
24. Februar war ein Wendepunkt, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Heute | |
unterstützen mehr als 80 Prozent der Russ*innen den Krieg gegen die | |
Ukraine. Deshalb ist es unsere Aufgabe zu siegen. Und die Aufgabe der | |
zivilisierten Staatengemeinschaft ist es, diese Kranken in Russland zu | |
isolieren, bis sie gesund werden. | |
24 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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