# taz.de -- Rebecca Miller über Musik und Milieu: „Wir müssen hellwach sein… | |
> Die Berlinale-Regisseurin von „Maggie’s Plan“ spricht über neue | |
> Familienmodelle, das New Yorker Akademikermilieu und über Ska-Musik. | |
Bild: Rebecca Miller, Berlin 2016. | |
Frau Miller, in „Maggie’s Plan“ entscheidet sich eine Quäker-Frau gegen … | |
traditionellen Vorstellungen von Familienleben und Empfängnis. Woher kommt | |
das religiöse Element? | |
Rebecca Miller: Ich hatte das Gefühl, dass Maggie ethisch motiviert sein | |
soll. Die Figur habe ich mit Greta Gerwig entwickelt, die Maggie spielt. | |
Einmal hatten wir dabei ein Gespräch, an dessen Ende wir beschlossen, sie | |
soll eine Quäkerin sein. Wir waren auch bei Quäker-Treffen, und wir haben | |
uns so entschieden, weil dies wirklich Leute sind, die anderen helfen | |
wollen. Die Quäker zu erleben, hat etwas sehr Reines an sich. Etwas an | |
Maggies Art von Güte schien einfach gut zu ihnen zu passen. | |
Maggie hat zudem sehr klare Vorstellungen davon, was gut für sie und für | |
andere ist, doch sie passt sich stets an die Wirklichkeit an. Ist sie eine | |
ethische Opportunistin? | |
Sie ist eine wirkliche Person, die in der wirklichen Welt lebt. Sie | |
versucht, aus allem das Beste zu machen. Sie hat den Drang, immer | |
wahrhaftig zu sein. Deshalb tut sie Dinge, die normale Menschen extrem | |
finden würden, bei denen man selbst wohl denkt: Nein, tu das nicht! | |
Was genau hat Sie an dieser Figur interessiert? | |
Ich wollte eine Figur schaffen, die ethisch motiviert ist, bei der es | |
jedoch nicht bloß um Schuldfragen geht. Schuld ist im Grunde eine ziemlich | |
egoistische Idee. Wenn man etwas tut, weil man sich schuldig fühlt, geht es | |
vor allem um einen selbst. Ich wollte sie als positive Figur zeigen. Ich | |
selbst neige stärker dazu, Schuld zu empfinden. In einem meiner Gespräche | |
mit der Autorin der Romanvorlage, Karen Rinaldi, meinte sie, dass es ihr | |
wichtig sei, dass Maggie nicht aus Schuldgefühlen handelt. Ich fand das | |
großartig. | |
Wie sind Sie vorgegangen, als Sie die Figur von Maggie gemeinsam mit Greta | |
Gerwig erarbeiteten? | |
Wir haben bei Greta nicht so sehr ihren Text oder die Szenen verändert. Wir | |
haben manches hinzugefügt, die Sache mit den Quäkern etwa. Es ging uns aber | |
mehr darum, das Vorhandene anzureichern. Bei Julianne (Julianne Moore, die | |
die Figur Georgette spielt; Anm. d. Red.) gab es größere Veränderungen. Sie | |
hatte einige Ideen mit zusätzlichen Szenen, die ich dann für sie entwickelt | |
habe. Sie dachte zum Beispiel, dass es wichtig ist, Georgette bei der | |
Arbeit zu sehen. So habe ich die Szene im Hörsaal hinzugefügt. Und Ethan | |
(Ethan Hawke, der die Figur John verkörpert; Anm. d. Red.) hatte starken | |
Einfluss aus das Ende des Films. Sie haben also alle mitgestaltet. Ich | |
mache das gern so: Ich beginne mit den Figuren, wobei das Casting schon | |
Teil des Schreibprozesses ist. Denn in der Besetzung manifestieren sich | |
deine Figuren. | |
Haben Sie das Drehbuch an die Besetzung angepasst – statt andersherum? | |
Es war ein bisschen von beidem. Das Drehbuch war im Grunde schon recht | |
vollständig, doch es gab eine Reihe von Änderungen, nachdem die Besetzung | |
feststand, und jeder konnte eigene Vorstellungen einbringen. Denn eines, | |
was mir an der Arbeit mit Schauspielern wirklich gefällt, ist, sich in die | |
Einzelheiten der Seele und des Charakters von Menschen zu vertiefen. | |
Ist die experimentelle Familienkonstellation, die Sie im Film vorstellen, | |
auch ein Kommentar zum Wandel unserer Vorstellung davon, was eine Familie | |
überhaupt ist? | |
Auf jeden Fall. Es ist eine schwierige Zeit für Männer und für Frauen. Wir | |
müssen uns die Frage stellen: Was sind wir füreinander? Warum sind wir | |
zusammen? Was ist eine Familie? Fast jeder hat eine Familie, die sich auf | |
die eine oder andere Art gewandelt hat oder wandeln wird. Die Leute müssen | |
jetzt hellwach sein. Wir dürfen einfach nichts für selbstverständlich | |
halten. Nicht, dass die typische Familie mit Mann, Frau und Kindern völlig | |
unbekannt wäre, das kommt immer noch vor. Zugleich gibt es aber immer | |
häufiger Patchworkfamilien, homosexuelle Familien oder alleinerziehende | |
Familien. Man muss sich daher fragen: Wie will ich leben? Was ist für mich | |
die richtige Lebensweise? Diese Krise wird auch im Film reflektiert. | |
Auch die Frage der Grenzen von Selbstbestimmung? | |
Sobald jemand anderes im Raum ist, ist man nicht mehr völlig frei. Wir | |
bestimmen uns immer gegenseitig. Auf der anderen Seite erschaffen wir uns, | |
von Tag zu Tag, durch das, was wir tun. Und Maggie nimmt diesen Gedanken | |
sehr ernst. Selbst wenn sie eine komische Figur ist, ist sie eine sehr | |
ernsthafte Person. Wobei sie, je stärker sie sich bemüht, eine gute Person | |
zu sein, ein umso größeres Chaos verursacht. | |
Ein weiteres komisches Element ist die akademische Selbstveralberung. Der | |
Film wurde daher schon mit Woody Allen verglichen. | |
Er ist ganz sicher eine der Inspirationen für den Film in dem Sinne, dass | |
es ein Film ist, der von Worten getragen wird. Von den Dialogen, die den | |
Humor befeuern und Rhythmen erzeugen: Die Musik und der Rhythmus des Films | |
beruhen zum Teil auf Sprachrhythmen. Das ist die Tradition Woody Allens. | |
Doch es gibt ebenfalls Preston Sturges und weitere große Filmemacher, die | |
ähnlich vorgegangen sind. | |
In einer Szene wird der Philosoph Slavoj Žižek als Hauptredner einer | |
Konferenz angekündigt. War das Ihre Idee, ihn in den Filmkanon aufzunehmen? | |
Ja, einer der Gründe, warum ich ein wenig von diesen akademischen Dingen | |
verstehe, ist, dass eine meiner besten Freundinnen Professor an der New | |
York University ist. Und meine Ideen zu Žižek und… (überlegt) | |
… fikto-kritischer Anthropologie … | |
… fikto-kritischer Anthropologie, genau, rühren daher, dass ich sie kenne | |
und Zugang zu dieser Welt habe. Von Žižek habe ich einiges gelesen und | |
finde ihn faszinierend, ebenso den Kult um ihn. Das Lustige daran ist, dass | |
er ein echter Star ist, ihn andererseits aber die meisten Menschen, die ins | |
Kino gehen, gar nicht kennen. | |
Der Soundtrack besteht zum Teil aus Ska-Klassikern. Haben die auch eine | |
kommentierende Funktion? | |
In gewisser Hinsicht schon. Mit Adam Horovitz, dem Music Supervisor, sprach | |
ich einmal über Doo-Wop, weil ich diese Musik im Film haben wollte. Adam | |
fragte mich dann nach meiner Lieblingsmusik. Und ich meinte: Ska. Darauf | |
meinte er, dass Ska tatsächlich zum Teil Doo-Wop sei, denn der hat den Ska | |
sehr beeinflusst. Und Ska hat einen starken Drive, ist aber auch sehr | |
entspannt, man hat den Eindruck, es ist die Musik von Leuten, die sich mit | |
allem zufriedengeben. Die Erfahrung, die Maggie macht, hat der Ska schon | |
hinter sich. | |
16 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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