# taz.de -- Film über Lee „Scratch“ Perry: Der Teufel muss vor ihm zittern | |
> Für „Lee Scratch Perry’s Vision of Paradise“ begleitete Volker Schade … | |
> Reggae-Musiker 15 Jahre lang. Er lebt von Perrys Persönlichkeit. | |
Bild: Sieht nur so aus wie Dreadlocks: Lee Scratch Perry beim Baden im Meer | |
Er ist einer der einflussreichsten Musiker und Produzenten, die Jamaika | |
hervorgebracht hat. Und einer der verrücktesten. Der Mann mit dem signalrot | |
gefärbten Haupt- und Barthaar, der unter dem Namen Lee „Scratch“ Perry zur | |
Legende wurde, verziert seine Kleidung mit CDs, beklebt seine Stiefel mit | |
allerhand Objekten und sang schon 1986 von sich selbst „I Am a Madman“. | |
Dass man über einen solchen Menschen keinen gewöhnlichen Porträtfilm drehen | |
kann, versteht sich fast von selbst. Der deutsche Filmemacher Volker | |
Schaner nennt seine Langzeitbeobachtung, für die er den Musiker Perry 15 | |
Jahre lang begleitete, denn auch einen „Märchen-Dokumentarfilm“. | |
Darin mischt er seine Kamerabilder und vereinzeltes Archivmaterial mit | |
Animationen der rumänischen Künstlerin Maria Sargarodschi, | |
farbenfroh-holzschnittartige Episoden, die in ihrer naiv anmutenden | |
Überdrehtheit einen passenden Kommentar zur mitunter schwer zugänglichen | |
Gedankenwelt Perrys liefern. Die Animationen wechseln dabei nicht bloß mit | |
den Filmaufnahmen ab, sondern tauchen auch immer wieder wie Vignetten | |
innerhalb der Kamerabilder auf. | |
Seinen Film eröffnet Schaner mit einer Reihe von talking heads, die in | |
knappen Statements die Bedeutung von Lee „Scratch“ Perry hervorheben, | |
darunter der Keyboarder der Krautrock-Band Can, Irmin Schmidt, der von | |
Perry gelernt hat, das Studio als Musikinstrument zu benutzen. Oder der | |
britische Produzent Adrian Sherwood, selbst eine Reggae-Legende, der Perry | |
kurzerhand zu einem der wichtigsten Musiker des 20. Jahrhunderts erklärt. | |
Was im Zusammenhang mit den anderen Lobpreisungen zum leicht | |
hagiografischen Charakter des Films beiträgt, der Sache nach aber | |
vollkommen richtig ist. | |
Lee „Scratch“ Perry, 1936 im jamaikanischen Kendal geboren, neigte selbst | |
nie zu großer Bescheidenheit. In seinem frühen Hit „Run for Cover“ von 19… | |
sang er, an die Adresse des übermächtigen Reggae-Produzenten Sir Coxsone | |
Dodd gerichtet: „Run for cover now / I’m taking over“ – geh in Deckung, | |
jetzt übernehme ich! Tatsächlich sollte er als Produzent von Bob Marley | |
oder seiner Band The Upsetters in seinem Studio mit einfachsten technischen | |
Mitteln neue Klangmöglichkeiten erkunden und die Art des Musikmachens | |
revolutionieren. | |
## Erfindung des Dub | |
Perry ist insbesondere einer der Erfinder des Dub Reggae, bei dem die | |
Tonspuren von bestehenden Songs isoliert und mit Effekten bearbeitet | |
werden. Eine frühe Form des Remix – und von Techno, wie der Dub-Produzent | |
Mad Professor feststellt. Mad Professor ist zugleich die einzige Stimme im | |
Film, die ausdrücklich darauf hinweist, dass Perry sich die Erfindung des | |
Dub mit seinem 1989 verstorbenen Kollegen King Tubby teilt. | |
Ein bisschen schade ist, dass das musikalische Schaffen Perrys meistens wie | |
Hintergrundmusik unter die Kommentare gelegt wird, als kurzes Zitat | |
angerissen. Eindrücklicher sind da die Bilder von Live-Auftritten oder | |
Studio-Sessions. Besonders schön ist eine Szene im Studio mit dem | |
Elektronik-Duo The Orb, in der Perry sich spontan eine Bibel vors Gesicht | |
hält und dazu singt: „This is a facebook.“ | |
Schaners Film lebt im Wesentlichen von Perrys unkontrollierbarer | |
Persönlichkeit. Ständig sieht man ihn, wie er, etwa in seinem Schweizer | |
Studio, dem Secret Laboratory, Kerzen anzündet, ritualartige Handlungen | |
vollzieht, die Wände bemalt oder eines seiner reichlich mit Ornamenten | |
versehenen Kleidungsstücke präpariert. | |
## Die schwarze Bevölkerung Jamaikas retten | |
Perry wird ausgiebig als spiritueller Mensch gezeigt, als ein überzeugter | |
Rastafari, der sowohl den äthiopischen Herrscher Haile Selassie als auch | |
den Panafrikanisten Marcus Garvey verehrt, Babylon in Gestalt der | |
britischen Krone bekämpft und mit seinem eigenen Schaffen eine Revolution | |
herbeiführen will. Sein 1973 gebautes Tonstudio nannte er Black Ark, er | |
wollte damit die schwarze Bevölkerung Jamaikas retten. | |
Schaner präsentiert dazu Archivbilder mit Bob Marley vor dem Black Ark | |
Studio und besichtigt die heutige Ruine, die zurückgeblieben ist: 1979 | |
hatte Perry sein Studio unter nicht vollständig geklärten Umständen | |
niedergebrannt. Wenig später verließ er Jamaika in Richtung Europa. | |
So sieht man Perry, der in seinem Zuhause in einem beschaulichen Schweizer | |
Gebirgsdorf wie ein Außerirdischer wirkt, mit Kühen sprechen oder von | |
seiner Terrasse auf den eidgenössischen Schnee blicken. Bei aller | |
Wahnhaftigkeit hat man nie den Eindruck, dieser Mann sei ernsthaft | |
unglücklich. Er lebt einfach in einem sehr ungewöhnlichen Kosmos. Da | |
überrascht es kaum, dass dem gezeichneten Perry in einer Animation bunte | |
Federn aus den Armen wachsen und er in einem gleißenden Lichtstrahl gen | |
Himmel aufsteigt. Schließlich sagt er von sich selbst: „Ich bin der | |
Erzengel.“ | |
Was der Film nicht mehr zeigen konnte: Im Dezember brannte auch Perrys | |
Secret Laboratory Studio nieder. Er hat nach eigenem Bekunden wohl | |
vergessen, eine Kerze auszumachen. Seine Geräte und Musikarchive sind damit | |
verloren. Selbst Erzengel sind anscheinend nicht unfehlbar. | |
24 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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