# taz.de -- Berlinale-Rückblick: Mit Kino die Welt verändern | |
> Bei der 66. Berlinale werden Filme belohnt, die poetische Bilder für | |
> große politische Fragen finden. Der Goldene Bär ging an einen | |
> Lampedusa-Film. | |
Bild: Ausgezeichnet: Gianfranco Rosi freut sich sichtlich über seine Trophäe. | |
Ist die Berlinale ein politisches Filmfestival? Die Jurypräsidentin Meryl | |
Streep jedenfalls findet am Samstagabend deutliche Worte, als sie den | |
Sieger des Wettbewerbs verkündet. „Es ist ein notwendiger Film“, lautet | |
ihre Begründung dafür, dass der Goldene Bär bei der 66. Berlinale an | |
„Fuocoammare“ geht. Der Beitrag des italienischen Regisseurs Gianfranco | |
Rosi verbinde „Kunst und politische Einsichten miteinander“. | |
Rosi, der zuletzt 2013 in Venedig den Goldenen Löwen für seinen | |
Dokumentarfilm „Sacro GRA“ über die Ringautobahn um Rom gewann, hat diesmal | |
ein dringliches Thema gewählt: die Insel Lampedusa, jenen Vorposten | |
Italiens kurz vor Tunesien, der längst zum Symbol geworden ist. | |
Lampedusa mit seinen überfüllten Auffanglagern für Flüchtlinge, mit den | |
Schiffsunglücken vor seinen Küsten, all das filmt Rosi. Da sind | |
Rettungskräfte, die erschöpfte Menschen an Deck bringen, verängstigt | |
blickende Flüchtlinge auf Rettungsbooten, aber auch ihr ausgelassenes | |
Fußballspiel im Lager. | |
Doch Rosi, der anderthalb Jahre auf Lampedusa filmte, zeigt nicht nur | |
heftige, zum Teil die Schmerzgrenze überschreitende Bilder – in einer Szene | |
sieht man Füße von Leichen im Laderaum eines havarierten Schiffs. Er wendet | |
sich genauso der Bevölkerung Lampedusas zu, in deren Alltag die Flüchtlinge | |
ständig gegenwärtig und dennoch sehr weit weg sind. | |
## Sein träges Auge muss erst sehen lernen | |
Das tut Rosi in aller Ruhe, auf zarte Weise. Sein Protagonist ist ein | |
zwölfjähriger Junge, Samuele Pucillo, der auf der Insel herumstreift und | |
lieber Steinschleudern baut, als mit dem Vater aufs Meer hinauszufahren, wo | |
er schon mal seekrank wird. Samuele lebt wie selbstvergessen in seiner | |
Welt, in der die Flüchtlinge nur scheinbar keine Rolle spielen. | |
Diese schizophrene Situation der Inselbewohner verdichtet Rosi mit einem | |
Kunstgriff, der ein filmischer Glücksfall ist: Als Samuele eines Tages beim | |
Augenarzt untersucht wird, stellt dieser bei seinem Patienten ein „träges | |
Auge“ fest, das sich daran gewöhnt hat, nicht zu arbeiten. Mit diesem Auge | |
muss Samuele erst sehen lernen, um seine Umwelt voll in den Blick nehmen zu | |
können. | |
Damit bündelt Rosi die gegenwärtige Krise Europas in einem ebenso | |
schlichten wie starken Bild. „Wir leben in einer Welt, in der gerade viele | |
Mauern und Grenzen gezogen werden“, lautete Rosis Kommentar in seinen | |
Dankesworten bei der Verleihung. „Am meisten habe ich Angst vor den | |
geistigen Grenzen, die hochgezogen werden.“ | |
Rosis Film ist nicht der einzige Anwärter auf einen Bären, der bleibende | |
Bilder für politische Fragen findet. Seine Mitbewerber haben mitunter | |
stillere Mittel für ihre Anliegen gewählt. | |
## Uneingelöste Hoffnungen der Revolution | |
„Inhebbek Hedi“, das Spielfilmdebüt des tunesischen Regisseurs Mohamed Ben | |
Attia etwa, präsentiert einen Antihelden mit eingeschränkten | |
Handlungsoptionen: Das Leben der Titelfigur Hedi bewegt sich eingekeilt | |
zwischen den Vorbereitungen auf eine arrangierte Ehe und tristem | |
Angestelltendasein. Hedis Überdruss an diesen durch die Familie | |
vorgezeichneten Bahnen bringt Hauptdarsteller Majd Mastoura mit großer | |
Zurückhaltung und kontrollierter Mimik zum Ausdruck. | |
Die tunesische Revolution und ihre uneingelösten Hoffnungen auf Freiheit | |
bilden stets den zeitgeschichtlichen Hintergrund, was in den Dialogen oft | |
leicht vordergründig ausbuchstabiert wird, der nuancierten Figurenzeichnung | |
jedoch keinen Abbruch tut. „Inhebbek Hedi“ bekommt denn auch gleich zwei | |
Auszeichnungen: den Preis für den besten Erstlingsfilm und den Silbernen | |
Bären für den besten Darsteller. | |
Politisches Kino, das sich extremer künstlerischer Mittel bedient, bietet | |
der philippinische Filmemacher Sein Film „Hele Sa Hiwagang Hapis“ (A | |
Lullaby to the Sorrowful Mystery) führt die Zuschauer für acht Stunden | |
durch den Dschungel, wo sich die Geschichte der Philippinen, Dichtung, | |
Lieder und Mythenbilder miteinander vermengen. | |
Diaz setzt ein historisches Ereignis, die Erschießung des philippinischen | |
Dichters und Nationalhelden José Rizal am 30. Dezember 1896, an den Anfang | |
seiner poetischen Erkundung der Kolonialgeschichte seines Landes, das sich | |
im 19. Jahrhundert mit einer Revolution von der spanischen Krone zu | |
befreien versuchte. 485 Minuten nimmt Diaz sich dafür. Dass man sie trotz | |
einiger physischer Pein ohne nennenswerte Ermüdungserscheinungen oder | |
Langeweile durchlebt, ist keine kleine Leistung. | |
## Tuchfühlung mit der Wirklichkeit | |
Der Silberne Bär „Alfred-Bauer-Preis“, der „für einen Spielfilm, der ne… | |
Perspektiven eröffnet“, verliehen wird, hätte als Ehrung nicht besser | |
passen können. Und Diaz nimmt seine Arbeit dabei nicht bloß als Cineast | |
ernst, sondern sieht sich in Tuchfühlung mit der Wirklichkeit. So widmete | |
er den Film in seiner Danksagung „allen Filmemachern, die daran glauben, | |
dass das Kino die Welt verändern kann“. | |
Es gab allerdings auch weniger gut nachvollziehbare Entscheidungen für | |
Filme, die künstlerisch nur bedingt überzeugen konnten. Der Silberne Bär, | |
„Großer Preis der Jury“, für „Smrt u Sarajevu/Mort à Sarajevo“ von D… | |
Tanović ist so ein Fall. Dass die Jury diesem eher plumpen bosnischen | |
Gesellschaftsporträt eine so große Ehre zuteil werden ließ, überrascht | |
angesichts der Konkurrenz dann doch. | |
Zumal mit André Téchinés genau beobachteter und wenig vorhersehbarer | |
Coming-of-Age- und Coming-out-Geschichte „Quand on a 17 ans“ einer der | |
stärksten Filme im Rennen völlig leer ausgeht. Allein in der Freiheit, die | |
Téchiné der Entwicklung seiner Figuren zugesteht, ließe sich weit mehr | |
politische Relevanz – und filmische Eleganz – entdecken. | |
Insgesamt kann man mit dem Wettbewerb gleichwohl zufrieden sein. Das „Recht | |
auf Glück“, das die Klammer für diese Ausgabe der Berlinale bildete, wird | |
dankenswerterweise auf undogmatische Art ausgelegt. | |
## Glück durch Illusionen | |
So überzeugen die Coen-Brüder in ihrem außer Konkurrenz gezeigten | |
Eröffnungsfilm „Hail, Caesar!“ mit einer Hommage an die heroischen Tage der | |
großen Hollywoodstudios, in der sie ausgiebig Gebrauch machen von der | |
Möglichkeit, Glück durch Illusionen zumindest kurzfristig zu spenden – mit | |
visuell opulenten Bildern, die ihre Künstlichkeit ohne Scham offensiv | |
ausstellen. | |
Der Regisseur Spike Lee hat sich hingegen, ebenfalls außer Konkurrenz, mit | |
„Chi-Raq“ seinen eigenen Reim auf die „Black Lives Matter“-Bewegung in … | |
USA gemacht – und kaum weniger opulente Choreografien aufgeboten als die | |
Coen-Brüder. | |
Herausgekommen ist ein Musicalbastard auf der Grundlage von | |
Aristophanes‘Satire „Lysistrata“, deren Grundidee – Frauen treten in ei… | |
Sexstreik, um ihre Männer zur Beendigung ihres Krieges zu bringen – von | |
Spike Lee übertragen wurde auf die heutige South Side von Chicago, wo die | |
Mordrate jährlich traurige Rekorde erzielt. | |
Alles in allem überdreht in seinen Bildern, Farben und Worten – die | |
HipHop-Kultur einschließlich ihres verbreiteten Sexismus wird drastisch zur | |
Karikatur überzeichnet –, verfolgt Lees Film ein im Kern ernsthaftes | |
Anliegen, das er nie aus dem Blick verliert. | |
## Unangenehm didaktisch | |
Umgekehrt muss ein wichtiges Thema wie die weibliche Selbstbestimmung bei | |
der Abtreibung während einer Risikoschwangerschaft in „24 Wochen“, der | |
deutsche Beitrag, nicht zwangsläufig einen guten Film ergeben. | |
Anne Zohra Berracheds Regiearbeit blieb selbst in ihren Andeutungen und | |
Gesten unangenehm didaktisch und bekommt zu Recht keinen Bären. Da hilft es | |
auch nichts, dass sich die Hauptdarsteller Julia Jentsch und Bjarne Mädel | |
bemühen, aus der Vorlage das Beste zu machen. Vor allem der frühere | |
„Tatortreiniger“-Star Mädel kann seiner ernsten Rolle klare Konturen | |
verleihen. | |
Die Berlinale ist eben kein ausschließlich politisches Festival. Um es in | |
Meryl Streeps Worten zu sagen: Man muss politische Einsichten immer noch | |
mit Kunst verbinden. | |
Alle Preisträger der Berlinale finden Sie [1][hier]. | |
21 Feb 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Preise-der-Berlinale/!5279954/ | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Gianfranco Rosi | |
Lav Diaz | |
Lampedusa | |
Joel und Ethan Coen | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Golden Globes | |
taz.gazete | |
Filmfestival | |
Filmfestival | |
Komische Oper Berlin | |
Filmfestival | |
Reggae | |
Filmbranche | |
Film | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Akademie der Künste Berlin | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regisseurin über Altern auf dem Land: „Wissen, wer Willi ist“ | |
„Aus einem Jahr der Nichtereignisse“ ist ein Film jenseits des Weltbetriebs | |
und der Großereignisse. Ann Carolin Renningers Film ist angenehm daneben. | |
Berlinale-Jurorin Maggie Gyllenhaal: Vielseitig und politisch mutig | |
Eine Oscarnominierung hat sie schon, jetzt vergibt sie erstmal selbst | |
Awards: Maggie Gyllenhaal ist Teil der Jury der Berlinale 2017. | |
Stars bei den Golden Globes: Weinen wegen Trump | |
Meryl Streep findet bei der Hollywood-Gala klare Worte gegen Trump: | |
„Respektlosigkeit lädt zu Respektlosigkeit ein, Gewalt animiert zu Gewalt.“ | |
Sexismus in Kultur und Medien: Der Geniekult ist männlich | |
Erstmals ist es amtlich: Frauen werden in Kultur und Medien benachteiligt. | |
Eine Studie des Kulturrats empfiehlt eine Quote für Gremien. | |
Jüdisches Filmfestival in Berlin: Die Leinwand wird zum Politikum | |
Das Jüdische Filmfestival setzt gleich zum Start am Samstag auf Chuzpe – | |
und liefert zum Beispiel sportliche Lösungsvorschläge für den | |
Nahostkonflikt. | |
Bunt gemixtes Kurz Film Festival: Schöne, kleine, neue Welten | |
Das 32. Internationale Kurz Film Festival in Hamburg vereint ab kommenden | |
Dienstag wieder sehr verschiedene Arbeiten – und davon insgesamt rund 400 | |
Mozarts „Don Giovanni“ zensiert?: Kein Sex in der Türkei | |
Zwei italienische Zeitungen sagen, die Komische Oper Berlin habe Mozarts | |
Oper „Don Giovanni“ aus Rücksicht auf Ankara zensiert. Die Oper verneint. | |
Frauenfilmfestival Dortmund/Köln: Arbeit als exorzistische Therapie | |
Schauplatz Mexiko: Beim diesjährigen Frauenfilmfestival gab es einen | |
Schwerpunkt mit Filmen aus dem vom Drogenkrieg geplagten Land. Ein Fazit. | |
Film über Lee „Scratch“ Perry: Der Teufel muss vor ihm zittern | |
Für „Lee Scratch Perry’s Vision of Paradise“ begleitete Volker Schade den | |
Reggae-Musiker 15 Jahre lang. Er lebt von Perrys Persönlichkeit. | |
Hans-Werner Meyer über Schauspieler: „Keine Klassengesellschaft“ | |
Aus einer Studie geht hervor, dass nur wenige britische Schauspieler aus | |
dem Arbeitermilieu stammen. Wie sieht es in Deutschland aus? | |
Argentinischer Kino-Film „El Clan“: Zuhause als Versteck und Folterraum | |
Der Thriller „El Clan“ von Pablo Trapero erzählt eine Familiengeschichte | |
mit Aufbruch und Untergang. Am Ende stehen Dekadenz und Paranoia. | |
Regisseur Diaz über philippinisches Kino: „Ich drehe nur einen einzigen Film… | |
Der philippinische Regisseur Lav Diaz bricht mit einem 8-Stunden-Film den | |
Rekord. Ein Gespräch über Unabhängigkeit, Kunst und Kompromisse. | |
Berlinale-Ausstellung: Forum Expanded: Abgrundtiefe Lufträume | |
Die Akademie der Künste zeigt hochpolitische Arbeiten, bei denen Film und | |
zeitgenössisches Kunstschaffen miteinander paktieren. | |
Iranisches Jugendkino auf der Berlinale: In den Nischen Teherans | |
Jugend ohne Gott – der Spielfilm „Valderama“ und die Doku „Royahaye Dame | |
Sobh“ stehen für das junge iranische Kino auf der Berlinale. | |
Wettbewerb der Berlinale 2016: Die Welt ist immer noch die gleiche | |
„L’avenir“ von Mia Hansen-Løve zeigt Isabelle Huppert als desillusionier… | |
Philosophielehrerin an der Schwelle zu einem neuen Leben. | |
Preise der Berlinale: Goldener Bär für Flüchtlings-Doku | |
Achtzehn Filme im Wettbewerb, acht erhalten einen Preis: Die Berlinale-Jury | |
streut ihre Anerkennung breit. Das Flüchtlingselend nimmt sie besonders in | |
den Blick. | |
Acht Stunden Revolution im Film: Schmal sind oft die Pfade | |
Lav Diaz‘ „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ ruft die philippinische | |
Revolution aus dem Nebel der Geschichte zurück. Acht Stunden lang. |