| # taz.de -- Regisseur Diaz über philippinisches Kino: „Ich drehe nur einen e… | |
| > Der philippinische Regisseur Lav Diaz bricht mit einem 8-Stunden-Film den | |
| > Rekord. Ein Gespräch über Unabhängigkeit, Kunst und Kompromisse. | |
| Bild: „Autonomie ist ein sehr hohes Gut“: Regisseur Lav Diaz. | |
| In Berlin sinken die Temperaturen. Lav Diaz ist kalt, er braucht warmen | |
| Reis, gesteht das aber erst nach unserem Gespräch. Er nimmt sich viel Zeit, | |
| hat unendlich Geduld, Ausdauer, Power. Auf fast natürliche Weise übertragen | |
| sich diese Eigenschaften auf einen selbst, nicht zuletzt als Zuschauer | |
| seines achtstündigen Geschichtsepos „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“, | |
| das alle herkömmlichen Berlinale-Wettbewerbsrahmen sprengt. Er war sogar | |
| gegen eine Pause, wollte 485 Minuten durchgehend wirken lassen. Hat nicht | |
| geklappt. | |
| taz: Herr Diaz, Sie gelten ja als einer der wichtigsten, wenn nicht gar als | |
| der wichtigste Independent-Filmemacher der Festivalszene . . . | |
| Lav Diaz: . . . diesmal haben wir sogar staatliche Förderung bekommen, etwa | |
| Reisekostenzuschüsse für gleich mehrere Schauspieler. (Diaz’ Managerin und | |
| neuzeitliche Schauspielmuse Hazel Orencio, die im Film als Gregoria De | |
| Jesus zu sehen ist, zeigt “thumbs up“) | |
| Ich wollte eigentlich fragen, ob die Unabhängigkeit als Filmemacher auch | |
| etwas mit dem Unabhängigkeitskampf der Philippinen gegen die spanische | |
| Kolonialherrschaft zu tun hat, der im Zentrum von „Hele Sa Hiwagang Hapis“ | |
| steht. | |
| Klar, Autonomie ist ein sehr hohes Gut. Sie bedeutet Freiheit. Für mich ist | |
| das absolut wichtig. Das sind essenzielle, universelle Dinge. Denn die | |
| Rahmenbedingungen eines Systems, eines Marktes bedeuten Einengung bis hin | |
| zu Unterdrückung. Es gibt da oft keinen Spielraum mehr. Für die | |
| philippinische Befreiungsbewegung, allen voran für José Rizal, der für | |
| mich, mein Land und meinen Film eine entscheidende Rolle spielt, war das | |
| sicher ähnlich. | |
| Rizal, der philippinische Nationalheld, schrieb mit „Noli me tangere“ und | |
| „El filibusterismo“ jene beiden Werke, die nicht nur den Anstoß für die | |
| Revolution von 1896 gaben, sondern auch für Ihren Film nicht ganz unwichtig | |
| sind. | |
| Genau. Und das Verrückte – mit Blick auf die Weltpremiere hier in Berlin – | |
| ist, dass er diese Romane, zumindest „Noli“, in Deutschland schrieb, wo er | |
| studierte, zuerst in Heidelberg, dann in Berlin. Hier erhielt er seine | |
| Ausbildung, hier wurde das Buch publiziert, das die Rebellion gegen die | |
| Spanier, vor allem gegen den Klerus, entfacht hat. „Fili“, das Sequel, | |
| entstand schon nach seiner 1887 erfolgten Rückkehr auf die Philippinen. | |
| Diesem Aufrührertext verdankt unser Land sehr viel. Und nicht nur unser | |
| Land: Man muss sich die Bedeutung der philippinischen Revolution vor Augen | |
| führen. Sie wurde zum Modell für viele indigene Befreiungsbewegungen, die | |
| alle erst nachher kamen. | |
| Im Film wird ja auf Rizals Hinrichtungs- und damit Todesdatum, den 30. 12. | |
| 1896, verwiesen. Der 30. 12. ist zugleich das Geburtsdatum eines anderen . | |
| . . | |
| . . . ja, meines! Purer Zufall. | |
| Oder doch magische Verheißung? Setzen Sie nicht fort, was mit José Rizal | |
| begann? | |
| Ich habe mich unglaublich intensiv mit seinen Büchern auseinandergesetzt. | |
| Viel recherchiert. So ist das Drehbuch für den Film entstanden. Schon vor | |
| etlichen Jahren übrigens, nur gab es damals nicht genug Geld. Ich habe das | |
| Buch fast komplett überarbeitet. Es ist der Versuch eines sehr komplexen | |
| Verwebens historischer und mythologischer Ebenen. | |
| Da ist zum Beispiel mit Andrés Bonifacio, dem „Supremo“ der revolutionären | |
| Katipunan, eine zentrale historische Figur des Freiheitskampfs, ein | |
| Märtyrer. Andere Figuren wie der Brillenträger Simoun aka Crisostomo | |
| Ibarra, der Captain-General, mit dem Simoun kollaboriert, oder die beiden | |
| Freunde Basilio und Isagani entspringen Rizal-Büchern. | |
| Genau, dazu kommt aber noch die Mythologie, die Bernardo- Carpio-Legende, | |
| die „engkanto“, also Geister etwa, oder Tikbalang, dieses Wesen, das halb | |
| Pferd, halb Mensch ist. Diese drei Stränge, den historischen, den | |
| literarischen und den mythologischen miteinander zu verbinden, zu verweben, | |
| war sehr schwer. Man braucht lange, bis man merkt, dass daraus eins | |
| geworden ist. | |
| Wann merkt man, dass es funktioniert? | |
| Filmemachen ist für mich ein freier, lebendiger Prozess. Manche Dinge im | |
| Drehbuch werden beim Dreh „adjustiert“, das gedrehte Material wird dann | |
| aber beim Schneiden auch teilweise neu strukturiert. | |
| Treffen Sie die wichtigen Entscheidungen alle allein? | |
| Ja, doch. Das Editing ist ganz meine Angelegenheit. | |
| Da redet niemand mit? | |
| Nein. Beim Schnitt nicht. Klar, beim Drehen einzelner Szenen tausche ich | |
| mich mit meinen Schauspielern aus. Etwa wenn Hazel [Orencio] als Gregoria | |
| ihren verschwundenen Ehemann sucht, wie sie leidet, wenn sie von seiner | |
| Ermordung erfährt. | |
| Gregorias 30-tägige Spurensuche, die diesen Film zeitlich begrenzt, scheint | |
| symptomatisch für Ihre filmische Strategie, die unfassbare Gewalt der | |
| Kolonialherren nicht einfach abzubilden, sondern ex negativo, über das | |
| Verschwinden und Verwischen der Spuren zu thematisieren. Genauer: über den | |
| Widerstand gegen dieses Verschwinden. | |
| Die Erfahrungen der Revolution sind bis heute traumatisch. Damals wie heute | |
| ging es um dasselbe. Die Welt ändert sich nicht sehr. Okay, technischen | |
| Fortschritt ausgenommen. Aber im Wesentlichen ändert sie sich nicht. Die | |
| Menschen bleiben dieselben. Die Leiden auch. Der Kampf. Wir kämpfen heute | |
| auch gegen den Imperialismus, gegen Unterdrückung, gegen Vergewaltigungen. | |
| Die Welt heute – das sind Szenarien des Hungerleidens, der | |
| Flüchtlingskatastrophen, traumatischer Erfahrungen. | |
| Und die Sache mit dem Verrat, der Reue hervorruft? Simoun ist so eine | |
| Figur, ein Profiteur. Aber auch Caesaria. Wie in Ihren von Dostojewski | |
| inspirierten Filmen sind das Menschen, die die Beichte suchen, sühnen | |
| wollen. | |
| Auch die Menschen sind gleich. Sie alle leiden, tragen innere Kämpfe aus. | |
| Meine Helden sind für mich alle gleichwertige Figuren. | |
| Es gibt keinen Auserwählten? Kein Role-Modell? Ich hätte auf Isagani | |
| getippt. Er ist wie Sie selber ja auch ein Mediator über Generationen | |
| hinweg. Ein Poet, ein Gitarrist, ein Intellektueller. | |
| Ein Medium. Das ist schon das richtige Wort. So verstehe ich mich auch. | |
| Mehr kann Kunst nicht sein. | |
| Verlieren Sie – gerade jetzt – nie den Glauben an die Kunst? | |
| Gerade jetzt wird sie gebraucht. Kunst ist das Einzige, was zurzeit wichtig | |
| ist. Ich glaube fest an sie, an das Kino. | |
| Ändert das Kino den Menschen? | |
| Nein, das glaube ich nicht. Obwohl . . . wir haben bald Wahlen, im Mai. | |
| Deshalb haben wir den Kinostart von „Hele Sa Hiwagang Hapis“ für den März | |
| angesetzt. Vielleicht kann dieses schmerzhafte Thema die Menschen dazu | |
| bringen, das Richtige zu wählen. | |
| Hat das Kino auf den Philippinen einen so hohen gesellschaftlichen | |
| Stellenwert? | |
| Absolut. Es ist ein sozialer, politischer Faktor. | |
| Wird Ihr Film Feinde haben? | |
| Das weiß ich nicht. Vielleicht bringen sich die Erben des größten | |
| philippinischen Verräters aller Zeiten, Emilio Aguinaldo, in Stellung. Die | |
| Rezeption dieser Figur wird gerade manipuliert. Für mich ein Arschloch, ein | |
| richtiges Schwein. Ein Tagalog, der die Revolution verraten hat. | |
| Man braucht viel Vorwissen, um diesen Film zu verstehen. Versuchen Sie, den | |
| Stoff auf die Zuschauer zuzuschneiden, haben Sie das Publikum – vielleicht | |
| gar ein westliches – im Kopf? | |
| Nein, bewusst nicht. Festivals mit ihren Strukturen sind ja sowieso ein | |
| erster Schritt zum Kompromiss. Ich versuche mich weitestmöglich von dieser | |
| Kompromittierung fernzuhalten. | |
| Womit wir wieder beim Independent-Regisseur wären. Konkret: Welche | |
| ästhetischen Überlegungen gehen diesem Film voraus? | |
| Es war für mich eine tolle Erfahrung, im Bildformat 4:3 zu arbeiten. | |
| Visuell gibt es Anlehnungen an die philippinische Comic-Tradition – schon | |
| José Rizal hat illustriert! –, an die Lichtgebungseffekte des | |
| Expressionismus und an das Chiaroscuro. Diese drei Einflüsse waren hier | |
| zentral. | |
| Die hohe Künstlichkeit fällt auf. Sie ermöglicht aber erst den fast | |
| unauffälligen Übergang zum Mythischen. | |
| Auch den von der faktischen zur imaginären und der universellen Ebene. | |
| Gibt es einen Film Ihres Œ uvres, mit dem „Lullaby“ am stärksten | |
| korrespondiert? Mit „Melancholia“? | |
| Mit allen. Ich drehe eigentlich nur einen einzigen Film. | |
| Einen langen Film. | |
| (schmunzelt): Einen einzigen, sehr langen Film. | |
| 21 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Wurm | |
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