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# taz.de -- Halbfiktionaler Filmessay „Francofonia“: Ein Museum im Krieg
> Augenzwinkerndes Aufklärertum: Alexander Sokurows hybrider Filmessay über
> den Pariser Louvre verhandelt menschliches Leid über die Kunst.
Bild: Die Besatzer im Grand Louvre.
Es gibt Regisseure, die eine lebenslange Carte blanche zu besitzen
scheinen. Freigeister sind das, Menschen, die sich einfach herausnehmen,
mit ihrem Medium das zu machen, wonach ihnen ist. Nicht selten führt ihr
innerer Freiheitstrieb bis an die Randzonen des Sagbaren, oft auch des
Denkbaren.
Sie sind es, die Gesellschaften ihre Diskursgrenzen offenbaren. Sie sind
es, die aktuelle Rahmungen dessen, was sich Kultur nennt, reflektieren. Die
experimentieren, tüfteln, grübeln, recherchieren, zusammenbauen, wenn
möglich ordnen, kommentieren. Das sind die Zutaten der klassischen
Essayisten.
Einer von ihnen ist Alexander Sokurow. Seit Jahrzehnten etabliert er sich –
zunächst in der direkten Erblinie Andrei Tarkowskis, bald schon
eigenständig – als idiosynkratische Gegenstimme eines Landes, dessen
Kulturpolitik in einem Minenfeld zwischen Bürokratie, Oligarchie und
neuerdings wieder Ideologie liegt. Er gilt als leiser Mahner (im
Tschetschenien- wie im Ukraine-Krieg), der vermitteln kann (Putin empfängt
ihn, noch).
Sein internationales Renommee, besonders in Frankreich, Italien und
Deutschland, trägt dazu genauso bei wie seine Aktivitäten als
Filmschulen-Leiter in Naltschik. Ob die widerspenstige Soldatenmutter in
„Alexandra“ (2007) oder die sprachbabylonische Dynamik in „Faust“ (2011…
da ist einer am Werk, der im heutigen Kino nur noch an der
Wacky-Werner-Herzog-Skala gemessen werden kann.
## Sokurows persönlicher Gipfelsturm
Es ist dieses schüchtern-störrische Element im Charakter, das „Francofonia�…
vielleicht nun zu so etwas wie Sokurows persönlichem Gipfelsturm macht. Ein
filmischer Essay, der schon gattungsmäßig sämtliche
Kategorisierungsversuche sprengt: Zusätzlich zur Collage aus
dokumentarischen, fiktionalen und animierten Elementen ist auch die
Verbindung von Archiv-Footage und Reenactment furios. Sie dient zur
Heraufbeschwörung des historischen Paris im Zweiten Weltkrieg. Der Louvre
steht dabei im Zentrum. Ein Museum im Krieg.
Den Beginn macht aber die eigene Stimme. Der Regisseur im Arbeitszimmer, im
Zwiegespräch mit sich selbst, dann vor dem Bildschirm und per Skype im
philosophischen Dialog mit Containerschiffskapitän Dirk, dessen Cargo –
Kulturgut! – gefährdet ist. Schon allein das ist typisch Sokurow: das
menschliche Leid über Kunst zu verhandeln.
## Sinkende Container mit Museumsfracht
Nicht die Flüchtlingskatastrophen adressiert er, nein, sinkende Container
mit Museumsfracht. Kunst und Kultur sind das Erbe der Menschheit, auch wenn
sie in Trümmern liegt. Und diese Botschaft zu verkünden – das wird durch
die wehmütigen Seitenblicke auf die nunmehr tief schlafenden und ergo
schweigenden Propheten Lew Tolstoi und Anton Tschechow deutlich – obliegt
nun Künstlern wie ihm.
Den Gefahren des Ozeans stellt Sokurow die architektonischen Festungen der
Städte gegenüber. Natur versus Kultur. Eine Drohnen-Kamera mit mehr
phantasmagorischer als surveillance-Qualität schwebt über Paris, auf der
Suche nach dem Louvre, Kernsymbol menschlicher (und auch europäischer)
Kultur. Hier werden wir auf eine Reise mitgenommen durch die Säle des
Museums, kurz verweilend über Oberflächen, Bildern, Motiven.
Mal schaut Napoleon vorbei, mal die Marianne. Eine ähnliche Tour hat
Sokurow, wir erinnern uns, bereits in „Russian Arc“ (2002) durch die
Petersburger Eremitage unternommen. Nur war dieser One-Shot-Kraftakt nicht
nur visuell, sondern vor allem im Narrativ viel geschlossener (und
ärgerlich kulturdeterministisch).
## Fulminantes Spiel mit Assoziationsketten
„Francofonia“ hingegen entpuppt sich als wesentlich verrückter, als
fulminantes Spiel mit Assoziationsketten und Geschichtsallegorien.
Spätestens wenn Hitler und die Seinen im Sommer 1940 in die leergefegte
Hauptstadt Frankreichs einziehen und sich der „Führer“ – wie ein paar
Einstellungen zuvor der Filmregisseur – auf die Suche nach dem berühmtesten
Museum der Welt begibt, ist man geneigt, Sokurows erstaunlich wenig
raunendem und phasenweise sogar augenzwinkerndem Aufklärertum zu folgen.
Die Frankophonie ist polyphon. Hitler spricht: „Ah, eine Gerade! Eine
Gerade! Wo ist denn der Louvre? Ah! Der Louvre ist da. Wie gut, dass er da
ist! Er hat mich schon immer fasziniert. Da, wo er hingehört. Großartige
Architektur auf der ganzen Linie.“ Dazu sieht man jenes Chronik-Material
der Nazi-Größen in Paris, das Marcel Ophüls Vierstünder „Le chagrin et la
pitié“ schon 1969 ausgegraben und verwendet hat.
Doch Sokurow setzt noch eins drauf und inszeniert den Kern des Films
selbst: einen vorgeblich alten dokumentarischen Spielfilm, der das
Zusammentreffen und die eigenwillige Kollaboration des Kulturbeauftragen
der Nazis, Graf Franz von Wolff-Metternich, mit dem Louvre-Direktor Jacques
Jaujard schildert. Zwei Bildungsgrößen, Besatzer und Besetzter, einigen
sich inmitten des weltweiten Schlachtens – etwa im Blockade-Leningrad, auch
hiervon gibt es Footage – auf die Evakuierung von Kulturgut im Sinne des
Kunstschutzes.
Die großen Nationen, ihr Geist (und ihre Geister), Europa und die Kunst,
die Welt und ihr Verbleib – das ist hier Thema. Der Film: Ein Kommentar zum
ewig währenden Verhältnis von Kunst und Krieg, Humanismus und Macht sowie
(Kultur-)Erbe und Ideologie. Für viele mag das prätentiös erscheinen, für
andere trübsinnig. Und doch ist das Gegenteil der Fall – Sokurows
Film-Meditation über das, was sich Zivilisation nennt, holt weit aus, ist
aber ganz bei sich.
3 Mar 2016
## AUTOREN
Barbara Wurm
## TAGS
Louvre
Werner Herzog
Paris
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Schwerpunkt Berlinale
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Filmfest Bremen
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