# taz.de -- Berlinale-Film über Loser-Europäer: Generation Enttäuschung | |
> „We are never alone“ spielt in der tschechischen Provinz, erzählt aber | |
> viel vom auseinanderfallenden Europa der Gegenwart. | |
Bild: Klaudia Dudová in „We Are Never Alone“. | |
Mag sein, dass dies nur ein Film über die tschechische Provinz ist. Über | |
das Dasein in einem abgeschiedenen Nest, wo es außer Gemischtwarenhandel | |
und Strip-Bar, Knast und Wald nicht mehr viel gibt. Aber gerade darin, dass | |
es hier um die Provinz geht, in einem mitteleuropäischen Land obendrein, | |
das selber vor allem Provinz ist, wird Petr Václavs „Nikdy Najsme Sami“ | |
(“We are never alone“) zu einem sehr zentralen, vielleicht sogar zu dem | |
zentralen Film über Europa heute und uns darin. | |
Schon das graphische Design der Credits markiert Schattierungen und | |
Nuancierungen. Ein schrilles und doch abgedunkeltes Orange im | |
Breitwandformat dominiert die Leinwand, darauf fette schwarze Lettern und | |
sparsam gesetzte Kratzer als Artefakte eines Filmstreifens. Kleines Kino | |
ganz groß lautet die Message, independent und B-Movie-like – die Einpassung | |
von sehr Schrägem in präzise gesetzte Rahmen. | |
Mit derselben Schrillheit versehen sind dann (und zwar nur in jenen | |
Passagen, für die der Film aus seinem gräulichen Schwarz-Weiß in Farbe | |
umspringt) auch Miniröcke und Fingernägel der weiblichen Protagonistinnen: | |
einer Romni-Stripperin, die ihren im Gefängnis verwahrten Typen liebt, | |
während sie selber vom Barbesitzer-Zuhälter (auch er Rom) begehrt wird, | |
sowie einer Verkäuferin, verheiratet mit einem (dünnen, weißen) | |
Hypochonder, aber eines Tages verliebt in den (weichen, bärenförmigen) | |
Barbesitzer. | |
Für diesen kommt ihr Geständnis – schließlich gehört sie einer anderen | |
Schicht an – mindestens so überraschend wie die stolzen Abweisungen seiner | |
Angebeteten. Gleichsam Retter-Natur lässt er sich auf die gelegentliche | |
Bettwärme ein und ist vollends überfordert erst, als die Frau (Typ | |
Hausfrau) ihm erklärt, sie wolle in seinem Nachtclub arbeiten. | |
Václav, der schon in seinem letzten Film, „The Way Out“ vom Neben- als | |
Miteinander von Tschechen und Roma erzählt hat (nur filmisch sehr viel | |
konventioneller), komplettiert seine zwar skurril anmutenden, aber doch | |
absolut realistisch gehaltenen Figurenkonstellationen durch jenes schräge | |
Paar, das gebildet wird aus Hypochonder und dessen Nachbarn, einem | |
paranoiden Gefängniswärter, der dem Filmtitel beiläufig zu einem markanten | |
Dreifachsinn verhilft: „Wir sind niemals allein“ verspricht Solidarität da, | |
wo Sozialkontrolle gemeint ist. | |
## Restlos enttäuschte Generation | |
Aberwitzig und gleichzeitig schauderhaft wirklichkeitsgetreu sind die | |
ziellos-wachsamen Waldspaziergänge dieser beiden Parallelwelten-Männer, | |
deren Aufrüstung gegen die Beleidigungen der Gesellschaft bald in | |
Schusswaffenbesitz und Bürgerwehr-Bildung kulminiert. Verbarrikadiert | |
hinter Zäunen und Mauern, erfolgt der Kontakt zum Außen nur noch über den | |
Sucher. | |
Von allem ist diese Generation Loser-Europäer restlos enttäuscht, vom | |
Kommunismus damals, vom Kapitalismus heute, vom Staat also und vom Weib | |
sowieso, nicht zu sprechen erst von den Kindern (die dann allerdings wahre | |
Worte über ihre Väter sprechen: „Dein Vater hat Angst vor Krankheiten, | |
meiner vor Menschen.“). | |
Der Hass auf sich selbst und dieses vertane Leben entlädt sich – gegen | |
Fremde, Andere, Frauen, Junge. Und weil Pegida nicht überall so gut | |
formiert ist wie in Deutschland, bleibt diesen Anti-Helden nur die radikale | |
Flucht ins private Ressentiment. Sie endet dramatisch, die innere Revolte, | |
so viel sei vorweggenommen. Denn auch in ihrem Handeln sind sie niemals | |
allein. | |
18 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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