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# taz.de -- Historien-Epos „Marketa Lazarová“: Wölfe im Schnee, Menschen …
> Ein Mittelalterstreifen gilt als der beste tschechische Film aller
> Zeiten. 1967 wurde er gedreht, doch lief niemals in deutschen Kinos – bis
> jetzt.
Bild: Marketa Lazarová wird entführt, verliebt sich in ihren Vergewaltiger un…
Es ist im Nachhinein oft schwer zu sagen, warum – das betrifft natürlich
alle künstlerischen Gattungen – manche Meisterwerke nie das große Publikum
erreicht haben, das sie eigentlich verdienen würden. Auf František Vláčils
Film „Marketa Lazarová“ von 1967 trifft das allerdings nur so halb zu. Der
Film war durchaus erfolgreich, lief in den Jahren nach seiner Entstehung
auch auf Festivals im westlichen Ausland und wurde im Jahr 1998 in einer
Umfrage unter tschechischen Kritikern und Filmmenschen zum besten
tschechischen Film aller Zeiten gewählt. Aber die ganz großen
internationalen Wellen schlug er weder Ende der sechziger Jahre noch
später.
In Deutschland zum Beispiel lief „Marketa Lazarová“ nie im Kino – anders
als während des Prager Frühlings entstandene Werke von RegisseurInnen der
tschechoslowakischen „neuen Welle“ wie Jiří Menzel, Věra Chytilová oder
Miloš Forman, die in den neunziger Jahren nachträglich auf die Leinwände
kamen und als Botschaften aus einer vergangenen politischen Epoche bestaunt
wurden.
Vláčils Opus magnum passte da nicht ins Bild – ein fast dreistündiges
Mittelalter-Epos, das ja nach 1968 nicht einmal verboten worden war und
auch dem Alltag im real existierenden Sozialismus zu weit entrückt schien,
um, oberflächlich gesehen, irgendwie politisch relevant sein zu können.
František Vláčil (1924–1999) gehörte nicht zum Personal der „neuen Well…
die sich aus AbsolventInnen der Prager Filmhochschule FAMU konstituierte.
Er war ein paar Jahre älter, hatte in Brno Kunstgeschichte studiert und als
bildender Künstler gearbeitet. Seine Laufbahn als Filmregisseur hatte er
bei der tschechoslowakischen Armee begonnen, die damals tatsächlich eine
künstlerisch ambitionierte Filmabteilung unterhielt.
## Ein wirklich fieser Erzähler
„Marketa Lazarová“ war Vláčils dritter Film. Er ist eine visuell kühne,
visionäre und auf entschieden eigene Art kongeniale Adaption eines
berühmten, 1931 erschienenen Romans des avantgardistischen Autors Vladislav
Vančura.
Den Roman zeichnen unter anderem drei Dinge aus: eine raffinierte
erzählerische Schnitt- und Rückblendentechnik; eine ungemein plastische,
mitunter fast übergenaue Beschreibung von Szenendetails, die das
mittelalterliche Setting der Geschichte konkret spürbar machen; und vor
allem: ein geradezu aufdringlich allgegenwärtiger, allwissender, alles
kommentierender Erzähler, der nicht nur die Figuren wie Marionetten durch
seine Geschichte zu führen scheint, sondern gleichzeitig unablässig mit den
Lesern kommuniziert. Man möchte sich diese Erzählerfigur mit einem
sardonischen Grinsen im Gesicht vorstellen. Sein Humor ist von der
finsteren Art.
Anders als die beiden ersten Dinge, die dem Medium Film sehr entgegenkommen
(der vielbegabte Vančura verdiente sein Geld unter anderem auch als
Filmemacher) ist ein allgegenwärtiger Erzähler kaum ins Filmische
übertragbar, wenn man kein permanentes Voice-over über die Bilder legen
will.
František Vláčil und sein Koautor František Pavlíček haben sich beim
Verfassen des Drehbuchs auf nur wenige Erzählerkommentare beschränkt und,
um die narrative Ebene anderweitig zu verstärken, längere Zwischentitel
eingefügt. Das ist natürlich eine Behelfslösung, die man für mehr oder
weniger angemessen halten kann, die aber anzeigt, wie sehr dem Regisseur
daran gelegen war, die künstlerische Absicht des Romanautors so adäquat wie
möglich wiederzugeben.
## Eine Fülle von Figuren
Vančuras erzählerische Schnitttechnik hat Vláčil mit den visuellen Mitteln
des Films wiederum sehr viel weitergetrieben, als sie im Buch angelegt ist.
Zwar behält er eine zugrundeliegende chronologische Linearität bei,
fragmentiert die Erzählung jedoch stark und überlagert sie mit Rückblenden
und Zwischenvisionen, die oft schwer zu deuten sind und deren Perspektive
stets interpretierbar bleibt.
Vor allem Zuschauer, die den Roman nicht kennen, haben einiges damit zu
tun, Figuren, Handlungsorte und Zeitebenen auseinanderzuhalten. Der
amerikanische Filmwissenschaftler Tom Gunning schreibt dazu, er habe den
Film viermal sehen müssen, um seine Handlung zu begreifen, und bis zum
Schluss nicht allen Figuren einen Namen zuordnen können.
Es ist allerdings eher fraglich, ob man das wirklich können muss. Denn
gerade in einer gewissen Desorientiertheit des Zuschauers spiegelt sich die
multiperspektivische Zerrissenheit des Films, dessen Protagonisten selbst
ebenfalls nur über ein fragmentarisches, subjektiv ausschnitthaftes Bild
ihrer Umwelt verfügen – einer gewalttätigen, unbeherrschbaren
frühmittelalterlichen Welt, die Vláčil visuell konsequent im 13.
Jahrhundert verankert.
Das noch hilflose, ausgesetzte, suchende Subjekt fängt er ikonisch in einem
in Variationen immer wiederkehrenden Bild ein: einem einzelnen Auge, dessen
jeweiliger Besitzer aus sicherem Versteck heraus – hinter einer Tür, einer
Mauer, einem Strauch – das Geschehen beobachtet. Auch die Kamera von
Bedřich Batka nimmt sehr oft eine dezidiert subjektive Perspektive ein, ist
mal viel zu nah dran am Geschehen, dann sehr weit weg, kämpft sich durch
Gestrüpp, betrachtet Szenen aus merkwürdigen Winkeln und steht vor allem
fast niemals still.
## Fehde unter Nachbarn
In „Marketa Lazarová“ geschieht, grob zusammengefasst, in etwa Folgendes:
Zwei Brüder aus der Raubritterfamilie Kozlík überfallen einen Zug deutscher
Edelleute, machen Beute und nehmen eine Geisel: den jungen sächsischen
Grafen Christian. Der verguckt sich, als er auf die Burg der Kozlíks
gebracht wird, in die Tochter des alten Kozlík, Alexandra. (Die wiederum
hatte ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Bruder Adam, dem zur Strafe vom
Vater der Arm abgeschlagen wurde.)
Da bei dem Überfall der Vater des gefangenen Christian fliehen konnte und
zu befürchten steht, dass er Hilfe beim König suchen wird, schickt der alte
Kozlík den wildesten und stärksten seiner Söhne, Mikoláš, zum Nachbarn
Lazar, um dort um Unterstützung für den Kampf gegen die königlichen Truppen
zu werben. Mikoláš aber wird von Lazars Männern brutal zusammengeschlagen.
Später kehrt er zurück, um Rache zu nehmen, entführt Lazars Tochter
Marketa, die eigentlich einem Kloster versprochen ist, und vergewaltigt
sie. Marketa ihrerseits verliebt sich in ihren Vergewaltiger und wird zur
Räuberbraut. Im weiteren Verlauf werden blutige Schlachten geschlagen, und
viele Personen nehmen kein gutes Ende.
## Der Mensch ist ein wildes Tier
Manche Handlungselemente hat Vláčil frei erfunden, darunter auch die Figur
eines mit seinem Lieblingsschaf umherziehenden Mönchs, der als Einziger
eine gewisse humoristische Note einbringt. Im Übrigen fühlt man sich als
Zuschauer fast so sehr dem frühmittelalterlichen, gleichsam
vorzivilisatorischen Chaos ausgesetzt wie die Filmpersonen selbst.
In etlichen Einstellungen laufen Wolfsrudel durchs Bild, und an zentraler
Stelle erzählt die Mutter des Räubers Mikoláš eine lange Geschichte von
einem Werwolf, die auf ihren Sohn gemünzt scheint. Auch der Mensch ist in
diesem Film ein wildes Tier – je wilder und gefährlicher, desto
verführerischer. Weder König noch Kirche scheinen derweil in der Lage,
Leib, Leben und Seelen der Schwachen zu schützen.
František Vláčil selbst gab dem Journalisten Antonín Liehm 1969 am Rande
des Festivals von Cannes, auf dem „Marketa Lazarová“ gezeigt wurde, ein
Interview, in dem er gegen den üblichen Historienfilm polemisiert und
erklärt, er wolle nicht Menschen in Kostümen zeigen, sondern „sieben
Jahrhunderte in der Zeit zurückfallen“, weil er sich für Personen
interessiere, „die gelebt haben, die zu einer bestimmten Zeit dachten,
handelten und Gefühle hatten“.
Um diese Gefühle und Handlungen so naturalistisch wie möglich zu
reproduzieren, ließ Vláčil zur Vorbereitung auf den Film (so ist es
zumindest in mehreren Berichten zu lesen) seine Darsteller angeblich
monatelang in den Wäldern leben. Natürlich in Felle gekleidet.
30 Nov 2016
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Tschechien
Historienfilm
Mittelalter
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Filmregisseur
Glück
Reiseland Tschechien
Animationsfilm
Schwerpunkt Berlinale
Literatur
Tschechien
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