Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Interview mit Alexander Sokurow: "Faust ist einfach nur ein Demagog…
> Männer, die behaupten, sie wüssten, was sie tun, sind dem russischen
> Regisseur suspekt. Seine Verfilmung von "Faust" dreht sich um genau
> diesen Typ von Mann.
Bild: Zum ersten Mal befasste sich Alexander Sokurow in der zehnten Klasse mit …
taz: Herr Sokurow, in Ihrem Film "Moloch" schwärmt Hitler davon, in der
Ukraine Brennnesselfelder zu pflanzen, in "Faust" nimmt der Titelheld ein
Brennnesselfußbad. Zweimal Brennnesseln - ist das ein Zufall?
Alexander Sokurow: Das ist natürlich kein Zufall, eher ein Witz, den wir
uns gestattet haben. Brennnesseln wurden damals in Deutschland als
Naturheilmittel verwendet.
Wie wirken Brennnesseln?
Sie sind beruhigend und gut für die Haut.
"Moloch", Ihr Film über Hitler, steht am Anfang einer Tetralogie, "Faust"
am Ende, und vermutlich sind Brennnesseln nicht das Einzige, was die Filme
teilen.
Es geht um Männerschicksale, das heißt, um Männer, die behaupten, sie
wüssten, wie sie alle Völker der Welt glücklich machen können und was man
dafür tun muss. Lenin, Hitler und auch Faust - der wollte irgendwelche
Städte errichten und alle glücklich machen, aber was daraus geworden ist,
das wissen wir ja. Wir folgen diesen Leuten, die sagen, sie wüssten, was zu
tun ist, aber sie wissen es gar nicht.
Spielt es eine Rolle, dass sich der erste und der letzte Teil der
Tetralogie mit deutschen Stoffen befassen?
Ich denke nicht, denn ich begreife Faust als Figur, die über allen Nationen
steht. Natürlich ist Goethe der große deutsche Dichter, und die Figuren
sind, wie sie sind, weil sie aus Deutschland kommen, aber es könnte auch
sein, dass einer von den deutschen Avantgardisten "Faust" in China
ansiedelt.
Wann haben Sie "Faust" zum ersten Mal gelesen? In der Schule?
Ja, in der zehnten Klasse, auf Russisch, das ist sehr lange her. Ich hatte
natürlich nicht die leiseste Ahnung, wie vielschichtig dieses Werk ist, das
habe ich erst später begriffen. Damals war es für mich eine beeindruckende
Entdeckung, alles andere kam später.
Sie haben den Film komplett nachsynchronisiert. Was erreichen Sie dadurch?
Ich habe alle meine Filme nachvertont, nachdem sie abgedreht waren. Viele
Produzenten können das nicht verstehen. Aber während man dreht, müssen sich
die Schauspieler auf verschiedene Sachen konzentrieren, so dass beim
Sprechen etwas verloren geht. Wenn wir es im Studio nachvertonen, können
sich die Schauspieler ganz und gar darauf konzentrieren, wie sie
intonieren. Die deutschen Schauspieler, die diese Arbeitsweise nicht
gewohnt sind, waren sehr glücklich darüber.
Gleich am Anfang von "Faust" landet man auf einem Seziertisch und blickt in
das Innere eines Körpers hinein, und später geht es immer wieder um
körperliche Bedürfnisse, ums Essen und auch um den Stuhlgang. Warum steht
das Körperliche in Ihrer Adaption des "Faust"-Dramas so sehr im
Vordergrund?
Weil es um lebendige Menschen geht. Es sind keine Helden der griechischen
Tragödie, die nur irgendwelche Gedanken produzieren und keinen Leib haben.
Hier geht es um Leute, die leibliche Bedürfnisse haben und von diesen
leiblichen Bedürfnissen getrieben werden. Goethe hat sich ja für Fausts
Kopf interessiert, für seine Gedanken, für alles andere nicht. Aber wir
sprechen hier von Film, das heißt: Wir brauchen etwas Filmisches.
Über das, was Goethe sich vorstellte und was Sie daraus machen, möchte ich
später noch sprechen - erst noch eine konkrete Frage: Wie entsteht denn der
Körper des Mauritius, der bei Ihnen an die Stelle des Mephistopheles tritt?
Mit seinem Schweineschwänzchen am Rücken und all den Wülsten sieht er sehr
fremd aus.
Eigentlich hatte ich in ihm etwas Geschlechtsloses gesehen, es kommt gar
nicht darauf an, ob das Schwänzchen oben, hinten oder vorne ist. Er
experimentiert mit sich, er sucht sich, der hat keinen maskulinen Antrieb
in seinem Leben, er hat einfach zu viel von allem. Ein bisschen viel an den
Hüften, ein bisschen viel an den Beinen, und dann noch völlig unmotiviert
die Flügel, die er sich einbildet; er ist ja kein Engel. Aber er glaubt
fest daran, im Finale zum Beispiel, wenn er sich auf den Rücken wirft und
denkt, er reibe sich die Flügel. Wie ein Kind.
Zu den grotesken Körpern passen die Räume und die Bewegungen der Figuren in
den Räumen - die drängeln sich oft in toten Winkeln und engen Gängen,
schieben sich zu dritt, zu viert, zu fünft in eine Ecke. Warum?
Als ich das erste Mal Goethes Haus in Weimar besucht habe, habe ich solche
Ecken und Winkel entdeckt, diese Öfen, die niedrigen Decken und ärmliche
Möbel, er hat dort wohl in ziemlich ärmlichen Verhältnissen gewohnt, obwohl
er Minister war. Und das findet sich im Film wieder - ich habe mir
vorgestellt, dass die Leute in der Zeit in Deutschland so gelebt haben,
außerdem haben wir sehr genau recherchiert und historische Dokumente
gewälzt. Zuerst hat man den Hauptteil des Hauses gebaut, dann hat man Boden
dazugekauft und angebaut, und so kams, dass ein Fenster, das ursprünglich
ein Außenfenster war, zu einem Korridor zeigte, und dann hat man noch ein
Fenster eingebaut, alles war sehr verwinkelt, und plötzlich kam die Küche
in die Ecke. Ein lebendiges Haus, wann immer man Geld hatte, hat man
angebaut. Und genauso sieht das Haus von Faust aus.
In fast allen Ihren Filmen arbeiten Sie mit verzerrten Proportionen, die
Körper erscheinen flacher als gewöhnlich, das ist so etwas wie Ihre
Signatur. Was steckt dahinter?
Das kommt von der Malerei des 19. Jahrhunderts, die ich sehr liebe und die
ich in Film umzuwandeln versuche. Alle Maler arbeiten mit flachen Flächen,
eine Leinwand ist eben flach; das ist ja im Kino eigentlich nicht anders.
Trotzdem versuchen alle, dieser flachen Fläche eine Dimension hinzuzufügen.
Ich möchte dieses Spielchen gar nicht spielen.
Und weil Sie ein so großer Freund der Malerei des 19. Jahrhunderts sind,
sieht Fausts Zimmer aus wie die Stube, in der Spitzwegs armer Poet hauste?
Spitzweg hat den Alltag im 19. Jahrhundert am ausführlichsten beschrieben.
Es gab ja weder das Kino noch die Fotografie, und Spitzweg war in allen
seinen Bildern sehr präzise, man kann darauf vertrauen, dass es so war, wie
er es gemalt hat.
Warum denn überhaupt das 19. Jahrhundert? "Faust" spielt doch im 16.
Jahrhundert.
Ja, der Film spielt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, wir haben den
Stoff einfach umgesiedelt, denn das ist Goethes Zeit, er müsste dieses Bild
gehabt haben.
Sie haben vorhin gesagt, dass es bei Goethe um Gedanken geht, bei Ihnen um
Körper. In der "Faust"-Adaption von Friedrich Wilhelm Murnau von 1926 geht
es sehr wohl um die großen metaphysischen Fragen, um den Kampf von Gut und
Böse. Sie dagegen treiben Ihrem Film das Metaphysische aus, oder?
Da haben Sie völlig recht, ich grenze das Metaphysische aus, und zwar aus
dem Grund, dass man das Metaphysische schwer in Bilder fassen kann, das ist
eher etwas für die Literatur. Das Filmische ist eben das Menschliche, unser
Faust ist sehr real, sehr leiblich, menschlich, fleischlich.
Das heißt aber auch, dass Sie eine wesentliche Bedeutungsschicht des Dramas
verwerfen.
Murnau hat es leichter gehabt, er hat einen Stummfilm gedreht, er musste
nicht mit Worten arbeiten. Und eigentlich ist in seinem Film auch kein
Goethe zu sehen, da ist ja nur Murnau! Der hat nämlich ein Märchen
geschaffen, mit Faust als Greis, mit langem, wallendem Bart, das ist nicht
die Figur, die Goethe erdacht hat.
Am Anfang, wenn Faust und Wagner die Leiche sezieren, suchen sie nach dem
Sitz der Seele, und finden ihn nirgends. Nun ist "Faust" die Geschichte
eines Mannes, der seine Seele verkauft. Wie kann er etwas verkaufen, das es
nicht gibt?
Das ist eine schwierige Frage. Faust selbst hat auch nicht ganz begriffen,
ob zum Beispiel Margarete eine Seele hätte oder nicht, er hat ja nicht mal
in der Leiche die Seele entdeckt. Aber wer weiß, möglicherweise hat Wagner
die Seele aufgespürt, immerhin hat er den Homunkulus erschaffen, leider
stirbt dieser Homunkulus, und wir wissen nicht, ob er eine Seele hatte.
Vielleicht ist Wagner der wirkliche Gelehrte. Und Faust ist einfach nur ein
Demagoge, er sucht nach irgend etwas und redet viel, aber er schafft am
Ende gar nichts.
19 Jan 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Louvre
## ARTIKEL ZUM THEMA
Halbfiktionaler Filmessay „Francofonia“: Ein Museum im Krieg
Augenzwinkerndes Aufklärertum: Alexander Sokurows hybrider Filmessay über
den Pariser Louvre verhandelt menschliches Leid über die Kunst.
Interview mit "Descendants"-Regisseur: "Ich sah Clooney noch nie weinen"
Manchmal hilft Fremdheit: Wie Alexander Payne Hawaii kennenlernte, wie die
Realität eines Orts im Film entsteht und über soziale Komödien im
Hollywoodkino.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.