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# taz.de -- Neuer Film von Michaelangelo Frammartino: „Alles strebte nach obe…
> Michelangelo Frammartino stellt den Abstieg in eine der tiefsten Höhlen
> Europas nach. Ein Gespräch über unentdeckte Abgründe und extreme Drehs.
Bild: Fast 700 Meter geht es runter in den Film „Il buco“
taz am wochenende: Herr Frammartino, im Jahr 1961 hat eine Gruppe von
Höhlenforscher*innen in Kalabrien die knapp 700 Meter tiefe Abissa
del Bifurto entdeckt. Wie ist die Idee entstanden, diese Expedition
nachzustellen?
Michelangelo Frammartino: Ich hatte in dieser Gegend meinen [1][Film „Vier
Leben“ über einen alten Schafhirten] gedreht und dadurch den Eindruck, mich
dort eigentlich gut auszukennen. Es ist eine faszinierend schöne
Landschaft, aber ich hatte keine Ahnung, dass es unter der Oberfläche noch
eine innere Landschaft gab, ein Höhlensystem, das kaum jemand kannte. Erst
1961 hatte es ein Team von Forschern zum ersten Mal erkundet. Als ich davon
hörte, war ich von dieser Unterwelt ebenso überrascht wie von der
historischen Erstbegehung. Das wollte ich als immersives Erlebnis
rekonstruieren, das für ein Publikum so nur im dunklen Kinosaal
funktioniert.
Sie sind selbst in die Höhle abgestiegen. Was haben Sie dabei
herausgefunden?
Mir wurde bewusst, dass es noch immer eine unsichtbare Grenze gibt zwischen
der bekannten Welt und dem Unbekannten oder vielmehr Unbegreiflichen. Wir
Menschen waren schon überall auf diesem Planeten, nur im Innersten gibt es
noch Unentdecktes. Der Höhlenforscher geht mit einer Stirnlampe in die
Dunkelheit, der Lichtstrahl deckt sich mit seiner Perspektive, und mit der
Vorwärtsbewegung verschiebt sich auch die Grenze, Unbekanntes wird
sichtbar. Das zu erleben war eine faszinierende Erfahrung. Auch wenn jede
Entdeckung das Scheitern schon in sich trägt, dazu verurteilt ist.
Warum das?
Weil diese Forscher eine unberührte Welt vorfinden wollen, bevor sie von
jemandem gesehen oder betreten wird. Sie bringen Licht ins zuvor
Unbegreifliche. Sie stehen sich selbst im Weg. Diesen Widerspruch fand ich
faszinierend.
Wie weit sind Sie ins Erdinnere vorgedrungen?
Meine Co-Autorin Giovanna Giuliani und ich wollten die Höhle bis zum
letzten Punkt sehen, 700 Meter tief, zumindest einmal. Das war 2017 nach
einem Training von drei Monaten, und wir brauchten 20 Stunden. Es war eine
furchtbare Erfahrung, weil wir nicht geübt genug waren. Zum Glück gab es
bereits die Seile, die bei früheren Expeditionen angebracht worden waren.
Wie bereitet man sich auf einen solchen Abstieg vor?
Man lernt natürlich, wie man die Ausrüstung benutzt. Vor allem aber geht es
darum, in jedem Moment ruhig zu bleiben. Ich hatte großen Respekt vor der
Höhle und brauchte fast ein Jahr, bis ich keine Angst mehr hatte. Am
schlimmsten waren die Momente, wenn wir in einem engen Tunnel waren, jemand
war vor mir und zwei Personen hinter mir, ein Gefühl des Feststeckens und
der Ohnmacht.
Für den Film sind Sie bis auf eine Tiefe von 400 Metern abgestiegen. Warum
nicht weiter?
Aus Sicherheitsgründen. Es wäre logistisch kaum möglich gewesen. Die Höhle
ist zum größten Teil vertikal und es gibt nur wenige Stellen, an denen man
stehen kann. In den schmalen Schächten kommt man kaum aneinander vorbei.
Dazwischen gibt es größere Höhlen, aber auch die sind gefährlich, weil
Gesteinsbrocken herunterfallen können oder plötzlich ein Felsspalt
auftaucht.
Wie filmt man unter solch extremen Bedingungen?
Wir hatten zwei Teams, eines in der Höhle und eines an der Oberfläche.
Untertage waren wir zu siebt. Giovanna und ich, zwei Kameraleute und drei
für den Ton. Dazu die Darsteller, die selbst Speläologen sind, und weitere
sieben zur Sicherung. Um 7 Uhr morgens gingen wir los und brauchten mit der
Ausrüstung knapp vier Stunden für den Abstieg, bevor wir Kamera und Ton
aufbauen und an das optische Fiberkabel anschließen konnten. Der
Kameramann, der übertage blieb, sah auf einem Bildschirm in Realzeit, was
wir filmten, und gab Anweisungen. Mehr als eine Stunde konnten wir meist
nicht drehen, bevor wir wieder die Rückkehr antreten mussten.
Der Film beginnt mit historischen Aufnahmen des Pirelli-Hochhauses in
Mailand.
Damit setze ich die Expedition in einen Kontext. Diese Ära war von
Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung geprägt, alles strebte nach
oben. Das [2][Pirelli-Hochhaus war 1961] das zweithöchste Gebäude Europas.
Im April umrundete der russische Kosmonaut Gagarin in einem spektakulären
Raumflug die Erde. Fernsehgeräte wurden Teil des Familienlebens. Zugleich
gab es eine Migration vom armen Süden Italiens in den aufblühenden Norden.
Umso faszinierender fand ich diese Gruppe Norditaliener, die nach Kalabrien
kamen, um in unbekannte Abgründe vorzustoßen. Dabei entdeckten sie eine der
tiefsten Höhlen Europas. Umso erstaunlicher, dass sie es für sich
behielten. Außer einem internen Bericht und einer Handvoll Fotografien
existiert nichts über diese historische Mission.
Den fast minutiösen Abstieg verbinden Sie mit einer zweiten Ebene übertage.
Wie kam es zu der Geschichte eines alten Schäfers in den Bergen?
Mein Kino ist in der vorgefundenen Realität verwurzelt, ich verknüpfe
einzelne Elemente. Bei der Recherche ist mir aufgefallen, dass es ein enges
Verhältnis zwischen Speläologen und Schäfern gibt. Das liegt zum einen
daran, dass die Hirten oft wochen- und monatelang allein mit ihren Tieren
sind und sich über die Gesellschaft freuen, wenn diese verrückten
Höhlensucher auftauchen. Zugleich brauchen die Forscher die Schäfer, weil
niemand die Gegend so gut kennt wie sie. Sie wissen um jedes Erdloch, jeden
Höhleneingang, auch wenn sie selbst nie einen Fuß hineinsetzen würden.
Viele von ihnen erzählen sich Geschichten und Mythen darüber, was unter der
Erde vor sich geht. Im Film ist der Schäfer Teil des Berges, er lebt ganz
zurückgezogen, oft ist nur zu hören, wie er seine Herde ruft, aber man
sieht ihn nicht. Für mich spiegeln sich im Schäfer das Erdinnere und unser
Innenleben als Menschen.
Was ist der Höhlengang für eine Erfahrung?
Es ist einerseits unglaublich ermüdend, ich war noch nie so erschöpft. Wenn
man lange Zeit unterirdisch verbringt, unterbricht man die circadiane
Rhythmik, der Körper kann sich nicht mehr dem natürlichen Tagesverlauf
anpassen. Man verliert das Gefühl für Zeit. Es gab Momente, da dachte ich,
es wären zwei Stunden vergangen, dabei waren es zehn. In dieser sehr
eigenartigen Situation kamen Erinnerungen hoch, die ich lange vergessen
hatte oder mir schossen Lieder in den Kopf, die ich seit Jahren nicht
gehört hatte. Den anderen ging es ähnlich.
Sie erzählen den Film nicht konventionell dramatisch, verzichten wie bei
Ihren früheren Filmen fast komplett auf Dialog. Warum?
Mein Arbeitsprinzip als Filmemacher ist es, so weit wie möglich zu
entschlacken. Andere haben ein Gerüst oder eine Struktur, die sie
ausschmücken. Ich verstehe mein Kino eher als Bildhauerei, klopfe alles
Unnötige ab. Auch Worte, ich empfinde sie als aggressiv, sie nehmen viel
Raum ein. Ich versuche immer mehr zu reduzieren: Dialoge, Musik,
Schauspieler und diesmal auch das Licht. Ich bin da wie die Speläologen,
die eine nackte Felshöhle jenen vorziehen, die von unseren Vorfahren bemalt
wurden und jetzt Touristenattraktionen sind. Speläologen suchen die Leere.
Als die Forscher schließlich am tiefsten Punkt ankommen, hat das so gar
nichts Heroisches, sondern ist ein geradezu lakonischer Moment.
Einen Berggipfel hat man als Ziel klar vor Augen, ihn zu erklimmen, hat
etwas Erhebendes. Aber bei einer unbekannten Höhle weiß man vorher nicht,
wo sie aufhört. Und es ist immer ein bisschen melancholisch, fast
enttäuschend, wenn man dort ankommt. Am Ende wartet nichts Glorioses,
sondern meistens nur ein stinkendes Schlammloch.
6 Nov 2022
## LINKS
[1] /Interview-mit-Filmregisseur-Frammartino/!5117533
[2] /Sky-Serie-Blocco-181/!5874188
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Kino
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