| # taz.de -- Filmfestspiele von Cannes: Berge ohne Verklärung | |
| > Cannes 5: Die Filmfestspiele beobachten Heranwachsende im Gebirge und in | |
| > New York. Die Erinnerungen an die Kindheit sind grandios. | |
| Bild: Großstadtkind trifft Bergbewohner vor grandioser Kulisse: Szene aus „L… | |
| Kein Schlaf an der Croisette! Vor einigen Jahren haben die Filmfestspiele | |
| von Cannes entschieden, Pressevorführungen nicht mehr vor den Galapremieren | |
| zu zeigen. Das Ziel ist, zu verhindern, dass Onlinemedien vor den Premieren | |
| ihr Urteil in die Welt hinaussenden und damit das Privileg der Besucher | |
| gefährden, die Filme frei von den Meinungen anderer zu sehen. Für die | |
| Presse bedeutet dies, dass die erste Pressevorführung mitunter nachts | |
| läuft, was das Risiko birgt, Teile des Films schlummerbedingt zu verpassen. | |
| Im Fall des belgischen Wettbewerbsfilms „Le otto montagne“ von Felix Van | |
| Groeningen und Charlotte Vandermeersch ist es von Vorteil, ihn in | |
| einigermaßen ausgeschlafenem Zustand zu sehen. Die Adaption des | |
| gleichnamigen italienischen Romans von Paolo Cognetti hat in ihrem | |
| unaufgeregten Tempo und mit großartigen Gebirgspanoramen jedenfalls viele | |
| leise Vorzüge, die Wachheit erfordern. Wäre sonst schade drum. | |
| „Le otto montagne“ ist ein früher Höhepunkt im noch frischen Wettbewerb. | |
| Man folgt über mehrere Jahrzehnte der Freundschaft zweier Männer, der eine, | |
| Pietro, ein Großstadtkind, der andere, Bruno, ein Bergbewohner. Als | |
| zwölfjährige Kinder lernen sie sich in einem fast menschenleeren Dorf im | |
| Aostatal kennen, als Pietro mit seiner Mutter dort Ferien macht. Sie | |
| verstehen sich auf Anhieb, verlieren sich in der Pubertät aus den Augen, | |
| treffen sich nach langer Zeit wieder und bleiben einander verbunden, auch | |
| wenn ihre Leben völlig unterschiedlich verlaufen. | |
| Bruno, als Erwachsener mit stoischer Sensibilität [1][gespielt von | |
| Alessandro Borghi,] hat außer den Bergen nichts gesehen und kann sich | |
| nichts anderes vorstellen, als das zu tun, was seine Familie immer schon | |
| getan hat. Pietro, Sohn eines Ingenieurs, vermutlich bei Fiat, bricht als | |
| Jugendlicher mit dem Vater, bricht sein Studium ab, schlägt sich mit Jobs | |
| durch, bis er Schriftsteller wird. [2][Der Schauspieler Luca Marinelli] | |
| verleiht ihm eine freundliche Rastlosigkeit, in vielen Dingen der Gegenpol | |
| zu Bruno. | |
| Trotz der erhaben daherkommenden Naturschönheit und der scheinbar | |
| harmonischen Geschichte sind die Regisseure nie an Verklärung der Berge | |
| oder von Ursprünglichkeit interessiert. Das Gegenüberstellen zweier | |
| Lebensentwürfe hat mehr mit Freundschaft über Differenzen hinweg zu tun und | |
| erzählt zugleich vom stillen Verschwinden landwirtschaftlicher Traditionen. | |
| Grandios auch die Darstellung der Kindheitserinnerungen Pietros, wenn er | |
| mit seinem Vater (Filippo Timi) ins Gebirge zieht oder mit Bruno die | |
| Berghänge hinabtobt. | |
| ## Anthony Hopkins als Opa | |
| Ein anderes Heranwachsen schildert der US-Amerikaner James Gray in seinem | |
| autobiografischen Film „Armageddon Time“, der ebenfalls im Wettbewerb | |
| läuft. Auch sein Protagonist, Paul (nervös-quirlig: Michael Banks Repeta), | |
| ist zu Beginn des Films zwölf, ein Ostküstenjunge, der in der Schule | |
| Schwierigkeiten hat, zu Hause aufbegehrt und lediglich auf seinen Opa | |
| (Anthony Hopkins) hört. Es sind die frühen Achtziger, Ronald Reagan steht | |
| kurz davor, zum Präsidenten gewählt zu werden. | |
| Gray verbindet in „Armageddon Time“ die Nöte eines künstlerisch veranlagt… | |
| Kindes mit dem Assimilationsdruck, den seine jüdische Familie in den USA | |
| spürt. So hat seine aus der Ukraine eingewanderte Familie den Namen | |
| Greyzerstein in Graff geändert, um weniger aufzufallen. Dafür fällt Paul | |
| durch sein Verhalten umso mehr auf. Fast wie klassisches Hollywoodkino | |
| aufgebaut, umschifft Gray die typischen Klischees und wartet stattdessen | |
| mit klugen Überraschungen auf. | |
| 20 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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