# taz.de -- Filmfestspiele von Cannes: Die, die unser Brot backen | |
> Cannes 7: Im Thriller „Holy Spider“ geht es um Femizide in Iran. Der | |
> Goldene-Palmen-Gewinner thematisiert hingegen Rassismus in Siebenbürgen. | |
Bild: Journalistin Rahimi (Sahra Amir Ebrahimi) in „Holy Spider“ | |
An politischen Themen mangelt es in dieser Ausgabe der Filmfestspiele von | |
Cannes keinesfalls. Mit „Holy Spider“ des iranischen Regisseurs Ali Abbasi | |
ist jetzt auch der Femizid im Wettbewerb angekommen. Abbasi lebt in | |
Dänemark, gedreht wurde sein Film in Jordanien, was hilfreich gewesen sein | |
dürfte für das Zustandekommen seines Beitrags. | |
Darin reist die Journalistin Rahimi (Sahra Amir Ebrahimi) nach Maschhad, | |
die heiligste Stadt des Iran. Seit einiger Zeit sorgt eine Serie von Morden | |
an Prostituierten dort für Angst in der Bevölkerung, Rahimi will zu dem | |
Fall recherchieren. | |
Die Polizei scheint mit den Ermittlungen nicht voranzukommen, obwohl der | |
mutmaßliche Einzeltäter nach erkennbarem Muster vorgeht. Er greift seine | |
Opfer immer am selben Platz auf, ermordet sie auf die gleiche Weise, ihrer | |
Leichen entledigt er sich in einer bestimmten Gegend. Der Presse ist sogar | |
seine Stimme bekannt, denn der Redakteur einer lokalen Zeitung, den Rahimi | |
aufsucht, erhielt nach Berichten über den Fall Anrufe, die er | |
mitgeschnitten hat. Gleichwohl tappt auch er im Dunkeln. | |
„Holy Spider“ ist ein Thriller und empfiehlt sich zugleich als Sittenbild | |
einer Gesellschaft, in der das Leben einer Frau anscheinend nicht viel | |
zählt. Der Mörder, den man gleich zu Beginn des Films kennenlernt, ist im | |
Alltag ein zugewandter Familienvater, geht einer regelmäßigen Arbeit nach. | |
Er sieht es als seinen Auftrag an, im Namen Allahs die heilige Stadt von | |
der „Schande“ der „verdorbenen“ Frauen zu befreien. Wie man später erf… | |
steht er mit dieser Haltung nicht allein. | |
## Sehr sichtbare Gewalt | |
Abbasi inszeniert das Vorgehen des selbsternannten Sittenwächters drastisch | |
in seiner Grausamkeit und nüchtern in der Geschäftsmäßigkeit, mit der er | |
anschließend „aufräumt“. Die Bilder sind beklemmend und sollen es sein, e… | |
subtiles Plädoyer ist sein Film nicht, aber ein eindringliches, verstärkt | |
von der insistierend brummenden Filmmusik, und eines, das umso | |
erschreckender wirkt, wenn er die Perspektive des Mörders verlässt und | |
seine „Unterstützer“ in den Blick nimmt. | |
Gleichwohl hinterlässt die sehr sichtbare Gewalt ein zwiespältiges Gefühl. | |
Wo [1][Abbasis „Gräns“ mit Fantastik] überzeugte, ist es diesmal der | |
blutigen Realität etwas zu viel. Die Premiere nahmen einige Besucherinnen | |
zum Anlass, um zuvor auf dem roten Teppich gegen Femizid zu demonstrieren, | |
mit Rauchbomben und einem Transparent, auf dem die Namen der in Frankreich | |
seit der letzten Ausgabe von Cannes ermordeten Frauen standen: 129 | |
insgesamt. | |
Einer anderen Form von Gewalt nimmt sich der rumänische Regisseur Cristian | |
Mungiu an, der 2007 [2][mit „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ die Goldene | |
Palme von Cannes] gewann. In seinem diesjährigen Wettbewerbsbeitrag | |
„R.M.N.“ geht es im Kern um Rassismus in einer Kleinstadt in Siebenbürgen. | |
Die örtliche Backfabrik will EU-Fördermittel beantragen, benötigt dazu aber | |
eine größere Zahl an Mitarbeitern. Als sich auf die Ausschreibungen hin | |
keine Kräfte aus dem Ort melden, stellt die Firma Arbeiter aus Sri Lanka | |
ein. Die sind, anders als die Bewohner, bereit, für den Mindestlohn zu | |
arbeiten. | |
## Ethnische Heterogenität ist nicht gleich Offenheit | |
Hauptfiguren dieser Geschichte, die man als Groteske bezeichnen könnte, | |
wenn sie nicht so realistisch wäre, sind die Fabrikmanagerin Csilla (Judith | |
State) und der Schlachthofarbeiter Matthias (Marin Grigore). Er arbeitet | |
eigentlich in Deutschland, hat soeben aber seinen Job verloren. Csilla und | |
Matthias sind geschieden, er hat inzwischen eine andere Freundin, seine | |
häusliche Situation mit ihr ist allerdings alles andere als geklärt. | |
Mungiu konzentriert sich zunächst auf die Bewohner des Orts, bei denen die | |
Vielzahl der Sprachen – Straßenschilder sind oft dreisprachig – für leich… | |
Verwirrung sorgt. Csilla spricht mit ihrer Chefin Ungarisch, da beide zur | |
ungarischen Minderheit gehören, mit anderen Angestellten hingegen | |
Rumänisch, eine deutsche Minderheit gibt es ebenso. Mit den Arbeitern aus | |
Sri Lanka sprechen die Kollegen Englisch, Matthias und Csilla verabschieden | |
sich voneinander mit „Tschüß“. | |
Bei dieser Vielfalt könnte man meinen, dass die Offenheit für „Fremde“ eh… | |
zu erwarten wäre als in einer ethnisch homogenen Region. Das Gegenteil ist | |
der Fall. In den sozialen Medien wird gegen die neuen Arbeiter gehetzt, die | |
Backfabrik bekommt Umsatzschwierigkeiten, weil die Leute das Brot nicht | |
mehr kaufen, und in der Kirche bekommen die Vertragsarbeiter Hausverbot. | |
Irgendwann eskaliert die Situation. | |
„R.M.N.“ ist im Französischen die Abkürzung für Kernspinresonanz. Einem | |
solchen Verfahren muss sich Matthias’ altersschwacher Vater unterziehen, | |
aber auch Mungiu zerlegt in seinem Film die Lage Europas in ihre kleinsten | |
Bestandteile, um einige ihrer größten Übel herauszuarbeiten. Dass die | |
Fragen, die er stellt, weit über Rumänien hinausgehen, stellt er gleich am | |
Anfang klar. Denn auch Matthias war in Deutschland Vertragsarbeiter. Wie es | |
um deren [3][Arbeitsbedingungen steht, ist spätestens seit dem | |
Tönnies-Skandal bekannt]. Ein Höhepunkt im Wettbewerb. | |
23 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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