# taz.de -- Regisseur Ali Abbasi im Interview: „Ich will den Dreck zeigen“ | |
> Der Regisseur Ali Abbasi hat mit „Holy Spider“ einen „Persian Noir“ | |
> gedreht. Er spricht über die Proteste und die Tradition des Frauenhasses | |
> in Iran. | |
Bild: Dem „Spinnenmörder“ auf der Spur: die Journalistin Rahimi (Sahra Ami… | |
In der iranischen Millionenmetropole Maschhad ermordete Anfang der 2000er | |
Jahre ein religiöser Fanatiker 16 Frauen. Als „Spinnenmörder“ ging er in | |
die Kriminalgeschichte ein, weil er Prostituierte in seine Wohnung lockte | |
und dort erwürgte. In seinem dritten Spielfilm „Holy Spider“, der frei auf | |
diesem Fall basiert, seziert der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi | |
damit die Misogynie und Scheinheiligkeit einer ganzen Gesellschaft. | |
wochentaz: Herr Abbasi, Sie sind 2001 aus Iran nach Schweden emigriert und | |
haben seitdem mit „Shelley“ (2016) und [1][„Border“ (2018)] zwei Filme … | |
Skandinavien gedreht. Warum jetzt die Geschichte eines Serienmörders in | |
Iran? | |
Ali Abbasi: Ich hatte diese Idee schon lange, vor mehr als zehn Jahren, | |
noch vor meinem ersten Film, „Shelley“. Ich wartete nur auf den richtigen | |
Zeitpunkt, sie umzusetzen. Ich sehe „Holy Spider“ gar nicht so sehr als | |
eine Abkehr von dem, was ich vorher gemacht habe. | |
Inwiefern? | |
Ich bin ein Gewächs zweier Kulturen, ich wuchs in Iran auf und | |
interessierte mich dort schon sehr für moderne europäische Literatur, sie | |
prägte meinen Blick auf die Welt. Solange ich die Sprache verstehe, kann | |
ich ebenso einen Film in Skandinavien, im Iran oder den Vereinigten Staaten | |
drehen. Das macht für mich keinen Unterschied. Es kommt ganz auf die | |
Geschichte an. | |
Der Film basiert auf einer realen Mordserie an Frauen in den Jahren 2000 | |
und 2001. Was hat Sie daran interessiert? | |
Ich wollte vor allem die iranische Gesellschaft allgemein und einige | |
Menschen im Besonderen zur Verantwortung ziehen. Was diesen jungen Frauen | |
angetan wurde, machte mich wütend, und ich wollte ihre Geschichte einer | |
breiten Öffentlichkeit erzählen. Diese Wut ist kein nobles Gefühl, aber | |
sehr effektiv. In der Kunst wird oft das Vielschichtige und Anspruchsvolle | |
hochgehalten, und das hat natürlich seine Berechtigung, aber manchmal ist | |
es wirkmächtiger, geradeheraus zu sein. | |
Sie zeichnen dabei ein sehr finsteres Bild der iranischen Gesellschaft… | |
Weil es ein Film Noir ist! Es liegt in der Natur des Genres. Das ist weder | |
unfair noch antiiranisch, wie mir vorgeworfen wird. Es ist ein düsterer | |
Thriller mit iranischen Besonderheiten. Persian Noir. Die Cops sind | |
korrupt, viele Szenen spielen nachts in trostlosen Ecken, die Straßen sind | |
nicht hell erleuchtet. Ich sage nicht: So und nicht anders ist es dort. | |
Iran ist ein großes Land mit fast 100 Millionen Einwohnern, vielen | |
Widersprüchen und komplexen Strukturen. Ich maße mir nicht an, dem auch nur | |
annähernd gerecht zu werden. | |
Sie kritisieren die iranische Gesellschaft als bigott. Woran machen Sie das | |
fest? | |
Die interessantesten Debatten finden im Taxi statt, weil man sich die Fahrt | |
mit wildfremden Menschen teilt. Und wirklich jede*r schimpft auf die | |
Regierung. Dabei sitzen da Leute, die selbst Familienmitglieder in Behörden | |
oder gar der Miliz haben. Jede*r ist involviert und heuchlerisch, | |
Scheinheiligkeit ist der Standard. Auch die Misogynie ist tief verwurzelt, | |
das Regime macht sich das zunutze. Meine Mutter erzählte mir, wie sie | |
bereits in den Siebzigern als Teenager auf der Straße vom Obsthändler mit | |
faulen Früchten beworfen wurde, wenn er ihren Rock für zu kurz hielt. Das | |
war lange vor der Revolution 1979. Zu glauben, erst die Mullahs hätten den | |
Frauenhass gebracht, ist kurzsichtig, faul und schlicht falsch. | |
Inwieweit hat Ihr Blick aus der Distanz „Holy Spider“ geprägt? | |
Ich zeige damit, dass es seit fast einem halben Jahrhundert eine | |
Parallelwelt gibt, die nur im iranischen Kino existiert, aber nicht in der | |
Realität. Diese Filme werden auf alle Festivals eingeladen und dort | |
gefeiert, mit Preisen überhäuft. Aber niemand stellt infrage, ob sich | |
Frauen im Iran wirklich abends voll bekleidet schlafen legen. Müssen sie | |
nie aufs Klo, haben sie nie Sex? Diese Filme sind der vielleicht | |
erfolgreichste Zensureinsatz in der Geschichte des Kinos. | |
Was sind in Ihren Augen die Gründe dafür? | |
Zum einen haben wir großartige Regisseure, die selbst einen Film machen | |
könnten, wenn ihnen nur der kleine Finger zur Verfügung stünde. Und die | |
Regierung pumpt sehr viel Geld in die lokale Filmindustrie, für | |
Produktionen unter ihrer Kontrolle. Die Filmemacher haben gelernt, mit | |
Zensur zu leben und zu rechtfertigen, warum sie nicht sagen und zeigen, was | |
sie eigentlich wollen. Es wird viel durch Metaphern und Mehrdeutigkeiten | |
ausgedrückt. Mein Job ist es, möglichst direkt zu sein. Nichts zwischen den | |
Zeilen, ich will den Dreck sehen und zeigen. | |
Ein Unterschied ist, dass Filmemacher wie Asghar Farhardi, [2][Jafar Panahi | |
und viele andere in Iran leben und arbeiten, oft unter extrem riskanten | |
Bedingungen]. Sie leben inzwischen in Dänemark, Ihr Film ist in Jordanien | |
entstanden. | |
Es wäre sicher merkwürdig, aus meiner Position heraus die Moralkeule zu | |
schwingen. Ich will mich auch gar nicht mit jemandem wie [3][Asghar Farhadi | |
vergleichen, der immer einen sehr schmalen Grat wandern muss, um im System | |
zu arbeiten und seine Filme durch die Zensur zu bekommen] und sie zugleich | |
so zu inszenieren, dass sie ein internationales Publikum ansprechen. Ich | |
beneide ihn da nicht. Aber ich fühle mich dem iranischen Kino auch nicht | |
verbunden, weder stilistisch noch mentalitätsmäßig. Ich finde dieses | |
Metaphernkino verdammt öde. Ein Mann geht drei Minuten eine staubige Straße | |
entlang. Ist das poetisch? Für mich pure Langeweile. Dabei ist der Iran | |
hoch spannend, voller Widersprüche und Gewalt, die Geschichten liegen auf | |
der Straße. | |
Sie wollten selbst ursprünglich vor Ort drehen… | |
Da hatte ich mir wohl etwas vorgemacht. Das hätte nie gut gehen können. | |
Letztlich bin ich der Zensurbehörde und dem Ministerium für Kultur und | |
islamische Führung dankbar, dass wir abgelehnt wurden. Sie halfen mir, den | |
Film in Jordanien so zu machen, wie ich wollte. | |
Sie haben noch Familie in Iran. Machen Sie sich keine Sorgen, sie zu | |
gefährden? | |
Natürlich. Es kommen auch fast täglich Drohungen in den sozialen Medien. | |
Die Regierung will uns paranoid machen, welche Konsequenzen das eigene | |
Handeln haben könnte, dass wir unsere Fantasie spielen lassen, was uns und | |
unseren Familien zustoßen könnte. Und selbstverständlich kann jederzeit | |
etwas passieren, aber ich versuche mich davon nicht einschüchtern zu | |
lassen. Was wäre die Alternative? Dass ich in Kopenhagen sitze und meinen | |
überteuerten Flat White in einem Hipster-Coffeeshop trinke und den Kopf | |
schüttle angesichts der schlimmen Situation? Ich habe mehr Angst davor, wie | |
ich später einmal beurteilt werde, wenn ich nichts tue, wie mein Sohn mich | |
fragen würde, warum ich meine Möglichkeiten nicht genutzt habe. | |
Die Wut, von der Sie vorhin sprachen, äußern seit Monaten auch sehr mutig | |
viele in Iran, vor allem junge Frauen und Mädchen. Was ist an diesen | |
Protesten anders als zuvor? | |
Ich bin im Grunde Zyniker und habe nicht viel Vertrauen in sogenannte | |
Revolutionen. 2009 war ich während der Grünen Bewegung als Journalist in | |
Iran. Mein Eindruck war damals, dass die Revolte zum Scheitern verurteilt | |
ist. Doch diesmal scheint es anders, diese teils erst 14-jährigen Mädchen | |
haben sogar meine Skepsis besiegt. Sie haben die Autorität des Staates ins | |
Wanken gebracht und gezeigt, dass große Teile der Bevölkerung von diesen | |
Leuten nicht regiert werden wollen. Ganz unterschiedliche Gruppierungen | |
unterstützen sich und sind solidarisch, Frauen und Männer, Minderheiten. Es | |
passieren Dinge im Iran, die ich in meinem Leben nie für möglich gehalten | |
hätte. Auch wenn das Regime mit aller Brutalität dagegen vorgeht, gibt es | |
Hoffnung. | |
9 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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