# taz.de -- Thriller „In der Nacht des 12.“ im Kino: Männer als Bedrohung | |
> Der Thriller „In der Nacht des 12.“ des französischen Regisseurs Dominik | |
> Moll erzählt von einem Frauenmord – und der Enge der Provinz. | |
Bild: „In der Nacht des 12.“: der Polizist Yohan (Bastian Bouillon) befragt… | |
Nachts sind die Straßen in Frankreich gelb. In den Dörfern im Bergland um | |
Grenoble oft auch recht duster, weil an der Beleuchtung öffentlicher Räume | |
gespart wird. Wo der schummrige Schein hinfällt, erscheint alles merkwürdig | |
unwirklich. Als Clara am 12. Oktober 2016 um 3 Uhr morgens in | |
Saint-Jean-de-Maurienne das Haus ihrer besten Freundin Nanie verlässt, | |
läuft sie durch den wie ausgestorben wirkenden Ort, schickt noch kurz eine | |
Audionachricht. | |
Da tritt unvermittelt ein Mann aus dem Dunkel. „Clara?“ Er ist maskiert, | |
sie fragt verängstigt, wer er ist. Ohne zu antworten, überschüttet der | |
Unbekannte sie mit einer Flüssigkeit, ein Feuerzeug flammt auf, die junge | |
Frau verbrennt bei lebendigem Leib. Ihre Leiche wird erst am nächsten | |
Morgen gefunden, fast unkenntlich. | |
„In der Nacht des 12.“, das neue Thrillerdrama des | |
[1][deutsch-französischen Filmemachers Dominik Moll („Die Verschwundene“)], | |
erzählt von den Ermittlungen zu diesem Frauenmord und macht gleich zu | |
Beginn klar, dass die Erwartungen an einen konventionellen Krimi und eine | |
in Sicherheit wiegende Auflösung nicht erfüllt werden. Fast 20 Prozent der | |
mehr als 800 Mordfälle jährlich in Frankreich würden nicht aufgeklärt, ist | |
auf der Texttafel noch vor dem ersten Bild zu lesen. „Dieser Film handelt | |
von einem davon.“ | |
Diesen realen Fall entdeckte Moll in dem Buch von Paulina Guéna, die ein | |
ganzes Jahr bei der Kriminalpolizei verbracht hat und deren Arbeit | |
akribisch beschreibt, in den letzten beiden Kapiteln auch die Ermittlungen | |
zu dem Mord an einer jungen Frau. Im Zentrum stehen der ehrgeizige junge | |
Polizist Yohan (Bastian Bouillon), der gerade erst die Leitung seiner | |
Einheit übernommen hat, und sein älterer Kollege Marceau (Bouli Lanners). | |
Schnell geraten die zahlreichen Affären und Sexbekanntschaften der | |
Ermordeten unter Verdacht, von denen es mehr gibt, als Nanie den Beamten | |
zunächst verrät, aus Furcht, ihre Freundin könnte damit ins falsche Licht | |
geraten und ihr eine Mitschuld angedichtet werden. | |
## Zeitaufwändige Ermittlungen | |
Von Verhör zu Verhör wird deutlicher, wie jede Beziehung Claras zu Männern | |
von Gewalt geprägt war. Einer ihrer jungen Liebhaber war wegen Übergriffen | |
auf andere Frauen bereits im Gefängnis, einer rappt frauenverachtende | |
Texte, ein anderer Verdächtiger stalkte sie. Keiner zeigt große Regungen | |
angesichts des Verbrechens, sie sehen in ihrem toxischen Verhalten nichts | |
Problematisches. Auch in der Belegschaft, anfangs ausschließlich männliche | |
Kollegen, fällt so manch chauvinistischer Spruch, so schockiert sie von der | |
brutalen Tat auch sind. Doch keinem der Verhörten lässt sich der Mord | |
nachweisen. | |
Moll nutzt die Konventionen des Genres und unterwandert sie zugleich. Bis | |
in kleinste Details zeigt er die zeitaufwändigen Ermittlungen, die Beamten | |
verbringen viel Zeit am Schreibtisch mit Berichten, und [2][nimmt der | |
Polizeiarbeit das vermeintlich Glamouröse]. | |
Yohan ist zunehmend frustriert und zugleich besessen davon, den Fall zu | |
lösen, je mehr er erkennt, wie sehr das Geschlechterverhältnis vergiftet | |
ist. Selbst Yohans Freizeit, die er bei nachtgelbem Licht auf der | |
Radrennbahn Runde um Runde verbringt, wird zur Metapher des | |
Nichtvorwärtskommens. Und die Berglandschaft wird zum Bild eines Weltbilds, | |
das in seinem eingeschränkten Horizont erstarrt ist. Ob Dorf oder Stadt | |
macht da kaum einen Unterschied. | |
Doch so sehr er und sein Kollege, der verbitterte Marceau mit seinen | |
Eheproblemen, im Mittelpunkt stehen, sind es letztlich die wenigen | |
Frauenfiguren, die vor allem dem Chefermittler die Augen öffnen und ihn | |
dazu bringen, seine Arbeit zu überdenken. Neben Nanie, die den | |
vorverurteilenden Blick auf das Opfer infrage stellt, über Claras Mutter | |
und ihren unerträglichen Schmerz um den Verlust bis zur resoluten | |
Staatsanwältin, die drei Jahre nach der Tat die Ermittlungen erneut | |
aufnehmen lässt und damit eine überraschende Wende bringt. | |
## Frauenhass und Gewaltpotential | |
Packend ist „In der Nacht des 12.“ dennoch. Das liegt nicht zuletzt an der | |
Atmosphäre des Unbehagens und der Verunsicherung, die Moll exzellent | |
beherrscht. Durch die akribische Schilderung der Ermittlungen enthüllt er | |
die ständige Bedrohung durch toxische Männlichkeit und Frauenhass, ein | |
Gewaltpotential, das sich durch alle Ebenen zieht. | |
Nichts daran ist sensationalistisch, selbst der Mord zu Beginn fast | |
abstrakt inszeniert. Moll seziert kühl und rational und irritiert zugleich | |
anregend, weil er bis zuletzt einfache Antworten verwehrt und sein Publikum | |
mit schmerzhaften Fragen zurücklässt, die weit über den Fall hinausgehen | |
und die Verhältnisse zwischen Frauen und Männern ganz allgemein berührt. | |
Am Ende ist der Mord zwar nicht gelöst, aber auf gewisse Art Yohan. Der | |
begeisterte Rennradfahrer dreht sich nun nicht mehr im Kreis der Rundbahn, | |
sondern fährt sich auf luftigen Serpentinen hoch oben in der weiten Natur | |
der Alpen frei. Ein trügerisches Bild auch das, selbst bei Tageslicht. | |
12 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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