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# taz.de -- Film über Sprache als Selbstermächtigung: Am Anfang steht das Wort
> Der Film „Die Aussprache“ von Sarah Polley spielt unter Frauen einer
> strenggläubigen Kolonie. Sie müssen reden über erfahrene männliche
> Gewalt.
Bild: Dinge klären ohne Männer: die Frauenrunde in „Die Aussprache“
Frauen reden, Männer handeln“, heißt es bisweilen, wenn Kritik an
vermeintlicher femininer Zögerlichkeit gegenüber angeblich maskulinem
Tatendrang zum Ausdruck gebracht werden soll. Abzuwägen, anstatt direkt
entschlossen anzupacken, wird so nicht nur als etwas typisch Weibliches,
sondern auch als etwas Verwerfliches, gar als Schwäche dargestellt.
Vor diesem Hintergrund ist „Die Aussprache“ nicht nur ein Filmtitel, der
selten unprätentiös die Ereignisse auf den Punkt bringt, die während der
zweistündigen Handlung zu erwarten sind: eine tiefschürfende Debatte einer
Gruppe Frauen jeden Alters nämlich, die nach der besten Möglichkeit sucht,
der Unterdrückung durch die Männer einer entlegenen kanadischen Kolonie zu
entkommen.
In der Wahl des Titels schwingt obendrein, vor allem in der Originalversion
(„Women Talking“), eine bestechende Kühnheit mit. Eine, die keine Sorge
darum erkennen lässt, dass die anklingende, gerne verspottete „Redseligkeit
der Frauen“ ein potenzielles Publikum abschrecken könnte. [1][Die
kanadische Filmemacherin Sarah Polley] („Alias Grace“) zeigt diese Kühnheit
auch in der Inszenierung ihres kammerspielartigen Dramas, das sich als
hingebungsvolle Lobrede auf den unermesslichen Wert des Worts, sein
emanzipatorisches Potenzial, lesen lässt.
„Die Aussprache“ widersetzt sich dabei konsequent der trügerischen
Rangordnung zwischen „Sprechen“ und „Handeln“ und insistiert: Sprechen …
Handeln. Ganz offensichtlich zu Recht. Wir gestehen Liebe mit Worten und
sprechen Trennungen aus. Wir handeln mitunter nicht, wenn wir schweigen.
Oder tun es eben doch, indem wir Dinge zur Sprache bringen. Was wäre etwa
das [2][Publikmachen von systematischer sexueller Belästigung, wie wir es
im Rahmen von #MeToo] erleben, anderes als eine Form des Handelns?
## Dem Erzählen vertrauen
Der Begeisterung für das Wort bleibt „Die Aussprache“ auch im Aufbau treu.
Dass der Film auf einer Buchvorlage, [3][dem gleichnamigem Roman von Miriam
Toews,] basiert ist durchweg erkennbar. Die vielgebrauchte „Show, don’t
tell“-Mahnung wird hier zu einem überzeugenden „Showing by telling“, ind…
Sarah Polley einen immensen Reichtum an Ideen offenbart, gerade indem sie
nahezu allein das Erzählen zeigt.
Wenngleich der Stoff so durchaus auch als Theaterstück funktionieren würde,
profitiert die Adaption enorm von der Gravitas, die ihr durch die filmische
Inszenierung verliehen wird. Eine entsättigte Farbpalette verstärkt das
Gefühl von zeitloser Bedeutung des Thematisierten, insbesondere der Einsatz
fahler Blautöne schafft eine überaus ansprechende, eigene Ästhetik.
Und doch ist es die Sprache selbst, die zum Ereignis wird. Nur die wenigen
Hintergrundinformationen vermittelt der Film beinahe tonlos: Aus der
Vogelperspektive ist eine junge Frau zu sehen, die mit Blut zwischen ihren
Beinen aus dem Schlaf erwacht. Es folgen weitere Szenen, die verdeutlichen,
dass sie weder die Einzige ist, die sich am Morgen nicht an die Gewalt
erinnern kann, die ihr des Nachts angetan wurde, noch dass sich die
Vorfälle zum ersten Mal ereignen.
Im Zusammenspiel mit einer zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Stimme aus
dem Off wird klar, dass die Männer der streng religiösen Gemeinde die dort
lebenden Frauen wiederholt mit einem Betäubungsmittel für Kühe außer
Gefecht setzten, um sie zu vergewaltigen. Ihre Berichte wurden zunächst
wahlweise als schlichte Ausgeburten einer lebhaften weiblichen Fantasie
oder als Teufelsheimsuchungen, als Strafe Gottes, abgetan.
## Befreiung oder Flucht?
Als es schließlich doch zu vorübergehenden Verhaftungen kommt, müssen sich
die Frauen darüber einig werden, wie sie auf die drohende Rückkehr der
Männer reagieren wollen. Nichts tun, bleiben und kämpfen, oder gehen? Unter
welchen Bedingungen ist ein Bleiben möglich, und wie könnten sie diese
durchsetzen? Käme ein Fortgehen einer Selbstbefreiung gleich, oder wäre es
doch nur eine feige Flucht?
Die Rahmenhandlung ist inspiriert von erschreckenden Ereignissen, die sich
zur Mitte der 2000er Jahre in der Manitoba-Kolonie, einer
ultrakonservativen mennonitischen Gemeinde in Bolivien, zutrugen. In ihrer
ablehnenden Haltung gegenüber modernen Errungenschaften mit den Amischen
vergleichbar, schottet sie sich von „Ungläubigen“ ab. Frauen werden dort
auf die Rolle der Ehefrau und Mutter reduziert, sind den Männern
untergeordnet. Etwa 130 Opfer im Alter zwischen 3 und 65 Jahren wurden über
Jahre hinweg missbraucht, ehe 2011 die Polizei eingeschaltet wurde.
Sarah Polley, die mit Miriam Toews auch das Drehbuch erarbeitete, nutzt das
fiktionalisierte Setting allerdings weniger, um diesen konkreten Extremfall
filmisch aufzuarbeiten, als dass es ihr als metaphorischer Schauplatz
dient, auf dem allgemeine Fragen um die Stellung der Frau im Patriarchat
potenziert werden.
Die oft widerstrebenden Positionen der verschiedenen Figuren, die auf dem
Heuboden einer dunklen Scheune zusammenkommen, um über die richtige
Reaktion auf ihre Lage zu beraten, erinnern teils verblüffend an die
verschiedenen Haltungen von Frauen innerhalb heutiger Diskussionen, etwa in
besagter #MeToo-Debatte.
Die verbitterte Janz (Frances McDormand) zum Beispiel, deren Gesicht von
einer vielsagenden Narbe durchzogen ist, scheint unter dem Eindruck der
selbst durchlebten Widrigkeiten weder an einen Wandel zu glauben, noch ist
sie, angetrieben durch ihren strengen Glauben an die Richtigkeit des Status
quo, offen für Veränderungen. Sie zieht sich jäh zurück, während die acht
verbleibenden Frauen über die Optionen, die ihnen bleiben, debattieren.
## Rachegedanken oder der Wunsch nach Gerechtikgeit
Aus der Wut über das erfahrene Leid setzt sich Salome (Claire Foy) wiederum
dezidiert dafür ein zu bleiben und die Männer zu bekämpfen. In dem Willen,
Rache zu nehmen, spielen Erwägungen darüber, in welchem Ausmaß diese
gerechtfertigt oder auch nur erfolgversprechend sein könnten, eine
untergeordnete Rolle. Mariche (Jessie Buckley) ist ähnlich erzürnt über die
Gewalt, spricht sich aber für eine pragmatischere Lösung aus. Weil sie
keinen Ausweg aus den Umständen sieht, plädiert sie dafür, sich mit den
Männern zu arrangieren.
Die schwangere Ona (Rooney Mara) hingegen scheint sich vor allem gerechte
Verhältnisse zu wünschen. Sie ist es, die die Positionen der anderen Frauen
am konsequentesten infrage stellt und so Reflexionen darüber anstößt,
inwieweit Unterdrückung durch etablierte Strukturen begünstigt wird und
wann von individueller Verantwortung gesprochen werden muss. Darüber,
inwieweit Schweigen und Erdulden von Gewalt gerechtfertigte
Überlebenstaktik sind und wann man von einer Mitschuld daran sprechen muss,
dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind.
Wenngleich der Film in Momenten, in denen sich die Diskussion im Kreise
bewegt, durchaus Längen hat, findet „Die Aussprache“ dank des
herausragenden Ensembles, zu dem auch Judith Ivey und Sheila McCarthy
gehören, immer wieder zu seiner Intensität zurück.
Auch das macht den Film zu einer Ausnahmeerscheinung: Selten sind derart
viele der spannendsten Schauspielerinnen unserer Zeit in einem Projekt
versammelt – und weitgehend unter sich. Neben dem jungen trans* Mann Melvin
(August Winter) ist Dorflehrer August (Ben Whishaw) die einzige männliche
Rolle, der ein etwas größerer Raum zugestanden wird. Die Täter werden,
ebenso wie unmittelbare Gewaltdarstellungen, beinahe vollständig
ausgeblendet.
## Weibliche Selbstermächtigung
Auch Entscheidungen wie diese machen Sarah Polleys vierten Langfilm zu
einer durchdachten, in ihrer Argumentation ungewöhnlich tiefgründigen
Abhandlung über weibliche Selbstermächtigung. Eine, die bei aller
Schwermut, die sich auch in den eindringlichen, meist
gespenstisch-bedrohlichen Kompositionen von Hildur Guðnadóttir („Tár“)
widerspiegelt, niemals ohne Hoffnung ist.
Letztlich verheißt „Die Aussprache“, dass Veränderung durchaus möglich i…
Und zwar dann, wenn Frauen – anders als in der bis heute existierenden
Manitoba-Kolonie, wo sich nach den Verurteilungen ein Mantel des Schweigens
um die Vorfälle legte – immer weitersprechen.
7 Feb 2023
## LINKS
[1] /Sarah-Polleys-Filmdebuet/!5190431
[2] /Film-She-Said-zum-MeToo-Skandal/!5897248
[3] /Roman-ueber-Mennonitenkolonie/!5585830
## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
Selbstermächtigung
Literatur
Spielfilm
Gewalt gegen Frauen
Patriarchat
Schwerpunkt Berlinale
Kino
Frauenmord
Sexuelle Übergriffe
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