| # taz.de -- Spielfilm „November“ über Bataclan: Wer betroffen ist, geht na… | |
| > Der Film „November“ schildert den Terroranschlag auf das Pariser Bataclan | |
| > aus Sicht der Polizei. Regisseur Cédric Jimenez inszeniert betont | |
| > nüchtern. | |
| Bild: Fred (Jean Dujardin) von der Antiterroreinheit der französischen Polizei… | |
| Gutes Timing ist im Kino immer wichtig. Das gilt auch für den Filmstart. | |
| Bei Werken, die Ereignisse der Zeitgeschichte aufarbeiten, ist Letzteres | |
| sogar von besonderer Bedeutung. Erscheinen sie allzu eng entlang runder | |
| Kalenderdaten, kommt schnell der Verdacht von Auftragsarbeit und | |
| Pflichtschuldigkeit auf. | |
| Kommt es gar zu einer Welle von Filmen zum gleichen Ereignis, wie es in | |
| nicht wenigen Jahren beim Thema „9/11“ der Fall war, dann droht sofort die | |
| Gefahr, dass ein Film den anderen in den Schatten stellt. Oder die | |
| Aufmerksamkeit des Publikums wird so stark monopolisiert, dass dann der | |
| nächste Film, der wirklich etwas Neues sagen will, schon wieder niemand | |
| mehr interessiert. | |
| „November“, ein Film des 46-jährigen Regisseurs Cédric Jimenez, ist also … | |
| der verhältnismäßig glücklichen Rolle, den Auftakt einer ganzen Reihe von | |
| Filmen über die Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris zu bilden. | |
| Folgen werden noch in diesem Herbst Kilian Riedhofs „Meinen Hass bekommt | |
| ihr nicht“ (Start: 10. 11.) und [1][Isaki Lacuestas] „Frieden, Liebe & | |
| Death Metal“ (Start 15. 12.). | |
| Der im September in Frankreich gestartete und dort hochgelobte „Paris | |
| Memories“ von Alice Winocour wird wahrscheinlich bald dazustoßen. Wer | |
| trotzdem immer noch mehr wissen will über die Ereignisse rund um Bataclan, | |
| Stade de France und Saint Denis, kann auf Netflix bereits jetzt die | |
| dreiteilige französische Doku-Serie von 2018, „13. November: Angriff auf | |
| Paris“, streamen. | |
| Die drei Spielfilme, die noch kommen, haben bei aller Unterschiedlichkeit | |
| eines gemeinsam: Sie handeln von den Nachwirkungen der brutalen Attentate. | |
| Zwei („Meinen Hass bekommt ihr nicht“ und „Frieden, Liebe & Death Metal�… | |
| beruhen auf Berichten von realen Personen, die als Angehörige oder als | |
| Mitbetroffene die Attentatsnacht erlebt beziehungsweise überlebt haben. | |
| „November“ aber geht einen ganz anderen Weg: Der Film schildert die | |
| Ereignisse mit bewusster Einseitigkeit aus nur einer Perspektive – der der | |
| Polizei und Sicherheitskräfte. Man ist deshalb versucht, ihn als „Thriller“ | |
| einzuordnen, aber irgendetwas daran fühlt sich nicht ganz richtig an. | |
| Der Einstieg erfolgt genregerecht mit Datums- und Ortsangabe: Anfang des | |
| Jahres 2015, der [2][Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift | |
| Charlie Hebdo] hat gerade die Welt erschüttert, versucht ein Team der | |
| französischen SDAT (Sous-direction anti-terroriste) unter Führung von Fred | |
| (Jean Dujardin) eine Dschihadisten-Zelle in Athen, Griechenland, | |
| auszuheben; ihr gesuchter Hauptverdächtiger, der Belgier Abdelhamid | |
| Abaaoud, aber entkommt. | |
| Von Freds enttäuschter Miene über den Dächern von Athen geht es dann direkt | |
| nach Paris zum Abend des 13. November. Menschen sammeln sich in Bars, um | |
| das Freundschaftsspiel zwischen den Fußball-Nationalteams Deutschland und | |
| Frankreich, das im Pariser Stade de France ausgetragen wird, anzusehen. | |
| ## Detonationen im Umfeld des Stadions | |
| In einem Flugzeug sitzen Fred und seine SDAT-Vorgesetzte Héloïse (Sandrine | |
| Kiberlain) und erhalten beunruhigende Informationen über Detonationen im | |
| Umfeld des Stadions – manche werden sich erinnern: Man konnte sie in der | |
| TV-Liveübertragung hören –, in der Zentrale der SDAT versieht Marco | |
| (Jérémie Renier) seinen Spätdienst, einsam unter lauter leeren | |
| Schreibtischen. Erst klingelt nur ein Telefon, dann ein zweites, drittes, | |
| dann alle. | |
| Von den Attentaten selbst, weder den Schüssen auf der Straße noch den | |
| [3][Schreckensszenen beim Rock-Konzert der US-Band Eagles of Death Metal im | |
| Bataclan], sieht man in „Novembre“ nichts. | |
| Jimenez erzählt in großer Dichte einzig von dem, was aufseiten der | |
| Sicherheitskräfte in den fünf Tagen zwischen dem Abend des Anschlags und | |
| dem 18. 11. passierte, dem Tag, an dem während einer Razzia im Pariser | |
| Stadtteil St. Denis zwei der mutmaßlichen Täter und die am Attentat | |
| unbeteiligte Cousine Abaaouds, Hasna Aitboulahcen, umkamen. Die Polizei | |
| hatte, so wird bis heute oft zitiert, über 5.000 Schüsse abgegeben; die | |
| Bilder der gesprengten Wohnung – einer der Attentäter hatte im Innern noch | |
| einen Sprengsatz gezündet – sahen nach Bürgerkrieg aus. | |
| ## Ergreifendste Szene des Films | |
| Inmitten solcher Ereignisse muss das Drehbuch gar keinen eigenen | |
| Spannungsbogen aufmachen. Interessant ist, wie die thrillergerechten | |
| Emotionen kanalisiert werden. In der ergreifendsten Szene des Films sieht | |
| man Dujardins Fred zu seinem ganzen Team sprechen. Es sind erst wenige | |
| Stunden nach den Taten vergangen, die Lage ist unübersichtlich und die | |
| erschreckend hohe Zahl der Opfer zeichnet sich gerade erst ab. | |
| Fred fordert all die, die zu viel Gefühle ob des Geschehenen empfinden oder | |
| gar persönlich betroffen sind, dazu auf, nach Hause zu gehen. Für die | |
| Arbeit, die ansteht, brauche es Emotionslosigkeit. Jimenez reproduziert | |
| diese Forderung in seiner Weise durch eine auf Nüchternheit abzielende | |
| Inszenierung mit forciertem Erzählrhythmus und abrupten Ortswechseln. Man | |
| sieht die Figuren immer nur „on the job“, es gibt kaum private Momente oder | |
| Szenen. | |
| Auf Dialoge, die Außenstehenden erklären würden, woran im Einzelnen | |
| gearbeitet wird, verzichtet Jimenez ebenfalls. Er wirft seine Zuschauer | |
| hinein in einen kaum verständlichen Tumult aus hektischen Bewegungen, | |
| Berufsjargon und angespannten Gesichtern – und hält sie so gleichzeitig auf | |
| Abstand. | |
| ## Mit Doku-Anmutung | |
| Das Ergebnis ist zwiespältig. Einerseits schält sich die Komplexität der | |
| Aufgaben heraus, die die Polizei nach solchen Ereignissen leisten muss. Das | |
| Hauptaugenmerk liegt auf den mutmaßlichen Tätern, die man möglichst schnell | |
| dingfest machen möchte. Gleichzeitig gilt die größere Sorge dem, dass von | |
| ihnen weitere Attentate folgen könnten – und manche Spur, der man folgt, | |
| vielleicht sogar eine absichtlich gestellte Falle sein könnte, um | |
| Polizeiaugen von den nächsten Bomben und Schlimmerem abzulenken. | |
| Andererseits macht die quasidokumentarische Anmutung die fiktiven Elemente | |
| schärfer sichtbar. Es beginnt schon mit dem eigenartigen Gefühl der | |
| Entspannung, das mich als kundige Zuschauerin befällt, sobald man in allen | |
| Lagen gut aussehende Schauspieler wie Dujardin und Kiberlain in | |
| Verantwortung sieht. | |
| Man weiß dann, dass die Dinge in guten Händen liegen. Und wenn Anaïs | |
| Demoustier als junge Polizistin im Ermittlungsübereifer einer ganz eigenen | |
| Spur folgt und mit ihren Entdeckungen fast die gesamte Operation gefährdet | |
| – vertraut man mit Kinoerfahrung ebenfalls auf den unmittelbaren | |
| Lernerfolg. Wie überhaupt die gewollt nüchterne Inszenierung Jimenez nicht | |
| davor bewahrt, seine Polizisten als Helden mit quasi übernatürlichen | |
| Kräften zu zeigen; oder zumindest ausstattet, mit der außerordentlichen | |
| Begabung, immer zur richtigen Zeit auf den richtigen Bildschirm zu starren. | |
| Problematisch ist Jimenez’ bemühte Trockenheit weniger, weil sie | |
| spannungsabträglich wäre – davon ist umständehalber genug da –, sie wird | |
| schwierig, wo sie etwas verschleiert. Gerade weil man zu wenig über die | |
| Figuren als Figuren erfährt, um mit ihnen mitzufiebern, steht die Aura der | |
| Schauspieler für die Tadellosigkeit ihres Verhaltens ein. In dieser | |
| Perspektive sind ihre Fehler solche, die man verzeihen kann. Während | |
| gleichzeitig die menschlichen Dilemmata, auf die sie sich einlassen – | |
| Demoustiers Figur macht einer wichtigen Zeugin Versprechungen, die sie | |
| nicht halten kann –, ohne Alternative und von sachlichen Umständen diktiert | |
| erscheinen. | |
| Die Razzia in St. Denis mit ihren bürgerkriegshaften Schluss wird so zum | |
| einzig logischen Finale, so als hätte niemand anders handeln können. Ein | |
| Fazit, das bei aller Thrillerspannung und Unterhaltsamkeit wie gesagt | |
| unwohle Gefühle hinterlässt. Wie gut, dass es weitere Filme zum Thema gibt! | |
| 20 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Filmfestival-in-San-Sebastian/!5536632 | |
| [2] /Dokumentarfilm-Je-suis-Charlie/!5266673 | |
| [3] /Seltsames-Eagles-of-Death-Metal-Interview/!5307820 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
| Spielfilm | |
| Bataclan | |
| Polizei | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| DVD | |
| Frauenmord | |
| Spielfilm | |
| Posttraumatische Belastungsstörung | |
| Sexuelle Übergriffe | |
| Terrorismus | |
| Bataclan | |
| Je suis Charlie | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Spielfilm „Rebel“ über IS-Terror: Aus Schüssen wird Tanz | |
| Der Spielfilm „Rebel – In den Fängen des Terrors“ von Adil & Bilall spie… | |
| zwischen Belgien und Syrien. Die Regisseure haben Hollywooderfahrung. | |
| Film „Tagebuch einer Pariser Affäre“: Verwickelte Liebeskonstellationen | |
| Der französische Regisseur Emmanuel Mouret ist ein Meister komplizierter | |
| Gefühle. Sein Film „Tagebuch einer Pariser Affäre“ bestätigt das. | |
| Thriller „In der Nacht des 12.“ im Kino: Männer als Bedrohung | |
| Der Thriller „In der Nacht des 12.“ des französischen Regisseurs Dominik | |
| Moll erzählt von einem Frauenmord – und der Enge der Provinz. | |
| Gothic-Thriller auf Netflix: Die Schwermut der Detektive | |
| In „Der denkwürdige Fall des Mr Poe“ müssen Morde an einer Militärakadem… | |
| aufgeklärt werden. Doch der Film ist etwas konventionell erzählt. | |
| Spielfilm über Bataclan-Überlebende: Wenn die eigene Legende bröselt | |
| „Frieden, Liebe und Death Metal“ begleitet ein Paar, das die Anschläge im | |
| Pariser Bataclan erlebt hat. Ein Film zwischen Trauma und Verdrängung. | |
| Film „She Said“ zum #MeToo-Skandal: Bloß kein Drama! | |
| Maria Schrader verfilmt in „She Said“ die Recherche zum späteren | |
| Weinstein-Skandal. Sie stellt sich ganz in den Dienst der | |
| #MeToo-Geschichte. | |
| Spielfilm zu Terror der baskischen ETA: Alles, was wir zeigen, ist passiert | |
| Die spanische Regisseurin Icíar Bollaín beschäftigt sich in ihrem neuen | |
| Spielfilm mit Folgen des ETA-Terrors. Ein Gespräch über Traumata und | |
| Aussöhnung. | |
| Seltsames Eagles-of-Death-Metal-Interview: Zusammen in der Scheiße | |
| Die große Verschwörung: Jesse Hughes von den Eagles of Death Metal hat ein | |
| verstörendes Interview über den Paris-Anschlag gegeben. | |
| Dokumentarfilm „Je suis Charlie“: Zum Abschied die „Internationale“ | |
| Daniel und Emmanuel Leconte würdigen die Toten des Attentats auf „Charlie | |
| Hebdo“ mit beeindruckendem Archivmaterial. |