| # taz.de -- Filmfestival in San Sebastián: Fremdes Geld steckt man einfach ein | |
| > Beim San Sebastián Film Festival zeigt sich das spanische Kino kreativ | |
| > wie lange nicht. Aus dem Baskenland indes kommt Widersprüchliches. | |
| Bild: Monolith im spanischen Filmschaffen: „Entre Dos Aguas“ (Between Two W… | |
| Auch wenn im Alltag nicht viel darüber geredet wird, sind in Spanien die | |
| Vergangenheit und die Erinnerung an nicht überwundene Traumata noch immer | |
| sehr präsent. Das wurde gerade wieder sehr deutlich auf dem Samstagabend zu | |
| Ende gegangenen Filmfestival im baskischen San Sebastián. | |
| Es ist ein bemerkenswertes Jahr für das spanische Kino, das sich nach | |
| Jahren wirtschaftlicher Not und der damit verbundenen kollektiven | |
| Depression, die sich auch in den oft unter prekären Umständen produzierten | |
| Filmen widerspiegelte, nun offensichtlich freischwimmt. In diesem Jahr ist | |
| ein kreativer Befreiungsschlag zu beobachten, eine erstaunliche Bandbreite | |
| von Filmen, die sich sowohl in den Finanzierungsmodellen als auch in der | |
| Ästhetik stark unterscheiden. | |
| Allein die beiden spanischen Favoriten des internationalen Wettbewerbs | |
| hätten unterschiedlicher kaum sein können. Beide Regisseure haben bereits | |
| mit früheren Werken die Goldene Muschel, den Hauptpreis des Festivals, | |
| gewonnen. Carlos Vermut, der mit Abstand interessanteste Filmemacher | |
| Spaniens seiner Generation unter 40, hat nach dem sensationellen und in | |
| Deutschland komplett ignorierten „Magical Girl“ (2014) einen nicht minder | |
| kontroversen Film gedreht, der in San Sebastián Kritik und Publikum | |
| gespalten hat wie kein Zweiter. | |
| Carlos Vermuts „Quién te cantará“ ist die mehrfach gespiegelte Geschichte | |
| einer Popsängerin, die sich nach einem Unfall nicht mehr an ihre | |
| Vergangenheit und Identität erinnert und von ihrem größten Fan, einer | |
| Karaoke-Performerin, ersetzt wird. Was Vermut aus dieser Scharade um Ruhm | |
| und Authentizität macht, ist nicht nur spannender und vielschichtiger als | |
| die in Venedig gefeierten, aber letztlich konventionellen Celebrity-Studien | |
| „A Star Is Born“ mit Lady Gaga und „Vox Lux“ mit Natalie Portman, sonde… | |
| auch ästhetisch gewagter als viele Frauenfilme von Vermuts großem Vorbild | |
| Almodóvar. | |
| ## So widersprüchlich wie das Baskenland selbst | |
| Als bester Film des internationalen Wettbewerbs wurde am Ende dann aber der | |
| zweite herausragende spanische Beitrag ausgezeichnet, das Dokudrama „Entre | |
| Dos Aguas“ von Isaki Lacuesta, der hier bereits 2011 mit „Los Pasos Dobles�… | |
| den Hauptpreis gewonnen hatte. Lacuesta kehrt zu den Protagonisten seines | |
| Films „La Leyenda del Tiempo“ (2006) zurück und lässt die beiden inzwisch… | |
| erwachsenen Roma-Brüder Isra und Cheíto ihr eigenes Leben nachspielen. | |
| Während Isra wegen Drogenhandels im Gefängnis saß, heuerte sein Bruder bei | |
| der Marine an und träumte von einer eigenen Bäckerei. Die Erinnerung an den | |
| gewaltsamen Tod ihres Vaters in ihrer Kindheit bringt die beiden | |
| schließlich wieder näher zusammen. Die Jury zeichnet damit einen Film aus, | |
| der sehr geschickt Dokumentarisches und Fiktion verbindet und wie ein | |
| Monolith aus dem spanischen Filmschaffen herausragt. | |
| Die lokalen Filme aus dem Baskenland indes sind so widersprüchlich wie die | |
| autonome Region selbst. Der Dokumentarfilm „Mudar la piel“ etwa beleuchtet | |
| die ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem Regisseur, dessen Vater in den | |
| Friedensverhandlungen der baskischen Terrororganisation ETA und der | |
| spanischen Regierung vermittelte, und dem Mann, der dessen Arbeit und Leben | |
| über Jahre ausspionierte. Es ist aber auch deutlich, dass das Festival sich | |
| gezwungen sieht, der Legenden- und Mythenbildung ein Forum zu bieten und | |
| propagandistische Werke wie den Tanzfilm „Dantza“ ins Programm zu hieven, | |
| in dem mit folkloristischem Kitsch versucht wird, die baskische Region | |
| pseudohistorisch als eigenständige Kulturnation zu etablieren. | |
| Auch dem Serientrend kann sich das Festival, wie schon zuvor Berlin und | |
| Venedig, nicht mehr verschließen. Der Schauspieler Paco León präsentierte | |
| sein Regiedebüt mit der in Schwarzweiß gedrehten Comedyserie „Arde Madrid“ | |
| über das High-Society-Leben der Hollywood-Diva Ava Gardner im Madrid der | |
| sechziger Jahre während der Franco-Diktatur. Mit derbem Humor reflektiert | |
| León einen obskuren Aspekt spanischer Geschichte und erzählt nebenbei von | |
| Klassenunterschieden und frühem Feminismus. | |
| ## Die Schlüsselszene des Festivals | |
| Mit der Vergangenheit hadert auch der Protagonist der großartigen Serie | |
| „Gigantes“ über einen kriminellen Clan, der dekadenlang von Spanien aus | |
| ganz Europa mit Drogen versorgt hat. Als der älteste der drei Brüder nach | |
| 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und seinen angestammten Platz in | |
| der Hierarchie einnehmen will, steht er einer völlig veränderten Welt | |
| gegenüber. | |
| An jüngeren Ereignissen und deren Auswirkungen auf die Gegenwart arbeitet | |
| sich „El reino“ von Rodrigo Sorogoyen ab. Zunächst wirkt der Film wie ein | |
| klassischer Thriller über die Korruption der politischen und | |
| wirtschaftlichen Elite Spaniens, der effektvoll alle Genrekonventionen | |
| nutzt. Dabei interessiert er sich nicht für ökonomische Analysen oder | |
| konkrete Bezüge auf Regierungsverbrechen; vieles bleibt sehr bewusst im | |
| Vagen und wirkt dadurch umso dringlicher, weil er nicht Einzelne | |
| anprangert, sondern das strukturelle Problem aufdeckt. | |
| Die Schlüsselszene des Festivals ist aus diesem Film. Der zu Recht | |
| verfolgte Protagonist kämpft darum, nicht als Alleinschuldiger bloßgestellt | |
| zu werden und für alle anderen den Kopf hinzuhalten. Weitab vom | |
| Machtzentrum Madrid versucht er, in einer Bar von einem öffentlichen | |
| Telefon aus seinen Informanten anzurufen, hat aber keine Münzen. Als er den | |
| Kellner um Wechselgeld bittet, gibt dieser es gedankenverloren einem | |
| anderen Kunden. Statt den offensichtlichen Fehler aufzudecken, steckt der | |
| Gast das Geld einfach ein. Das Publikum in San Sebastián hat den Wink | |
| verstanden: Nicht allein die Elite ist korrupt und auf ihren Vorteil aus, | |
| jeder Einzelne ist es. | |
| 30 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Abeltshauser | |
| ## TAGS | |
| Filmfestival | |
| San Sebastián | |
| Lady Gaga | |
| Natalie Portman | |
| Baskenland | |
| Nordafrika | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Filmfestspiele von Carthage: Homosexualität und neue Väter | |
| Die Filmfestspiele von Carthage erzählen Geschichten von der anderen Seiten | |
| des Mittelmeers. Nahaufnahmen von Menschen in disparaten Gesellschaften. | |
| Lidokino 11: Der Abschluss: Die Größe kleiner Geschichten | |
| Der Goldene Löwe geht in Venedig an den Film „Roma“ des Mexikaners Alfonso | |
| Cuarón. Und damit erstmals an eine Netflix-Produktion. | |
| Vor Beginn der Filmfestspiele von Venedig: Der Lido und die Zukunft des Kinos | |
| In Kürze beginnt die 75. Edition des legendären Filmfestivals. Venedig gibt | |
| sich als Vorreiter – etwa bei der Zusammenarbeit mit Netflix. | |
| Abschluss des Filmfestivals in Cannes: Plädoyer für Wahlverwandtschaften | |
| Hirokazu Koreeda hat die Goldene Palme bekommen. Das ist eine souveräne | |
| Entscheidung der Jury unter dem Vorsitz von Cate Blanchett. |