# taz.de -- Autor:innen über Protest in Iran: Feminismus und Revolution | |
> Roya Hakakian und Sama Maani sprechen über die historische Besonderheit | |
> der aktuellen Proteste in Iran. Die Gesellschaft verändere sich. | |
Bild: Gegen den Schah mit und ohne Hidschab: Frauen bei einer Demonstration in … | |
wochentaz: Frau Hakakian, Herr Maani, seit knapp vier Monaten protestieren | |
Iraner:innen unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“. Was zeichnet | |
diese Erhebung aus? | |
Roya Hakakian: Seit 1979 ist der Iran durch verschiedene turbulente Momente | |
gegangen. Dieses Mal gibt es aber keine politische Partei oder | |
Organisation, weder von links noch von rechts. Die Abwesenheit einer | |
solchen politischen Infrastruktur ist ein Vorteil, das macht die Proteste | |
weniger ideologisch. Die Proteste drehen sich um den grundlegenden | |
menschlichen Wunsch nach einem normalen Leben. Das Problem ist allerdings, | |
dass es ohne eine solche Infrastruktur kaum möglich ist, sich nachhaltig zu | |
organisieren. Zudem fehlt jeder Dialog zwischen den Protestierenden und den | |
Autoritäten. Früher gab es Forderungen nach höheren Gehältern oder nach | |
einem unverfälschten Wahlergebnis. Heute heißt es nur: Geht! Das ist etwas | |
grundlegend Neues, eine Unterbrechung. | |
Sama Maani: Die aktuelle revolutionäre Bewegung strebt eine Korrektur der | |
Geschichte an. Bereits von 1905 bis 1911 erkämpften Iranerinnen und Iraner | |
eine demokratische Verfassung mit bürgerlichen Grundrechten. [1][Die | |
Konstitutionelle Revolution] war gegen die absolutistische Monarchie der | |
Kadscharen-Dynastie gerichtet. De jure galt die erkämpfte Verfassung sogar | |
bis 1979 – auch wenn die beiden Monarchen der ab 1925 folgenden | |
Pahlevi-Dynastie, abgesehen von einer demokratischen Phase zwischen 1941 | |
und 1953, de facto diktatorisch herrschten. Die Konstitutionelle Revolution | |
war durch eine relative Säkularität und Liberalität, die Zuwendung zur | |
westlichen Moderne und die wichtige Rolle der Frauen geprägt. Darauf | |
reagierte eine religiöse Gegenbewegung um den Kleriker Fazlollah Nuri, auf | |
die sich dann später auch Ruhollah Chomeini, der Führer der Islamischen | |
Revolution, berief. Die aktuelle Protestbewegung will nun die Emanzipation | |
der Gesellschaft von Religion fortführen, die 1905 begonnen und 1979 | |
unterbrochen worden war. | |
In welchem Zusammenhang stehen die aktuellen Proteste mit grundlegenden | |
Trends in der iranischen Gesellschaft? | |
Hakakian: Seit jeher insistiere ich: Der Iran ist mehr als das | |
islamistische Regime, und die iranische Gesellschaft kann nicht auf das | |
Religiöse und den Islam reduziert werden. Regelmäßig wurden mir eine | |
verzerrte Wahrnehmung und Wunschdenken vorgeworfen. Nun aber ist es mehr | |
als deutlich: [2][Die Theokratie hat viele Iraner:innen in Säkulare | |
verwandelt]. | |
Maani: Hier möchte ich einhaken. 2020 hat die Universität Tilburg in einer | |
repräsentativen Onlinestudie 40.000 Iraner:innen anonym nach ihren | |
religiösen Überzeugungen gefragt. Demnach identifizieren sich nur 40 | |
Prozent als Muslime und sogar nur 30 Prozent als Schiiten. Das ist ein | |
wichtiger Befund. Denn da der schiitische Islam die ideologische Basis des | |
Gottesstaates Iran bildet, verweist die Umfrage auf die massive Entfremdung | |
zwischen der iranischen Gesellschaft und dem islamischen Regime. | |
Herr Maani, ihr 2021 veröffentlichter Roman „Žižek in Teheran“ handelt v… | |
einer fiktiven Frauenrevolution. Haben Sie reale Proteste von dieser | |
politischen Radikalität für möglich gehalten? | |
Maani: In ihrer überwiegenden Mehrheit lehnen die über 80 Millionen | |
Iraner:innen die Islamische Republik ab. Gleichzeitig gibt es aber | |
hunderttausende Regime-Anhänger, die an die Ideologie der islamischen | |
Herrscher glauben und auch bereit sind, für diesen ihren Glauben zu töten | |
und zu sterben. Zum Teil sind sie als Basidschi oder Revolutionsgarden bis | |
an die Zähne bewaffnet, gut organisiert und willens, Proteste brutal | |
niederzuschlagen. Diese Kräfte standen dem Schah 1978/79 nicht zur | |
Verfügung. Dass nun aber so viele Menschen bereit sind, für eine | |
emanzipatorische politische Sache auf die Straße zu gehen und dabei auch | |
ihr Leben zu riskieren – damit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. | |
Wie ordnen Sie den zentralen, inzwischen weltweit bekannten Slogan der | |
Proteste, „Frau, Leben, Freiheit“, ein? | |
Hakakian: Für mich ist das ein Echo und eine Antwort auf die Grundidee der | |
US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: „Leben, Freiheit und | |
das Streben nach Glück“. | |
Maani: Mir ist es wichtig zu betonen, dass die Parole aus dem syrischen | |
Kurdistan stammt. Inzwischen wird sie überall im Iran skandiert: sowohl in | |
den großen Städten wie Teheran als auch in entlegenen Gebieten, an | |
Universitäten wie an Schulen. Wir begegnen hier einer noch nie dagewesenen | |
Solidarität zwischen den verschiedenen Ethnien im Vielvölkerstaat Iran. | |
Hakakian: Auch ich möchte die starke Beteiligung von Belutsch:innen und | |
Kurd:innen hervorheben. Dazu kommt die Kontinuität der Proteste. Das ist | |
historisch einmalig. So gab es nicht einmal 1979 vier Monate lang fast Tag | |
und Nacht Proteste und Demonstrationen. Allerdings sind 2009, bei den | |
Demonstrationen gegen den Wahlbetrug, Millionen Menschen auf die Straße | |
gegangen. Aktuell sind wir allerdings noch bei unter 5 Prozent der | |
Gesamtbevölkerung. | |
Das öffentliche und ikonische Abnehmen von Kopftüchern gab es bereits bei | |
den Protesten von 2017/18 und 2019. | |
Maani: Ja – aber dass die Kopftücher nun massenhaft abgenommen und sogar | |
verbrannt werden, ist neuartig. Es unterstreicht den radikalen, | |
feministischen Charakter dieser Revolution. | |
Hakakian: Um den Bogen zum Ausland zu spannen – ich bin begeistert, dass | |
nun auch Linke und Liberale im Westen stärker anzuerkennen scheinen, dass | |
das Thema Hidschab verschiedene Implikationen hat. Wer sich in den | |
westlichen demokratischen Ländern für das Recht muslimischer Frauen | |
positioniert, den Hidschab zu tragen, kann diese Wahlfreiheit nicht | |
anderswo negieren. Nur geht es im Iran um die Freiheit von religiösen | |
Restriktionen wie dem Hidschab-Zwang. | |
Auffällig ist das starke Echo, das die Proteste in der iranischen Diaspora | |
ausgelöst haben. Ist das ebenfalls neu? | |
Hakakian: Die Diaspora besteht aus Linken, Royalisten, Anhängern der | |
konservativen Volksmudschahedin und auch Iraner:innen, die sich mit keiner | |
dieser Strömungen identifizieren. Dazu kommen noch die Regimetreuen, von | |
denen manche als Spione gegen die Opposition aktiv sind. Trotz dieser | |
politischen Heterogenität ist die Unterstützung der Proteste in der Tat | |
sehr stark und in diesem Ausmaß auch neuartig. Siehe etwa die große | |
Demonstration in Berlin oder am Europäischen Parlament in Straßburg für die | |
Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation. Zentral für eine | |
Weiterentwicklung der Proteste auch im Ausland wäre eine identifizierbare | |
Führung. | |
Sehen Sie eine solche entstehen? | |
Hakakian: Ich beobachte Bemühungen. Die sind allerdings zu langsam, um mit | |
den Entwicklungen im Iran Schritt zu halten. Es gibt eine große Diskrepanz, | |
und das ist gefährlich. Denn wenn die Bewegung vor Ort an Aufmerksamkeit | |
verliert und wir im Ausland im Tempo hinterherhinken, geht das Momentum | |
verloren. | |
Auch jenseits der Diaspora erfahren die Geschehnisse im Iran große | |
Aufmerksamkeit – weit mehr als bei vorigen Protesten. Wie erklären Sie sich | |
das? | |
Hakakian: 2009 etwa, als, so die ikonischen Bilder, wütende Frauen, in den | |
Tschador gehüllt, ihre Fäuste in die Luft reckten, wurden die Proteste | |
stärker als fremdartig wahrgenommen. Wenn nun ein Teenager den Hidschab | |
abnimmt und anzündet, dann können sich Westler mit dieser Frustration, mit | |
dem Streben danach, eine Wahl haben zu können, besser identifizieren. | |
Insbesondere jetzt, wo hier in den USA die Idee der Wahlfreiheit im Zuge | |
der Debatte um das Abtreibungsrecht so zentral ist. Die Protestierenden im | |
Iran fordern sehr ähnliche Rechte, wie wir sie selbst im eigenen Leben | |
haben oder haben wollen. Universelle Werte können nicht einigen Nationen | |
vorenthalten werden – selbstverständlich auch nicht im Nahen Osten. | |
Maani: Im deutschen Sprachraum wie auch im übrigen Europa gibt es die | |
Tendenz, den Islam quasi als „Natureigenschaft“ von Menschen aus islamisch | |
geprägten Gesellschaften aufzufassen. Das ist eine relativ neue Entwicklung | |
seit den 1990ern und verstärkt seit 9/11. In der Außenpolitik etwa | |
impliziert das die Vorstellung: Jede grundlegende gesellschaftliche | |
Veränderung in Richtung Frauenrechte oder Demokratie müsse ausschließlich | |
im Rahmen eines reformierten Islam erfolgen. Diese Sichtweise kam den – im | |
Iran längst diskreditierten – systemtreuen Reformern zugute. Die aktuelle | |
Entwicklung vor Ort, aber auch deren Hintergründe sollten uns veranlassen, | |
diese Grundannahme gründlich zu überdenken. | |
10 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Till Schmidt | |
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