| # taz.de -- Islamwissenschaftlerin über Proteste in Iran: „Ein permanentes G… | |
| > Katajun Amirpur ist überrascht von der Revolte der iranischen Frauen. Ein | |
| > Gespräch über theokratischen Terror, den Postislamismus und ihr neues | |
| > Buch. | |
| Bild: Junge Menschen in Iran wollen mehrheitlich die islamistische Terrorherrsc… | |
| wochentaz: Frau Amirpur, wo steht die Bewegung heute, sechs Monate nach dem | |
| Beginn der Proteste? | |
| Katajun Amirpur: Damit das System zusammenbricht, dazu müssten sich wohl | |
| vor allem auch Teile der Revolutionsgarden vom Kampf gegen die eigene | |
| Bevölkerung abwenden. Allerdings ist dennoch nicht absehbar, wie genau sie | |
| sich in Zukunft verhalten werden. | |
| Was halten Sie von der aktuellen Forderung, die [1][Revolutionsgarden auf | |
| die Terrorliste der EU] zu setzen? | |
| Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit, bei der sehr differenziert Kosten | |
| und Nutzen abgewogen werden müssen. So besteht die Gefahr, dass eine | |
| Listung später von Gerichten als rechtswidrig eingestuft wird. Das wäre ein | |
| enormer Propagandaerfolg für das Regime, den es unbedingt zu vermeiden | |
| gilt. | |
| Seit der Islamischen Revolution 1979 gab es immer wieder große Proteste: | |
| 2009 wegen manipulierter Wahlergebnisse, 2017/18 und 2019 vor allem | |
| anlässlich hoher Lebensmittel- und Benzinpreise. Hatten Sie eine massive | |
| Protestbewegung wie die aktuelle für möglich gehalten? | |
| Beobachter:innen haben immer darauf gewartet. Denn mindestens seit | |
| 2009 war immer spürbar: Es gibt eine große, kritische Masse, die gegen das | |
| Regime ist und Veränderung will. Doch dass nun so viele mutige Menschen | |
| seit sechs Monaten auf die Straße gehen, hat mich tatsächlich überrascht. | |
| Das ist eine andere Generation. Viele Iraner:innen erzählen, als junge | |
| Menschen hatten sie selbst nicht diesen Mut. Sobald die ersten | |
| Abschreckungsmaßnahmen kamen, haben sie aufgehört – und erst recht nicht | |
| zurückgeschlagen. Die Mädchen, die kürzlich das Tanzvideo veröffentlicht | |
| haben, wussten ja, dass sie mir ziemlicher Sicherheit im Gefängnis landen. | |
| Trotzdem stellen sie sich hin und machen deutlich: Wir geben nicht klein | |
| bei. | |
| Wie erklären Sie sich, dass Protestierenden trotz aller Gefahr so offen | |
| protestieren? | |
| Spätestens seit 1997 wurde versucht, das System von innen heraus zu | |
| reformieren. Man hat dem System sehr oft die Chance gegeben, sich zu | |
| wandeln in Richtung mehr Menschenrechte, mehr Demokratie und Teilhabe und | |
| eines weniger rigorosen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung. Doch selbst | |
| Minimalforderungen sind gescheitert. Gerade für junge Iraner:innen ist | |
| deswegen klar: Das radikale Bollwerk der Islamisten wird keine | |
| Zugeständnisse machen. 2009 hörte ich aus meiner eigenen Familie noch | |
| Aussagen wie: „Geht nicht auf die Straße, setzt euer Leben nicht aufs | |
| Spiel“ oder „Man kann vom Regen in die Traufe kommen wie wir damals 1979“. | |
| Heute hingegen verfängt so etwas kaum noch. Junge Menschen heute sind | |
| wütender und frustrierter. Für sie geht es einfach nicht mehr weiter – und | |
| daher ums Ganze. | |
| Woher kommt die Heterogenität der Protestbewegung, die ja nicht nur jung, | |
| sondern auch sozial, ethnisch, religiös sehr divers ist? | |
| Fast jede:r wird im Iran auf die ein oder andere Art und Weise | |
| diskriminiert. Bis auf die wenigen, die vom System profitieren – und das | |
| sind nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung. Frauen sind Menschen zweiter | |
| Klasse. Die Kurden sowie die Menschen in der südostiranischen Provinz | |
| Sistan-Belutschistan werden als Sunniten ebenfalls systematisch | |
| benachteiligt, so dass es eigentlich „Schiitische Republik Iran“ heißen | |
| müsste. Homosexuelle können ihre sexuelle Orientierung nicht leben, weil | |
| sie sonst aufgehängt werden. Zudem spricht die Hälfte der Iraner nicht | |
| Persisch als Muttersprache, die sie dann aber nicht in der Schule lernen | |
| dürfen. | |
| Sehr viele Iraner:innen haben also ähnliche Erfahrungen der | |
| Benachteiligung und Unterdrückung gemacht. | |
| Der gewaltsame Tod vom Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei hat | |
| als Auslöser noch einen weiteren Punkt gestreift. Jeder Familie, und sogar | |
| denen, die verbandelt sind mit den Revolutionsgarden, wurde deutlich: Das | |
| hätte mir und meinen Verwandten auch passieren können. Denn Jina Mahsa | |
| Amini hatte ja gar nicht offen protestiert, so wie jene Frauen, die 2019 | |
| auf Stromkästen stiegen und ihr Kopftuch abnahmen und an einer Stange | |
| aufhängten. Nein, Jina Mahsa Amini war auf die Straße gegangen, weil sie | |
| dachte, ihr Kopftuch sitze in Ordnung. Aber selbst wenn man versucht, sich | |
| regelkonform zu verhalten, kann es einen treffen. | |
| Totale Willkür. | |
| Die Menschen im Iran leben in einem permanenten Gefühl der Bedrohung und | |
| Angst. Diese Atmosphäre wird systematisch geschürt. Gleichzeitig gehen im | |
| Iran unglaublich viele Dinge einfach durch. Ich denke an die Direktheit, | |
| mit der in der Öffentlichkeit auch mal über die Machthaber geschimpft | |
| werden kann. Oder etwa an die persischen Übersetzungen von Hannah Arendts | |
| Büchern, obwohl doch klar ist, wie lehrreich ihre Bücher sind für den Kampf | |
| gegen eine Diktatur. Aber letztlich ist dies alles Teil des Erratischen: | |
| [2][Man weiß nicht genau, wann es einen trifft.] | |
| Eine ikonischer Teil der Proteste ist nicht nur das Abnehmen und Verbrennen | |
| von Kopftüchern, sondern auch das Abschneiden von Haaren. Was hat es damit | |
| auf sich? | |
| Diese Geste kommt aus der vorislamischen Zeit. Man findet sie zuerst im | |
| Schāhnāme, dem Nationalepos der persischsprachigen Welt. Durch seine | |
| sprachbildende Kraft hat das sogenannte Königsbuch dazu beigetragen, dass | |
| die Iraner:innen bis heute Persisch sprechen und nicht wie andere | |
| islamisierte Völker Arabisch. In der Erzählung ist es Farangis, die sich | |
| nach dem unschuldigen Tod ihres Mannes, dem persischen Prinzen Siyawasch, | |
| aus Frust die Haare abschneidet. | |
| Das Aufgreifen dieses Protest- und Trauerrituals lässt sich übrigens schon | |
| länger beobachten. Ohnehin besinnen sich viele Iraner:innen aus Protest | |
| gegen das System stärker auf die vorislamische Zeit. So etwa auf den | |
| Zoroastrismus als „eigentlicher Religion“ des Iran vor der | |
| arabisch-islamischen Eroberung Persiens (im 7. Jhd. n. u. Z., Anm. d. | |
| Red.). Selbst das Frühlingsfest Nouruz, das im Leben eines jeden Iraners | |
| wichtigen Stellenwert hat, ist ja ursprünglich zoroastrisch. Kurz nach der | |
| Revolution 1979 wurde sogar versucht, das Fest zu unterbinden. Doch das | |
| scheiterte. | |
| Ist dies alles Ausdruck des Iran als „postislamistische Gesellschaft“, wie | |
| Sie es in ihrem Buch beschreiben? | |
| Die Islamisierung der Gesellschaft in allen Sphären hat eine Bevölkerung | |
| geschaffen, die nicht nur sehr säkular eingestellt ist, sondern auch | |
| deutlich macht: Wenn das der angeblich reine Glaube ist, der für alles die | |
| Lösung sein soll, dann wollen wir den nicht. Vom iranischen Philosophen | |
| Abdolkarim Sorusch stammt der Satz, der Islam sei so tief verwurzelt im | |
| iranischen Volk, dass nur diese Revolution und das, was danach passiert | |
| ist, diese Wurzeln ausreißen konnte. Da ist etwas dran. Dennoch bleibt der | |
| Islam Teil des kulturellen Erbes des Iran. So kann jeder Iraner seinen | |
| Hafis rezitieren, und die gesamte klassische iranische Literatur wäre ohne | |
| den Islam nicht möglich. Nur wollen Umfragen zufolge über 83 Prozent der | |
| Iraner:innen den theokratischen Staat nicht. | |
| 18 Mar 2023 | |
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| Till Schmidt | |
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