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# taz.de -- Experte über Proteste in Iran: „Lärm vor der Niederlage“
> Revolutionen brauchen mehr als Wut, sagt Srdja Popovic. Bei den Protesten
> in Iran vermisst er eine Strategie. Trotzdem hat er Hoffnung für das
> Land.
Bild: Aufnahme von 2009: Straße in Teheran während der Proteste
taz: Herr Popovic, ist es möglich, im Vorhinein zu erkennen, ob eine
Revolution scheitern oder erfolgreich sein wird?
Srdja Popovic: Es wird oft darüber spekuliert, ob die Rahmenbedingungen
oder die Fähigkeiten der Protestierenden den Erfolg einer Revolution
bestimmen. Nachdem ich mehr als zehn Jahre im Aktivismus und in der
Ausbildung von Aktivisten gearbeitet habe, ist mein Fazit, dass Fähigkeiten
wichtiger sind. Es können die bestmöglichen Bedingungen für einen sozialen
Wandel vorliegen – etwa eine gebildete Bevölkerung, eine relativ starke
Mittelschicht und eine sehr unpopuläre Regierung. Doch wenn es einer
revolutionären Bewegung an Fähigkeiten mangelt, kann sie trotzdem
scheitern. Ein Beispiel dafür ist Venezuela, das trotz Protestwellen in den
vergangenen Jahren und einem von der Opposition ausgerufenen
Gegenpräsidenten letztlich keine Revolution erlebte.
Andererseits kann eine Gesellschaft, die von Armut geprägt ist und ein
hohes Maß an Unterdrückung aufweist, trotzdem erfolgreich sein – und sogar
unvorstellbare Dinge erreichen, wie im Sudan, wo sich viele Frauen der
Protestbewegung angeschlossen haben. Die erste Frage zur Einschätzung eines
möglichen Erfolges ist: Sehen wir lediglich die aufgestaute Wut einiger
Menschen? Oder sehen wir eine Bewegung, die eine Führung, Struktur und
greifbare Ziele hat?
Warum ist das wichtig?
Die meisten Bewegungen, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, hatten
eine klar definierte Vision und eine Kerngruppe, die den Aufstand leitete.
Ohne Strategie sind Proteste meist nur der Lärm vor der Niederlage. Saul
Alinsky, der das Buch „Rules for Radicals“ schrieb, sagte: Es reicht nicht
aus, Wut zu haben, man muss auch Hoffnung haben. Und zwischen Wut und
Hoffnung muss man seine kleinen Siege dokumentieren. Wie können wir diese
kleinen Siege nutzen, um die Menschen zu ermutigen? Wie können wir sie
nutzen, um unseren Gegner in eine defensive Position zu bringen? Ein
weiterer wichtiger Faktor ist die Identität: Erfolgreiche Bewegungen haben
sehr oft nicht nur gemeinsame Werte, etwa wie die gegen den Klimawandel
weltweit, sondern auch wiedererkennbare Symbole.
Wird so aus einem Protest eine Revolution?
Ich mag den Begriff „Revolution“ nicht, da er einen totalen Umsturz der
bestehenden Ordnung impliziert. Ich würde es eher so ausdrücken: Eine
Bewegung ist eine Gruppe von organisierten Demonstranten, die auf ein Ziel
hinarbeiten. Und dafür müssen sie eine Vision entwickeln, eine Strategie
planen, entscheiden können, wann sie sich engagieren und wen sie
engagieren, wie sie Menschen rekrutieren, trainieren und mobilisieren. Sie
müssen kreativ sein und versiert im Umgang mit Medien. Und sie müssen die
Mittel der Unterdrückung des Regimes, mit dem sie konfrontiert sind,
kennen.
Treffen diese Eigenschaften auf die [1][Proteste im Iran] zu?
Einige Kriterien sind nicht erfüllt, es fehlt zum Beispiel eine Strategie
und gemeinsame Vision – die zu finden, ist immer schwierig. Und der Iran
hat eine große und einflussreiche Diaspora, die politisch und ideologisch
sehr zersplittert ist. Es braucht aber ein Maß an Einigkeit, um eine Vision
und schließlich eine Strategie entwickeln zu können.
Sehen Sie denn Hoffnung für den Iran?
Ja, und ein wichtiger Grund dafür ist die demografische Entwicklung: Einem
Regime, das von 80-jährigen Männern geführt wird, steht eine Gesellschaft
mit einem Durchschnittsalter von etwa 30 Jahren gegenüber. Die Mullahs
versuchen, ihrem Volk die Geschichte der Revolution von 1979 zu verkaufen –
da waren die meisten noch nicht mal geboren.
Mit dem Beginn der Proteste haben viele Menschen im Iran, vor allem junge
Frauen, zum ersten Mal Freiheit gespürt. Und wenn man diese einmal erlebt
hat, besonders in jungen Jahren, wird sie zu einer sehr süchtig machenden
Droge. Wenn 15-jährige Mädchen einen alten Regimeangestellten aus ihrer
Madrassa jagen, aus ihrer religiösen Schule, kann man ihnen vielleicht noch
mit roher Brutalität Angst einjagen. Aber was wird passieren, wenn sie 16,
18, oder 30 Jahre alt sind? Selbst wenn das Regime diese Schlacht gewinnt,
bin ich mir sicher: Es wird den Krieg verlieren.
Und wenn der Iran Zugeständnisse an die Demonstranten machen würde?
Es gibt ein großartiges Buch namens „Dictator’s Learning Curve“ von Will
Dobson. Darin wird beschrieben, wie Diktaturen lernen, Proteste zu
verhindern. Das lässt sich am besten am Beispiel des Meisters der
Verhinderung, China, zeigen. Sie sehen in kleinen Protesten eine Bedrohung,
also passen sie sich an und machen einige Zugeständnisse. Das iranische
Regime macht das Gegenteil: Seit der letzten Revolution im Jahr 2009 hat es
sich nicht mehr auf sein Volk zubewegt. Es ist von der Gesellschaft
abgekoppelt, und von den aktuellen Protesten schien es überrascht zu sein.
Es reagierte erst langsam und griff dann aber direkt zu roher Gewalt: Es
setzt Militär und Polizei gegen Demonstranten ein und richtet sie
öffentlich hin. Das ist ein Zeichen von Schwäche.
Wie könnte eine [2][solche Brutalität] besiegt werden?
Nehmen wir Nordkorea als Beispiel: Kims Regime hat große Angst vor
südkoreanischen Seifenopern. Es gibt Gruppen, die diese auf USB-Sticks über
die Grenze schmuggeln. Sie zeigen den Nordkoreanern, wie ihre Brüder und
Schwestern im Süden leben. Das Gleiche gilt für den Iran: Viele nutzen
Instagram, Tiktok. Norwegen ist ein Land mit viel weniger Ölreserven, aber
die Iraner können online sehen, wie es dort aussieht, wie die Menschen
leben. Und sie wissen: Das könnten unsere Leben sein. Sie sehen das
Potenzial des Iran – und es wird von einer Gruppe bärtiger, konservativer
Säcke in ihren Achtzigern zurückgehalten.
Das iranische Regime behauptet immer wieder, die Menschen würden in die
Proteste hinein manipuliert. Aber sie werden nicht manipuliert, sie sehen
Ungerechtigkeiten in ihrem täglichen Leben und treffen eine Entscheidung.
Diktatoren verstehen das nicht, denn sie sehen in ihren Untertanen wirklich
Schafe.
Wie kann die internationale Gemeinschaft die Proteste im Iran unterstützen?
Unterdrückung ist eine kostspielige Angelegenheit. Man muss Leute dafür
bezahlen, Menschen zu töten. Es gab weitaus reichere Regime als den Iran,
die an ihrer wirtschaftlichen Situation und den Sanktionen gescheitert
sind. Das Apartheidland Südafrika war einst ein reiches Land. Aber nach
internationaler Isolation und nationalen Boykotten stürzte das Regime
schließlich, und Mandela wurde Präsident.
Wären [3][Sanktionen] also die beste Lösung?
Serbien, wo ich herkomme, war in den 1990ern und frühen 2000ern Ziel von
Sanktionen. Es gibt Sanktionen, die ein Regime schwächen, und es gibt
Sanktionen, die es stärken, zum Beispiel das Erdölembargo damals gegen
Serbien. Es hat die Menschen aus der Mittelschicht an den Rand der Existenz
gedrängt, und wenn sie sich dort befinden, haben sie keine Zeit mehr, über
Revolution nachzudenken. Sie sind zu sehr mit dem Überleben beschäftigt.
Diese sogenannten Shotgun-Sanktionen, die die gesamte Bevölkerung treffen,
sind oft kontraproduktiv. Aber „Sniper“-Sanktionen, die auf einige wenige
abzielen, sind sehr effektiv.
Da Sie nicht nur Revolutionär, sondern auch Parlamentsabgeordneter in
Serbien waren: Wie schafft eine Bewegung den Übergang von Revolutionären zu
„Bürokraten“?
Wenn ich bewerten müsste, was der aufregendere Teil war, würde ich sagen:
definitiv die Revolution. Der langweilige Teil war die Änderung von
Gesetzen und der Aufbau demokratischer Institutionen. Und besonders in
Ländern mit einer langen autokratischen Herrschaftsgeschichte wie dem Iran
sind die menschlichen Ressourcen, die es dazu benötigt, durch die Diaspora
über den ganzen Globus verstreut.
Die Bewegungen brauchen also internationale Unterstützung. Die schwindet
oft, wenn die Kämpfe vorbei sind. Das ist ein Fehler, wie uns etwa das
Beispiel Ägypten zeigt. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, die Macht zu
ergreifen, tut das meist die am besten organisierte Gruppe in einer
Gesellschaft. In Ägypten waren es zuerst die Muslimbrüder, dann das Militär
– und heute ist es wieder ein autokratischer Staat.
7 Feb 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Lisa Schneider
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