# taz.de -- Muslimische Frauen in Spanien: Im Schoß des Islam | |
> Muslimische Frauen in Spanien sehen sich vom Rassismus der Rechten | |
> attackiert. Und vergessen von den Linken, die glauben, ihre Rechte zu | |
> verteidigen. | |
Bild: Najat El Hachmi hat auch als interkulturelle Betreuerin gearbeitet | |
Ich beobachte zwei Frauen, die in Richtung eines Parks gehen. Ich kenne sie | |
nicht, aber ich erkenne, wie sie aussehen und an welches Leid ihre Existenz | |
gebunden ist. Ihr Gang, ihre Körpergröße, ihre Kleidung sollen in diesem | |
Fall nicht dazu herhalten, sie in die engen Grenzen des Vorurteils zu | |
zwängen, sondern geben mir Anhaltspunkte, um sie in einen sozialen, | |
politischen und historischen Kontext einzuordnen, den ich aus erster Hand | |
kenne. | |
Sie ähneln vielen der Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin, denen ich als | |
Kind als improvisierte Dolmetscherin diente und die ich in meiner Arbeit | |
als interkulturelle Mediatorin betreute. | |
Was ich über ihr Leben weiß, ermöglicht es mir, meine eigene Komplexität | |
besser zu verstehen. Eine Komplexität, die wir, die Töchter jener ersten | |
Einwanderinnen, die von ihren Ehemännern als notwendige Unterstützung für | |
das Projekt der Verbesserung des Lebens ganzer Familien mitgebracht wurden, | |
in uns tragen. | |
Sie waren nicht die Protagonistinnen der Vertreibungen aus den muslimischen | |
Ländern nach Europa. Und trotzdem, wenn man sie fragt, selbst die, die | |
nicht lesen und schreiben können, die kaum etwas darüber wissen, wie die | |
Welt funktioniert, würden sie sagen, dass ihr schlimmster Albtraum die | |
Rückkehr in ihre Heimat wäre. | |
## Abgrundtiefe Unterschiede | |
Tatsache ist, dass viele von ihnen, obwohl sie keine einzige Zeile | |
feministischer Theorie gelesen haben, schnell den abgrundtiefen Unterschied | |
zwischen dem Leben in einem demokratischen Land und dem in einem | |
Entwicklungsland erkannt haben, in dem die Grundrechte und die | |
individuellen Freiheiten nicht geachtet werden, in dem Gesetze gelten, die | |
Frauen ausdrücklich diskriminieren, oder in dem Traditionen herrschen, die | |
sie auf den zweiten Platz verweisen. | |
Selbst wenn sie nicht öffentlich zugeben, dass sie die „westliche“ | |
Lebensweise der muslimischen vorziehen, werden diese medial unsichtbaren | |
Frauen, wenn wir den Gesprächen in Räumen lauschen, in denen sie sich | |
sicher und selbstbewusst fühlen, zugeben, dass ihr Widerstand gegen die | |
mögliche Verwestlichung ihrer Töchter mehr mit den Gefahren zu tun hat, die | |
sie in den Aufnahmegesellschaften sehen, als mit der etablierten | |
allgemeinen Ordnung der Freiheit für Frauen. | |
Wenn unsere Mütter selbst und ohne die soziale Kontrolle der Gruppe (und | |
der Männer, die Macht über sie haben) entscheiden könnten, würden sie | |
vielleicht nicht zögern, den Prozess der Emanzipation ihrer Töchter zu | |
unterstützen. | |
Aber kommen wir noch einmal zu den Vorurteilen zurück. Wenn ich zu Ihnen | |
über die beiden Fremden spreche, die ich beobachte, ohne etwas über sie zu | |
wissen, dann deshalb, weil ich mich dabei auch daran erinnere, dass gerade | |
sie die Hauptzielscheibe der fremdenfeindlichen und rassistischen Angriffe | |
sind, die von der extremen Rechten oft schamlos geäußert werden. | |
## Als ob es sie nicht gäbe | |
Als [1][Tochter, die die Sprache in diesem Land besser versteht als ihre | |
Eltern mit Migrationshintergrund], bin ich daran gewöhnt, dass von | |
muslimischen Frauen gesprochen wird, als ob es sie nicht gäbe. Dass | |
Diskurse über sie ohne sie geführt werden und dass sie als Paradigma für | |
das auffällige Anderssein konstruiert werden, das die Objektive der | |
Fotografen beharrlich suchen, um so unterschiedliche Themen wie | |
Multikulturalismus, Vielfalt, Einwanderung, aber auch Terrorismus oder die | |
demografische Bedrohung bildlich darzustellen. | |
Diese wiederkehrende Präsenz in den Medien ist paradoxerweise ein Element, | |
das zur Gleichgültigkeit und Auslöschung der „muslimischen Frau“ oder ihr… | |
Verwandlung in eine unförmige Masse beigetragen hat, die weit davon | |
entfernt ist, ihre Individualität widerzuspiegeln. | |
Mit anderen Worten: Die Behandlung in den Medien ist ein echter Prozess der | |
Entmenschlichung, den die extreme Rechte schon vorbereitet hat, bevor sie | |
ihren Diskus auf die „muslimische Frau“ konzentrierte. | |
Ich schreibe dies nach den letzten Kommunalwahlen in Spanien (Anm. d. Red.: | |
die Wahlen fanden am 28. Mai statt), die ein besorgniserregendes, aber | |
nicht überraschendes Ergebnis hervorbrachten: die landesweite Zunahme der | |
Stimmen für den rechtsextremen Flügel von Vox und andere fremdenfeindliche | |
nationalistische Parteien. | |
## Rechte lehnen muslimische Einwanderung ab | |
Wie andere politische Parteien der gleichen Tendenz in ganz Europa lehnen | |
sie die muslimische Einwanderung ab, die ihrer Meinung nach strenger | |
kontrolliert werden sollte. Um ihre eindeutig rassistischen Postulate zu | |
legitimieren, zögern sie nicht, die Situation der Diskriminierung von | |
Frauen zu nutzen. Wenn sie Muslime ablehnen, dann deshalb, weil deren Werte | |
der Gleichstellung der Geschlechter entgegenstehen. | |
Würde man dieser Argumentation trauen, könnte man glauben, dass die extreme | |
Rechte feministisch ist, aber es stellt sich heraus, dass ihr Feminismus | |
dazu neigt, plötzlich instrumentalisierend und umständlich zu sein und nur | |
auf „die anderen“ angewandt wird, weil die einzigen Männer, die sie für | |
Machos hält, Eingewanderte sind. | |
Im Falle Spaniens wird der Gleichstellungsanspruch von Vox schnell | |
zunichtegemacht, wenn man weiß, dass einer ihrer wichtigsten diskursiven | |
Schwerpunkte die Leugnung der von Männern ausgehenden Gewalt und die | |
Ablehnung des Abtreibungsgesetzes ist. Wenn diese Partei in Bezug auf die | |
spanischen Frauen nicht glaubwürdig über Gleichberechtigung sprechen kann | |
und ihre traditionellen Werte gegen die Emanzipation der Frauen bekannt | |
sind, warum schenkt sie ihr dann Aufmerksamkeit, wenn sie über den Islam | |
und die muslimischen Frauen spricht? | |
Sie werden mir sagen, dass dies vielleicht nicht der Fall ist, dass niemand | |
auf das hört, was die extreme Rechte über diejenigen sagt, die die Religion | |
Mohammeds praktizieren. Das Verhalten bestimmter Teile der Linken zeigt | |
aber, dass die extreme Rechte die politische Agenda beeinflusst und eine | |
rückwärtsgewandte Reaktion hervorgerufen hat. Diese schadet der | |
Freiheitssehnsucht jener Frauen, die im Schoß des Islam geboren wurden. | |
Wir sehen uns vom Rassismus der extremen Rechten angegriffen, aber auch | |
vergessen von einer Linken, die glaubt, unsere Rechte zu verteidigen, | |
obwohl sie nur die Rechte der religiös verwurzelten patriarchalischen | |
Systeme verteidigt, denen wir zu entkommen versuchen. In ganz Europa haben | |
wir erlebt, wie [2][diese Linke, die einst so kämpferisch gegen die | |
Einmischung religiöser Macht war, ihre Stimme zugunsten des Islams erhob | |
und diejenigen seiner Werte verteidigte, die für Frauen am schädlichsten | |
sind]. | |
## Die Rechten und die Muslimbrüder | |
Nicht selten verbündeten sie sich sogar mit ultrakonservativen Strömungen | |
wie den Muslimbrüdern, die nichts mit unseren lokalen Herkunftskulturen zu | |
tun haben und die in den islamischen Ländern den rechtsextremen Flügel | |
darstellen. | |
Das Erstaunlichste ist, dass bestimmte Teile des europäischen Feminismus | |
sich diese Strömungen zu eigen machen und [3][ihr wichtigstes Banner, den | |
Hidschab], an prominenter Stelle in der politischen Arena platzieren. | |
Wenn die Fremden, von denen ich eingangs sprach, diesen islamophilen | |
Feministinnen, die glauben, dass sie den Respekt vor der Vielfalt | |
verkörpern, indem sie das Gegenteil dessen tun, was die extreme Rechte | |
will, etwas sagen könnten, würden sie sicher mit ihnen über das sprechen, | |
was ihr Leben bestimmt hat: immer unter der Macht eines Mannes zu stehen, | |
erst des Vaters, dann des Ehemannes, ein Kind nach dem anderen zu gebären, | |
weil wir akzeptieren müssen, was Gott für uns will, kein Mitspracherecht in | |
der Partnerschaft zu haben, Hausarbeit zu übernehmen oder nicht | |
einvernehmlichen Sex zu dulden, sich mit einer zweiten Frau zu begnügen, | |
wenn der Ehemann beschließt, von seinem polygamen Privileg Gebrauch zu | |
machen, oder zu wissen, dass sie per Gesetz nur halb so viel erben werden | |
wie ihre männlichen Geschwister. | |
## Islamophile Feministinnen | |
Wenn islamophile Feministinnen mit den Töchtern dieser Einwanderinnen | |
sprechen würden, mit denen wir uns unserer Situation in der Welt als Frauen | |
bewusst geworden sind, würden wir ihnen sagen, dass auch wir, wie sie, die | |
Errungenschaften der Gleichberechtigung in Europa genießen wollen und nicht | |
innerhalb der Grenzen der „Gemeinschaft“ bleiben wollen. | |
Wir wollen bei der Heirat keine Jungfrauen sein oder dies durch eine | |
chirurgische Rekonstruktion des Jungfernhäutchens simulieren müssen, wir | |
wollen selbst entscheiden, ob wir heiraten oder nicht, ob wir heterosexuell | |
sind oder nicht, ob wir Kinder haben wollen oder nicht, ob wir studieren | |
oder arbeiten wollen. Und wir wollen nicht gezwungen werden, uns zu | |
verhüllen, um als respektabel und würdig zu gelten oder unsere | |
Herkunftsidentität oder die von diesem Teil der Linken so geschätzte | |
Vielfalt zu verkörpern. | |
An der Schnittstelle zwischen Machismo und Rassismus ist ein inklusiver und | |
intersektionaler Feminismus nur möglich, wenn die Forderungen nach | |
Gleichberechtigung muslimischer Frauen mit feministischem Gewissen | |
berücksichtigt werden. Wenn man umgekehrt die Frauenfeindlichkeit des | |
Islams gleichgültig oder sogar mitschuldig hinnimmt, um | |
Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, bedeutet das nichts anderes, als die | |
fast unzerstörbare Bindung aus Rassismus und Machismo um uns herum zu | |
festigen. | |
Dies wird schlimme Folgen für die Töchter haben, die unsere Freiheit | |
erobern wollen, aber auch für all die anonymen Mütter, die die Städte und | |
Gemeinden Europas bevölkern. | |
Aus dem Spanischen von Sophia Zessnik | |
13 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
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