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# taz.de -- Die Türkei vor den Wahlen: Denunziation per Mausklick
> Erdoğans AKP hetzt, was das Zeug hält. Aber reicht all das, um ohne
> Manipulation der Auszählung die Wahlen in der Türkei für sich zu
> gewinnen?
Bild: Passanten nahe einer Fährstation am Bosporus in Istanbul
Nach zwei Jahrzehnten Tayyip Erdoğan ist der politische Islam in der Türkei
bankrott. Er hat die kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft verloren. So
klammern sich die Herrschenden aus Angst vor einer Wahlniederlage bei den
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Sonntag, den 14. Mai an
Identitätspolitik, die vielleicht das Rad der Geschichte noch einmal
zurückdrehen könnte.
Keiner hat dies so gut formuliert wie der amtierende Justizminister Bekir
Bozdağ: „Entweder werden die Menschen mit Champagner feiern oder auf dem
Gebetsteppich Gott loben.“
In dieser Sicht stellen die Wahlen nicht eine Entscheidung über die
zukünftige Politik dar. Sie gelten als Plebiszit darüber, wer die
Mehrheitsidentität in der Gesellschaft bestimmt: die Gott gehorchende
Gläubigen, die Erdoğan ihre Stimme geben – oder jene Gottlosen, die sich
betrinken und für die Opposition stimmen.
## Trinken und beten
Die Wahrheit ist jedoch, dass auch zusammengerechnet jene Bürger, die sich
nach den Wahlen betrinken, oder jene, die Gott loben, in der zutiefst
sozial, ethnisch und religiös differenzierten Gesellschaft nur eine winzige
Minderheit darstellen.
Tayyip Erdoğan hat den Wahltermin bestimmt und die Wahlen vorgezogen. Und
seine Regierungspartei hat zuvor auch das Wahlgesetz zu ihren Gunsten
verändert. Mit seinem gewaltigen Repressions- und Propagandaapparat ist
Erdoğan nun in den Wahlkampf gezogen. Er weiß eine politische Justiz hinter
sich, die unliebsame Oppositionelle und Journalisten im Zweifelsfall
wegsperren lässt.
Ein Tweet, ein Facebook-Eintrag kann schon zur Hölle werden. Gegen 200.000
Menschen, unter ihnen Minderjährige, wurde in der Vergangenheit wegen
Beleidigung des Staatspräsidenten ermittelt. 50.000 Menschen mussten sich
deswegen vor Gericht verantworten. Viele mussten Gefängnisstrafen absitzen.
An der riesigen Kommunikationsbehörde des Staatspräsidenten – Denunziation
per Mausklick ist möglich – fänden Totalitäre jeglicher Couleur Gefallen.
Die türkische Zensurbehörde für Rundfunk und Fernsehen verbietet inzwischen
sogar harmlose Fernsehserien. Etwa wenn die Handlung kritisch gegenüber
scheinbar frommen Männern ist, die Frauen schlagen.
## Realismus der Zahlen
Eine realistische Darstellung – begründet auf der trockenen Statistik, dass
Femizide und Gewalt gegen Frauen in den letzten Jahren zugenommen haben.
Sie soll als Fiktion und Kritik in Fernsehsoaps nicht vorkommen.
Die Mainstream-Medien sind mittlerweile faktisch gleichgeschaltet.
„Befreundete“ Konzerne aus dem Erdoğan-Lager der Energie- und Bauindustrie
– die reichlich mit öffentlichen Aufträgen bedacht wurden – waren vom
großen Chef verdonnert worden, Medienkonzerne mit starker Reichweite
aufzukaufen und sie in ideologische Propagandainstrumente der Regierung zu
transformieren.
Der größte Teil des Staatsapparats, allen voran das Amt für religiöse
Angelegenheiten, sind in den Wahlkampf für Erdoğan eingebunden. Selbst eine
Institution wie die öffentliche Post twitterte für seine Kundgebungen.
Doch Erdoğan scheint dennoch die richtige Ansprache zu fehlen. Er hat kein
allgemein positiv wirkendes Zukunftsversprechen mehr. In Werbeclips wirbt
er für seine Wiederwahl mit modernen Krankenhäusern, Kriegsschiffen und
Flughäfen, die er bauen ließ. Doch der Rest ist Identitätspolitik, um
Altwähler, Fromme und Konservative zu binden.
## Die „Gottlosen“
Die Opposition verteufelt er schlicht als die „Gottlosen“. Als
„Terroristen, die weder Religion noch Nationalflagge, noch Gebetsruf
kennen“. Der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu,
sei gar Befehlsempfänger der bewaffneten kurdischen Guerillaorganisation
PKK. Und fast noch schlimmer: Die Opposition wolle die Kinder zu LGBTQ
verführen. Der Innenminister setzte gleich noch einen drauf: Die Opposition
wolle Ehen zwischen Menschen und Tieren legalisieren.
[1][Ein kurzer Blick auf das Oppositonsbündnis, ein Zusammenschluss von
sechs Parteien], offenbart den Irrsinn solcher Aussagen. Die Saadet-Partei
etwa ist eine Traditionspartei frommer Muslime, deren Ursprünge in den
1960er-Jahren liegen. Oder Gelecek- und Deva-Partei. Sie sind Abspaltungen
von Erdoğans „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, ein früherer
Wirtschaftsminister und ein ehemaliger Ministerpräsident führen diese
Parteien an.
Die Lyi-Partei, die nun mitte-rechts um Stimmen fischt, ist eine Abspaltung
der rechtsextremen MHP. Kılıçdaroğlu, Chef der säkular-republikanischen
CHP, hat Jahre an dem jetzigen breiten Bündnis gebastelt. Es steht für die
demokratische Restauration der Türkei, ein Gegenentwurf zum Ein-Mann-Regime
Erdoğans.
Das Manifest dieser Parteienkoalition hat die Abschaffung des
Präsidialsystems angekündigt. Es verspricht Gewaltenteilung, die Achtung
einer parlamentarischen Demokratie mit einer unabhängigen Justiz,
Rechtsstaatlichkeit und Transparenz. Das Wahlbündnis von Kurden und Linken
tritt mit einem eigenen Bündnis an. Doch es stellt keinen eigenen
Präsidentschaftskandidaten auf. Es unterstützt Kılıçdaroğlu.
## Individuum und Freiheit
Zwei seiner Video-Clips trafen Nerv und Gemütszustand der Gesellschaft. In
einem bekannte sich Kılıçdaroğlu zu seiner alevitischen Identität. Er
sagte: Mit Identitäten werde man geboren, doch die Entscheidung, als guter,
moralischer, gewissenhafter und gerechter Mensch in einem freien Land zu
leben, müsse jeder und jede dennoch erst noch für sich treffen.
Die Aleviten stellen in der Türkei eine diskriminierte religiöse Minderheit
dar. Sie gehen nicht in die offiziellen Moscheen, haben eigene
Gebetsstätten und pilgern nicht nach Mekka. Während der sunnitische Islam
in der Türkei durch einen gewaltigen Apparat, das Amt für religiöse
Angelegenheiten, welches über Moscheen wacht und Imame beschäftigt, von
staatlicher Seite massiv unterstützt wird, gehen die Aleviten leer aus.
Bis heute machen Verschwörungstheorien, die Aleviten betrieben Inzest, die
Runde. In einem zweiten Video beschuldigte Kılıçdaroğlu Machthaber Erdoğan,
„um ein paar Wählerstimmen“ zu erheischen, „Millionen Kurden als
Terroristen“ abzustempeln.
Der Herausforderer wandte sich damit explizit von dem homogenen
nationalistisch-religiösen Türkeibild Erdoğans ab. [2][Er thematisiert
stattdessen die galoppierende Inflation, die Zwiebel- und Kartoffelpreise],
fordert soziale Gerechtigkeit und demokratische Bürgerrechte für alle. Mit
ihm verbindet sich das Versprechen, die Spaltung der Gesellschaft zu
überwinden. Auf ein baldiges Ende der „Tyrannei“.
## Geschichte der Türkei
Zwei Politiker haben die moderne Geschichte der Türkei nachhaltig geprägt.
Ersterer war der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, der nach 1923 aus
den Trümmern des Osmanischen Reiches die Etablierung eines bürgerlichen
Nationalstaates vorantrieb. Die Reformen der kemalistischen Ära – eine
säkulare Verfassung, ein bürgerliches Gesetzbuch, die formelle
Gleichstellung von Frauen – haben bis heute Gültigkeit.
Eine offene Wunde der Republik blieb allerdings der Nationalismus, der den
Kurden die Autonomie verweigerte, und ein falsch verstandener Laizismus,
der religiösen Menschen generell den Zugang zu öffentlichen Ämtern und der
Politik versperrte. Doch die Reformen des Kemalismus ebneten nach dem
Zweiten Weltkrieg den Weg zu einer parlamentarischen Demokratie, in welcher
Wahlen zentrale Bedeutung zukam.
Die Militärs, die 1960, 1971 und 1980 nach der Macht grapschten, konnten
sich nie lange halten, mussten sich widerstrebend den Ergebnissen freier
Wahlen beugen, die nie in ihrem Sinne ausgingen.
Über zwei Jahrzehnte hat Tayyip Erdoğan die Geschicke des Landes nun
bestimmt. Das ist länger als Atatürk. Heute bestimmen Drohgebärden und
Feindbilder den Diskurs Erdoğans. Doch waren es einmal seine demokratischen
Reformversprechen, die ihn und seine Partei bei den Wahlen 2002 an die
Macht brachten. Unvergessen ist der Einsatz kopftuchtragender Frauen, die
im Wahlkampf von Tür zu Tür zogen, um für Erdoğan zu werben. Diese Frauen
fehlen heute.
## Kopftuch und Universität
Längst gehört es zur Normalität, dass Frauen mit Kopftuch an den
Universitäten studieren dürfen. Viele der Kämpferinnen von damals werden
nun nicht mehr für Erdoğan stimmen. Seine Partei, die einst in der Lage
war, gesellschaftliche Stimmungen aufzugreifen, ist faktisch im Wahlkampf
inexistent. Von den Gründern der Partei ist kaum noch jemand Weggefährte
Erdoğans. Die Parlamentarier sind zu Befehlsempfängern des Präsidenten
degradiert.
Spätestens mit der brutalen Niederschlagung der Gezi-Proteste, der
Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurden sowie der Etablierung
seines Präsidialsystems verlor Erdoğan die Fähigkeit, mit der Gesellschaft
zu kommunizieren. Es bleiben ihm nur noch die Feindbilder: die Opposition
als Terroristenvereinigung, Gottlose, LGBTQ als Seuche und ein angeblicher
westlicher Imperialismus, der der Türkei an die Gurgel will.
Diese Wahlen sind nun allerdings vorerst die letzte Möglichkeit, die
Ausfahrt noch zu nehmen. Hinein in ein Stückchen demokratische Normalität,
weg von einer totalitären Praxis, hin zu einem Politikverständnis, in dem
Kompromisse gefragt sind. Selbst in die kurdische Frage könnte dann wieder
Bewegung kommen.
Die Meinungsumfragen sehen Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidaten
vorne, doch dürfte weder Erdoğans Bündnis noch das Sechs-Parteien-Bündnis
der Opposition eine klare parlamentarische Mehrheit erlangen. Zünglein an
der Waage wäre dann die links-grüne Partei. Doch ob Tayyip Erdoğan eine
Niederlage überhaupt anerkennen würde? Innenminister Süleyman Soylu gab
bereits kund, verlorene Wahlen seien ein „politischer Putschversuch, um die
Türkei zu zerstören“.
Was Trump und Bolsonaro recht ist, dürfte Erdoğan nur billig sein.
13 May 2023
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