# taz.de -- Vor den Wahlen in der Türkei: Die Opposition ist optimistisch | |
> Durch den Rückzug eines Zählkandidaten steigen die Chancen auf einen | |
> Wahlsieg der Opposition. Vor allem junge Leute wollen den Wechsel. | |
Bild: Viele junge Menschen hoffen auf einen Wahlsieg des CHP-Kandidaten | |
ISTANBUL taz | Wenige Tage vor den bevorstehenden [1][Präsidentschafts- und | |
Parlamentswahlen in der Türkei] sind die Chancen des oppositionellen | |
Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu am Donnerstagnachmittag noch einmal | |
gestiegen, als Muharrem Ince, einer der beiden Zählkandidaten, seinen | |
Rückzug erklärte. Ince hätte zwar sowieso nur mit rund 3 Prozent rechnen | |
können, immerhin aber wären das möglicherweise die Punkte gewesen, die | |
Kılıçdaroğlu für einen Sieg im ersten Wahlgang gefehlt hätten. | |
Für den Oppositionskandidaten mobilisieren unterdessen junge Leute im | |
ganzen Land, und das nicht nur mit traditionellen Mitteln. Auf einem Video | |
etwa, das über Tik-Tok in die Welt gesendet wird, ist eine junge Frau | |
zusehen, die Werbung für Schminkprodukte macht. Sie hat tausende von | |
FollowerInnen, mutmaßlich ebenfalls junge Frauen. Mit Politik hatte sie nie | |
etwas zu tun. | |
Doch an diesem Tag, zwei Tage vor der alles entscheidenden Präsidentschafts | |
– und Parlamentswahl in der Türkei, erläutert sie ihren Zuschauerinnen, wie | |
sie sich am Wahltag schminken wird. Sie legt deutliches Rot auf ihre | |
Wangen, die Farbe der Opposition, und im Augenwinkel malt sie das | |
Parteiemblem der oppositionellen CHP, sechs Pfeile, die die traditionellen | |
Ziele der CHP symbolisieren sollen. Dann fügt sie noch einen Pfeil dazu: | |
„Für die Freiheit der Frauen“. | |
Viele, vor allem junge Frauen, haben zu Recht Angst um ihr Leben und ihre | |
Freiheit, sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch einmal gewinnen. Ihr | |
Video auf Tik-Tok ist kostenlose Werbung für die Opposition und zeigt, wie | |
sehr ein großer Teil der Jugend sich eine Veränderung wünscht. | |
## Oppositionswahlkampf lief besser als erhofft | |
Unter den Erst – und Jungwählern im Land, soviel ist selbst bei der | |
unsicheren Datenlage der Demoskopen völlig klar, hat Erdoğan nur wenig | |
UnterstützerInnen. Mehrmals im Wahlkampf hat der Präsidentschaftskandidat | |
der Opposition, [2][Kemal Kılıçdaroğlu], sich auch selbst über soziale | |
Medien an die jungen Leute gewandt, die das erste Mal wählen gehen können | |
und ihnen ein „freies Land“ versprochen, wenn sie mit für einen | |
Regierungswechsel sorgen werden. | |
„Demokrat Dede“ will der 74 jährige Kılıçdaroğlu scherzhaft genannt we… | |
Opa der Demokratie, und viele Leute nehmen ihm diesen selbstgewählten | |
Nick-Name auch ab. Anders als bei den Wahlkampfauftritten Erdoğans sind bei | |
der Opposition sehr viele junge Leute zu sehen. Da der Altersdurchschnitt | |
in der Türkei immer noch bei rund 30 Jahren liegt, ist dies ein wichtiger | |
Indikator für den Wahlausgang am kommenden Sonntag. | |
Insgesamt lief der gesamte Wahlkampf für die Opposition fast besser als | |
erhofft. Selbst in Städten, in denen Erdoğans AKP seit Jahren dominiert, | |
waren die Veranstaltungen Kılıçdaroğlus überlaufen. Und während die Leute | |
zu Kılıçdaroğlu freiwillig und oft unter großen Mühen kamen, wendete die | |
Regierung erhebliche Mittel und politischen Druck auf ihre bisherigen | |
AnhängerInnen an, um die Stadien und Plätze für Erdoğan voll zu bekommen. | |
Das war auch bei den beiden größten Veranstaltungen der Kandidaten am | |
letzten Wochenende in Istanbul zu sehen. Hunderttausende Menschen kamen am | |
Samstag zur Wahlveranstaltung der Opposition, obwohl die Regierung | |
zeitweilig die Metro zum Veranstaltungsort stoppen ließ und alles tat, um | |
eine Teilnahme zu erschweren. Am Sonntag hingegen brauchte sie für ihre | |
eigene Veranstaltung 10.000 städtische Busse, die quasi beschlagnahmt | |
wurden, um den alten Flughafen für Erdogan zu füllen. | |
## Die Opposition stellt mehr Wahlbeobachter denn je | |
Trotzdem ist der Wahlausgang nach wie vor ungewiss und das liegt nicht nur | |
an der wenig verlässlichen Demoskopie, sondern auch daran, dass die | |
Regierung die Wahlen manipulieren könnte, wie viele befürchten. Deshalb hat | |
die Opposition ein nie dagewesenes Großaufgebot an WahlbeobachterInnen | |
mobilisiert, die möglichst an jeder Urne, an der abgestimmt wird, präsent | |
sein sollen. | |
Parteienvertreter und unabhängige Beobachter kontrollieren gemeinsam mit | |
den staatlichen Wahlbeamten den Urnengang, zählen anschließend die | |
abgegebenen Stimmen, und jedes Urnenergebnis wird von einem Wahlbeamten und | |
zwei Parteienvertretern unterschrieben. Anschließend gibt es für alle | |
Beobachter einen Kontrollzettel, der sofort fotografiert und zu den | |
einzelnen Parteizentralen geschickt wird, die dann neben den offiziellen | |
Wahlbehörden die Chance haben, die Ergebnisse mitzuzählen. | |
Trotzdem wird es Raum für Manipulationen geben, vor allem in den kurdischen | |
Gebieten, wo manche Urnen aus angeblichen Sicherheitsgründen in Kasernen | |
aufgestellt werden, im Erdbebengebiet, wo die Wählerlisten nicht mehr | |
gesichert sind und in einigen Gebieten in Zentralanatolien, wo die | |
Opposition so schwach ist, dass sie nicht überall Beobachter stellen kann. | |
Dennoch ist man bei der CHP aber auch bei der kurdischen HDP optimistisch, | |
dass das Volumen an Wählerstimmen, das manipuliert werden könnte, zu klein | |
ist, um wahlentscheidend zu sein. „Alles hängt davon ab“, sagte Mustafa | |
Yeneroğlu, ein führendes Mitglied der oppositionellen DEVA Partei dem | |
Standard, „dass wir bei der Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang | |
gewinnen“. Sollte das nicht der Fall sein, werden die kommenden zwei Wochen | |
bis zur möglichen Stichwahl am 28. Mai „sehr schwierig“. | |
12 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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