Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wahlkampf in der Türkei: Sandwichs und Korruptionsvideos
> Vor der Wahl in der Türkei verunsichert nicht nur die Wirtschaftskrise
> die Erdoğan-WählerInnen. Nun kursieren auch Videos, die es in sich haben.
Bild: Erdoğan-AnhängerInnen am Sonntag in Istanbul, Türkei
Istanbul taz | Vor dem Zelt mit den Wimpeln der AKP auf dem Hauptplatz im
Istanbuler Stadtteil Üsküdar hat sich eine Schlange gebildet. Vor den
[1][türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Sonntag] machen
hier alle Parteien Wahlkampf. Der Stand der Regierungspartei war bislang
eigentlich nicht gut besucht. Bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass
die Leute hier nicht für Wahlbroschüren anstehen, sondern für Essen. Berge
von Sandwichs finden reißenden Absatz.
In der Schlange steht auch eine etwas abgehärmte Frau, die sich, als sie an
der Reihe ist, drei Pakete reichen lässt. Ist sie dankbar, dass die Partei
des Präsidenten Essen verteilt? „Wieso dankbar?“, fragt sie zurück. „Ich
stehe hier wegen dieser lächerlichen Sandwichs an, weil Brot, Zwiebeln und
Milch kaum noch bezahlbar sind, gerade weil wegen Erdoğan die Preise jeden
Tag weiter steigen.“
Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie und ihre Großfamilie in einem
ärmeren Vorort leben: „Zusammen mit meinem Mann, meiner Mutter und meinen
verheirateten Söhnen“, erzählt sie, „alle in einem winzigen Haus.“.
Sie geht bei wohlhabenderen Familien in Üsküdar putzen, einer ihrer Söhne
hat einen Aushilfsjob in einer Fabrik. Der Rest der Familie ist arbeitslos
oder kann krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten. „Ich sehe jeden Tag, wie
die Lebensmittelpreise weiter steigen, selbst Zwiebeln sind kaum noch zu
bezahlen.“
In einem seiner letzten Videos, die Kemal Kılıçdaroğlu, der
Präsidentschaftskandidat der Opposition, regelmäßig über Youtube
verbreitet, hielt er lediglich eine Zwiebel in die Kamera. Zwiebeln sind
eines der wichtigsten Nahrungsmittel in der Türkei. Neben Weizenbrot und
weißen Bohnen gehören sie in jede Küche. Ein Kilo Zwiebeln, so Kılıçdaro�…
in seinem Video, kosteten jetzt 30 Lira, ein unerhörter Preis.
## Neu gedrucktes Geld
Während Präsident Recep Tayyip [2][Erdoğan auf seinen
Wahlkampfveranstaltungen] von neuen Waffensystemen und türkischen
Großmachtträumen redet, spricht Kılıçdaroğlu von Zwiebeln und anderen
Nahrungsmitteln. Der wichtigste Erdoğan-Konkurrent weiß, dass er damit den
Nerv vieler WählerInnen trifft, gerade auch von solchen, die jahrelang
Erdoğan gewählt haben.
Um die Folgen seiner Wirtschaftspolitik abzumildern, hat Erdoğan mit neu
gedrucktem Geld – was wiederum die Inflation anheizt – den Mindestlohn
erhöht, Rentenbezüge verdoppelt und auch noch das Renteneintrittsalter
abgeschafft. Jeder kann jetzt in Rente gehen, wenn er oder sie eine
bestimmte Anzahl an Jahren gearbeitet hat. Am Montag verkündete Erdoğan,
dass die Gehälter von BeamtInnen um 45 Prozent steigen sollen.
Doch das nutzt den Leuten wenig, wenn die Preise für Lebensmittel und die
Mieten so stark steigen wie in den letzten zwei Jahren. Während das
Statistikinstitut behauptet, die Inflationsrate sei auf 45 Prozent
gesunken, errechnen unabhängige Wirtschaftsexperten bei Lebensmitteln nach
wie vor eine Inflationsrate von über 100 Prozent.
## Schmiergelder bei Hotelprojekten
Hinzu kommen derzeit täglich neue Meldungen über weitverbreitetes
Korruption an der Spitze der Regierung und der AKP. Der aktuelle Renner im
Netz sind Videos, die ein Ali Yeşildağ, einstmals ein Mitarbeiter aus
Erdoğans Umkreis, aus dem Ausland postet.
[3][Yeşildağ berichtet in einem Video] beispielsweise, dass Milliarden
US-Dollar an Bestechungsgeldern geflossen seien bei der Vergabe der Lizenz
für den Flughafen von Antalya an ein Betreiberkonsortium, zu dem auch die
deutsche Fraport gehört. In anderen Videos geht es darum, wie das
Landwirtschaftsministerium EU-Fördergelder abgezweigt hat oder wie bei
Hotelprojekten am Bosporus geschmiert und erpresst wurde.
Yeşildağ behauptet sogar, dass Erdoğan als Mitwisser immer dabei gewesen
sei. Zwar ist alles an Yeşildağs Erzählungen unbewiesen und der Zeitpunkt,
zu dem die Videos auftauchen, legt nahe, dass sie gezielt eingesetzt
werden. Doch Yeşildağ berichtet aus eigenem Erleben und klingt glaubwürdig.
Das irritiert die verarmten Erdoğan-WählerInnen zusätzlich.
Dazu gehört auch die Dame in der Sandwich-Schlange, die von den Videos
ebenfalls gehört hat. Auf die Frage, ob sie Erdoğan noch einmal wählen
würde, hat sie eine klare Antwort: „Auf keinen Fall.“
10 May 2023
## LINKS
[1] /Wahlen-in-der-Tuerkei-2023/!t5908345
[2] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5928729
[3] https://www.youtube.com/watch?v=5XwBDHUC4ms
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Wahlen in der Türkei 2023
Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
Kemal Kılıçdaroğlu
Wahlen in der Türkei 2023
Mustafa Yeneroglu
Präsidentschaftswahl in der Türkei
Kemal Kılıçdaroğlu
Wahlen in der Türkei 2023
Schwerpunkt Türkei
Wahlen in der Türkei 2023
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Türkei vor den Wahlen: Denunziation per Mausklick
Erdoğans AKP hetzt, was das Zeug hält. Aber reicht all das, um ohne
Manipulation der Auszählung die Wahlen in der Türkei für sich zu gewinnen?
Oppositionspolitiker über Wahl in Türkei: „Erdrutschsieg nicht ausgeschloss…
Mustafa Yeneroğlu war Erdoğan-Vertrauter, jetzt ist er AKP-Gegner. Er
erklärt, wie die Türkei nach einem Ende der Willkürherrschaft aussehen
könnte.
Vor den Wahlen in der Türkei: Es geht um Erdoğans Macht
Die Türkei wählt am Sonntag ihr Parlament und ihren Präsidenten. Aber sind
die Wahlen fair? Und was hat es mit der Stichwahl auf sich? Ein kurzes Q&A.
Vor den Wahlen in der Türkei: Die Opposition ist optimistisch
Durch den Rückzug eines Zählkandidaten steigen die Chancen auf einen
Wahlsieg der Opposition. Vor allem junge Leute wollen den Wechsel.
Drei Kunstmachende über Kultur in Türkei: „Auf einem schmalen Grat“
Wie frei ist die türkische Kunstszene noch nach zwanzig Jahren Erdoğan? Ein
Gespräch mit Silvina Der Meguerditchian, Pinar Öğrenci und Viron Erol Vert.
Wahlkampf in der Türkei: Steine und Beschimpfungen
Bei einem Wahlkampfauftritt in Ostanatolien greifen Nationalisten einen
Oppositionspolitiker an. Präsident Erdoğan verschärft seinen Tonfall.
Türkische Wähler in Deutschland: Entspannte Schicksalswahl
Für die Wahlen in der Türkei stimmen auch bis zu 1,26 Millionen türkische
Staatsbürger in Deutschland ab. Es ist einiges anders als die Jahre zuvor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.