# taz.de -- Drei Kunstmachende über Kultur in Türkei: „Auf einem schmalen G… | |
> Wie frei ist die türkische Kunstszene noch nach zwanzig Jahren Erdoğan? | |
> Ein Gespräch mit Silvina Der Meguerditchian, Pinar Öğrenci und Viron Erol | |
> Vert. | |
Bild: Als in der Türkei Kunst öffentlich stattfand: Ya Da Theatre 1996 beim A… | |
taz: Nun eröffnet das neue Museum Istanbul Modern. Das Gebäude ist von | |
Renzo Piano, in der Sammlung werden Anselm Kiefer oder Haegue Yang neben | |
türkischen Größen wie Nil Yalter oder Gülsün Karamustafa geführt. | |
Provokativ gefragt: Läuft es für die zeitgenössische Kunst in der Türkei | |
nicht jetzt, kurz vor der Präsidentschaftswahl, ganz gut? | |
Silvina Der Meguerditchian: „Man erkennt den Zustand der zeitgenössischen | |
Kunst daran, wie sie mit den am meisten bedrohten ihrer Glieder verfährt“, | |
würde ich in einer abgewandelten Version von Gustav Heinemann sagen. | |
Solange Künstler:innen, Mäzen:innen, Kreative im Gefängnis sitzen, kann | |
mich das Istanbul Modern nicht groß beeindrucken. | |
In den zwei Dekaden unter Präsident Erdoğan nahmen Autoritarismus und | |
Repression zu, doch der türkischen Kunstszene sagt man noch nach, recht | |
frei und kritisch zu sein. Woher kommt dieser Ruf? | |
Pinar Öğrenci: Ich denke, das geht noch auf die 90er Jahre zurück. | |
Politisch eine ungewisse, chaotische Zeit, aber die türkische Kunstszene | |
blühte: Hüseyin Alptekin, Esra Ersen und Halil Altındere waren | |
einflussreich. Viele Künstler:innen arbeiteten im öffentlichen Raum, | |
nutzten die Stadt als Bühne. Das taten auch die Istanbul-Biennalen der 90er | |
Jahre. Sie haben vielen politischen Künstler:innen eine Plattform | |
gegeben. | |
Wann war der Wendepunkt in der Kunstszene? | |
P. Ö.: Der kam mit den Wahlen im Juni 2015. Die prokurdische Partei HDP | |
gewann mehr als 10 Prozent der Stimmen und konnte ins Parlament einziehen. | |
Von da an änderte sich die Stimmung im Land. Es gab Bomben- und | |
Mordanschläge, Provokationen, viele Menschen starben bei Demonstrationen. | |
Dann hatten wir im November eine weitere Wahl, die Erdoğans AKP gewann. In | |
dieser Zeit begann die Repression. Leute wurden auf der Straße festgenommen | |
und oftmals ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit verhaftet. | |
Auch Künstler:innen, vor allem Fotograf:innen und Filmemacher:innen, | |
weil sie ja potenziell etwas dokumentieren könnten, das nicht gesehen | |
werden soll. Ich selbst wurde nach einer Friedensdemonstration inhaftiert, | |
dann folgte ein zweijähriges Gerichtsverfahren, in dem 18 Jahre Haft für | |
mich gefordert wurden. Ich musste danach das Land verlassen. Es war klar, | |
dass ich mich in der Türkei nicht mehr frei ausdrücken konnte. | |
S. D. M.: 2015 war ich das letzte Mal in der Türkei. Als Künstlerin, die | |
über die armenische Kultur dort arbeitet, traue ich mich nicht ins Land. | |
Und solange Osman Kavala in Haft ist, reise ich aus Protest nicht ein. | |
Die Kunst zog sich also seit 2015 aus dem öffentlichen Raum zurück? | |
Viron Erol Vert: Die Situation hat sich schon mit den Gezi-Protesten 2013 | |
fundamental geändert. Ihre große, auch internationale Unterstützung | |
bestätigte bei der Landesführung die Angst vor einer Fremdeinwirkung aus | |
dem Westen, die wohl eine der tiefsten Ängste zu sein scheint. 2013 nahm | |
ich an einer Parallelausstellung [1][zur Istanbul Biennale] teil und wollte | |
meine Arbeit im Garten einer griechisch-orthodoxen Kirche zeigen. Aber aus | |
Furcht vor Repressalien wurde mir abgesagt und ich installierte sie dann | |
als eines von wenigen Kunstwerken während der Biennale in einem | |
(halb-)öffentlichen Raum auf dem Schulhof des Zografiyon Gymnasiums in | |
Galata. | |
Ich glaube, die Politik hatte, wie viele Menschen außerhalb der Kunstszene, | |
bis 2013 nicht verstanden, was es bedeutet, wenn Kunst an einem | |
öffentlichen Ort stattfindet, dass sie ihn verändern kann. Jetzt reagieren | |
die Leute harsch. | |
Vielleicht gibt es keinen Platz für eine freie Kunstszene in einem Land, | |
das wegen seiner Bauwut auch Constructocracy genannt wird? | |
P. Ö.: Viele Projekte der freien Szene stoppten ihre Aktivitäten. Als ich | |
das Land verließ, musste ich auch meinen Ausstellungsraum aufgeben. Wohn- | |
und Arbeitsraum wird immer teurer. Meine Wohnung in Istanbul etwa wurde in | |
den letzten Jahren von einem städtischen Transformationsprojekt regelrecht | |
umzingelt. Wir haben uns über Jahre mit den Immobilienentwicklern | |
herumgeschlagen. Das Haus wird nun abgerissen. | |
V. E. V.: Die Politik hat auch die materielle Kultur erlöschen lassen. | |
Istanbul und die gesamte Türkei waren bis vor einigen Jahren mit der Fülle | |
an Handwerk, Kunsthandwerk, Material für mich als Künstler einzigartig. | |
Doch das gibt es nicht mehr. Das hat mit dem maroden Ausbildungssystem zu | |
tun. Und auch mit der Inflation. Die Preise ändern sich täglich, fast | |
stündlich. Dieses Verschwinden einer Kultur wirkt sich auch auf die | |
Identität einer Gesellschaft aus. | |
Abreißen und neu bauen, ist das nicht auch eine Form von Kontrolle über die | |
Kultur? | |
P. Ö.: Eine meiner Assistentinnen wollte einmal ein Video über den Bau | |
eines neuen Wohnkomplexes drehen. Die Baufirma kam direkt zu ihr und | |
drohte, dass sie sich in Gefahr begeben würde. Das sind in der Türkei | |
mächtige Unternehmen, und sie würden sehr aggressiv gegen einen vorgehen. | |
Wenn es in einem Land keine Redefreiheit gibt, können wir auch nicht über | |
urbane Rechte, Umweltrechte oder das Recht auf Wohnen sprechen. All diese | |
Dinge sind miteinander verbunden. | |
S. D. M.: 2014 habe ich das Theaterprojekt „Wohin? (Nereye?)“ [2][mit Cağla | |
Ilk] gemacht. Es ging um die Istanbuler Viertel Fener und Balat und wie | |
systematisch seit Jahrzehnten versucht wurde, den Menschen ihre Häuser dort | |
wegzunehmen. Damals konnten die Bewohner:innen noch zum Europäischen | |
Gerichtshof ziehen und die Vorgänge stoppen. Seit 2016 ist man eine Geisel | |
der Bauwirtschaft, man ist kein Bürger. | |
V. E. V.: Der Kampf um Stadtviertel wie Balat, Fener oder Tarlabaşı, hat | |
eine lange tragische Geschichte. Da bündeln sich die große kulturelle | |
Vielfalt der Türkei und dieses stete Bestreben der Politik – eigentlich | |
schon seit Republiksgründung – sie nicht mehr sichtbar zu machen. Und das | |
mit allen kapitalistischen Mitteln: Ganze Viertel, einst auch von | |
Armenier:innen, Griech:innen, Jüd:innen oder Albaner:innen | |
gebaut, weil sie über Jahrhunderte Mitbürger:innen des Landes waren, | |
werden abgerissen, um sie dann im Hyperkitsch wieder aufzubauen und zu | |
verkaufen. Ich frage mich manchmal, wie und ob sich der Kapitalismus so | |
nutzen lässt, dass man mit dem kulturellen Reichtum auch etwas Gutes machen | |
kann. | |
Man meint ja, die Galerien und Kunstmuseen der Türkei, die zumeist | |
[3][privat und nicht von staatlichen Geldern] finanziert werden, wie jetzt | |
auch das Istanbul Modern von der Eczacıbaşı Group gesponsort wird, geben | |
der Kunst einen Raum für offene Kritik. | |
V. E. V.: Von außen mag es so wirken, als wäre die Kunstszene | |
aufgeschlossen, schön reflektierend und kritisch. Letztlich wird die | |
„freie“ Kunstszene ausschließlich privat gefördert, das schafft | |
Verbindlichkeiten, birgt auch Gefahren. Und es werden bestimmte Themen | |
ungern angesprochen: die türkisch-griechische Vergangenheit, Fragen um die | |
aramäische, kurdische, alevitische Kultur im Land. Die Kuratorin Beral | |
Madra, die nach wie vor in Istanbul lebt und arbeitet, macht da vielleicht | |
eine Ausnahme. | |
P. Ö.: Ich glaube nicht, dass es einen Raum für Kritik gibt. Ich habe mir | |
die Ausstellung „The 90s Onstage“ über interdisziplinäre, performative | |
Kunst der 90er Jahre im SALT Beyoğlu angesehen. Die 90er wurden in | |
kurdischen Gebieten von Gewalt beherrscht. Ich wuchs damals in der | |
kurdischen Stadt Van auf. Väter, Schwestern und Brüder meiner Freunde | |
wurden ermordet. Cumartesi Anneleri, die Samstagsmütter, saßen jeden | |
Samstag vor der Galatasaray-Schule und forderten Aufklärung über den | |
Verbleib ihrer im Polizeigewahrsam verschollenen Kinder. War das keine | |
Performance? Aber die Ausstellung erwähnt das nicht. Ich frage mich, ob ich | |
wirklich aus demselben Land komme wie die Ausstellungsmacher:innen. | |
S. D. M.: Das einzige Haus, das sich in der Vergangenheit wirklich traute, | |
riskante Themen anzusprechen, ist Depo von Osman Kavala. Kavala hat ja auch | |
mir ermöglicht, 2014 in Diyarbakır die Ausstellung „Erinnerung ohne Ort“ | |
und ein Jahr später „Enkel, neue Geographien der Zugehörigkeit“ im Depo | |
Istanbul zu machen. Es ging jeweils um das armenische Leben im Osmanischen | |
Reich und sein Verschwinden in der Türkei. Aber Depo war mit solchen Themen | |
immer alleine, die anderen Kunsthäuser haben hier und da mal was | |
angesprochen, aber spätestens seit Osman Kavala in Haft ist, tut das kaum | |
jemand mehr. | |
Osman Kavalas Kunstraum Depo gibt es doch noch? | |
SDM: [4][Ja, aber man macht es ihnen schwer.] Mal droht man, das Haus zu | |
schließen, dann wieder nicht, dann all die Bürokratie und die Verbote – das | |
ist auch ein perfider Weg, das Haus an der kurzen Leine zu halten. | |
Offenbar ist es das größte Risiko für viele Kunstschaffende, die | |
Multikulturalität der Türkei anzusprechen? | |
V. E. V.: Eigentlich tauchen in meiner Arbeit keine gefährlichen Themen | |
auf. Aber es ist schon ein Problem, dass mein Name für einige nicht nur | |
türkisch klingt. Zu der Frage, ob ich Türke sei, erklärte mir eine | |
Galeristin einmal, dass ich „ausschließlich“ ein türkischer Künstler sei | |
und somit auch meine künstlerische Arbeit. In der jetzigen politischen | |
Atmosphäre scheint es, dass man nur als türkischer, sunnitischer Mann | |
Erfolg haben kann. | |
Oder man muss sich mit den Zuständen arrangieren? | |
V. E. V.: Da gibt es die, die sich arrangieren und im Land bleiben, und | |
die, die gehen. Nicht alle im Land spielen das Spiel mit. Aber wenn man | |
genauer hinsieht, gibt es diese Spaltung. Und sie schafft eine seltsame | |
Atmosphäre, die in den letzten Jahren immer stärker wurde. | |
P. Ö.: Wir sind mittlerweile eine Generation von Künstler:innen, die aus | |
politischen Gründen im Ausland lebt, viele davon in Deutschland. Niemand in | |
der Türkei ist daran interessiert, was wir tun oder welche | |
Herausforderungen wir nun haben. | |
S. D. M.: Es gibt viele vor Ort, die auf einem schmalen Grat wandern und | |
zwischen den Zeilen Kritik üben. Einzelne Künstler:innen oder Projekte, | |
das feministische Filmfestival etwa. Meistens werden sie von | |
[5][ausländischen Kulturinstituten finanziert], wie dem Institut français | |
oder dem Goethe-Institut. Die verfolgen zwar ihre eigene Politik, aber für | |
solche Initiativen sind die ausländischen Förderprogramme fundamental. | |
9 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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