| # taz.de -- Kulturfestival in der Türkei: Verbeugung vor Atatürk | |
| > Das Beyoğlu und Başkent Culture Road Festival gibt Einblicke in die | |
| > türkische Kulturszene. Etwa mit Bildern aus dem Alltag im Osmanischen | |
| > Reich. | |
| Bild: Neue Gigantomanie: das Museum CSO in Ankara | |
| Etwa 90 Prozent der Türk:innen waren eigenen Angaben zufolge noch nie im | |
| Ausland. Trotzdem gehört der Flughafen Istanbul zu den größten und mit | |
| seinen Holzelementen und Glasfronten wohl auch zu den modernsten Airports | |
| der Welt. Auf dem Weg ins 50 Kilometer entfernte Stadtzentrum ist der Glanz | |
| des milliardenschweren Prestigebaus allerdings schnell verflogen. | |
| Zwischen den rollenden Autos eilen Straßenverkäufer umher, die mit | |
| ausdruckslosem Blick, zermürbt von Hitze und Abgasen, Wasser und türkische | |
| Sesamringe anbieten. Ein Simit kostet in Istanbul umgerechnet oft nicht mal | |
| 20 Cent. Für ärmere Türk:innen wird jedoch selbst das günstige | |
| Nationalgebäck immer teurer, denn die Inflation, die Währungskrise und die | |
| hohe Arbeitslosenrate haben das Land fest im Griff. | |
| Bei dem zeitgleich noch bis zum 12. Juni in Istanbul und Ankara | |
| stattfindendem Beyoğlu und Başkent Culture Road Festival ist von Krise | |
| nichts zu spüren. Über 2.000 Veranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen und | |
| Konzerte, viele davon kostenlos, sollen von der kulturellen Vielfalt der | |
| Türkei und vor allem von der immensen Bauwut des Ministeriums für Kultur | |
| und Tourismus überzeugen. | |
| Einer der vielen im letzten Jahr eröffneten neuen Kulturbauten ist das | |
| Atatürk-Kulturzentrum AKM. Trotz 30 Grad ist es unter den Betonpfeilern | |
| zwischen Opernhaus, Konzertsaal und Museum angenehm kühl. Katzen und Hunde, | |
| die sonst in Istanbul überall herumstreunen, verirren sich hier nicht hin. | |
| Das Gelände zeugt von futuristischer Ordnung, die man jenseits des Campus | |
| kaum findet. | |
| ## Gigantisches Museum | |
| In einem kugelförmigen Raum zeigt hier Refik Anadol seine neueste Arbeit, | |
| „Rumi Dreams“. Die Erfahrung ist immersiv: Gewaltige animierte Fluten, | |
| organisch anmutende Pixel und psychedelisch leuchtende Derwische wirbeln | |
| um die Besucherin. | |
| Visuell wie immer beeindruckend, überrascht er diesmal mit seinem Konzept: | |
| Der in L. A. lebende Künstler, der sonst viel zu künstlicher Intelligenz | |
| und Machine Learning arbeitet, hat sich hier von den Worten des persischen | |
| Dichters Rumi inspirieren lassen. Refik Anadol gehört wohl zu den | |
| international bekanntesten zeitgenössischen türkischen Künstler:innen. | |
| Will man etwas über die Ursprünge der Kunst im Land erfahren, besucht man | |
| in Istanbul am besten den neuesten Teil der Stadt. Das Museum für Malerei | |
| und Skulpturen Resim Heykel Müzesi steht auf dem Galataport, einem | |
| riesigen, vor weniger als einem Jahr eröffneten Kreuzfahrtterminal samt | |
| Restaurants und Geschäften. Der Bau kostete fast 1,6 Milliarden Euro und | |
| ist in seinem Charme mit einer Shoppingmall in Dubai vergleichbar. | |
| Im Museum hingegen ist gerade eine Ausstellung von und über [1][den Maler | |
| Osman Hamdi Bey zu sehen, der 1881 das erste Museum der Türkei gründete.] | |
| Hamdis Bilder zeigen Alltagsszenen aus dem Osmanischen Reich und sind frei | |
| von [2][jenem exotisierenden Blick, mit dem europäische Künstler so oft ihr | |
| Gegenüber auf die Leinwand bannten.] | |
| ## Fehlende Radikalität | |
| Interessant ist auch die Kalligrafie-Ausstellung im Haus: Während die | |
| osmanischen Künstler:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ganz im | |
| Stil europäischer Kunst, vor allem impressionistisch, malten, ließen die | |
| türkischen ab den 1940er Jahren osmanische Kalligrafie in ihre Werke | |
| einfließen. | |
| Einblicke in die Kunstwelt von heute erhält man im Cercle d’Orient. In der | |
| 1883 erbauten Pascharesidenz auf der belebten İstiklâl-Straße ist eine | |
| Ausstellung von BASE zu sehen, einer Plattform, die junge türkische | |
| Kunsthochschulabsolvent:innen fördert. Obwohl einige Arbeiten | |
| künstlerisch überzeugen, muss einem die fehlende Radikalität, die doch | |
| eigentlich junge Künstler:innen auszeichnet, auffallen. | |
| Kritik wird allgemein gehalten, an Waffengewalt, an Sexismus, an | |
| Einsamkeit, oder verliert sich im Vagen. Wer will, kann dahinter trotzdem | |
| Zeitkommentare erkennen. So referiert Ayşe Ceren Solmaz auf Gentrifizierung | |
| mittels eines überquellenden Briefkastens. Die aus dem Postfach fallenden | |
| Zettel erinnern jedoch stark an Stromrechnungen, die angesichts | |
| explodierender Energiepreise momentan viele Türk:innen kaum noch | |
| begleichen können. | |
| ## Islamisierung und liberales Klima | |
| Mit der Kunstfreiheit stand und steht es auch heute in der Türkei nicht zum | |
| Besten. [3][Bücher werden regelmäßig verboten,] Kulturveranstaltungen | |
| kurzfristig abgesagt, oft mit fadenscheinigen Begründungen. Trotz des | |
| Islamisierungskurses von Präsident Erdoğan herrscht in den türkischen | |
| Metropolen oft ein liberaleres Klima. | |
| In Istanbul und Ankara stellt die Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi | |
| (CHP) die Bürgermeister. Das Beyoğlu und Başkent Culture Road Festival, das | |
| in Istanbul zum zweiten und in Ankara zum ersten Mal stattfindet, wird | |
| jedoch allein vom Kultur- und Tourismusministerium verantwortet. | |
| Dieses habe die Expertise und kenne die Kulturszene am besten, sagt ein | |
| Mitarbeiter der dem Ministerium unterstehenden Tourismusbehörde, der nicht | |
| namentlich für sein Unternehmen sprechen darf. Es seien aber nicht nur | |
| staatliche, sondern auch viele private Museen und Akteure dabei, ergänzt | |
| er, als sich unser Gespräch der Einflussnahme durch die AKP zu nähern | |
| droht. Auch kritische Kunst hätte ihren Platz auf dem Festival, beteuert | |
| er. Überzeugende Beispiele nennt er nicht. | |
| ## Widerstand im Kleinen | |
| Als drohendes Beispiel für Kritiker:innen ist der Scheinprozess gegen | |
| den zu lebenslanger Haft verurteilten Kunstmäzen Osman Kavala noch überaus | |
| präsent. Widerstand gegen türkische Kulturpolitik regt sich allerdings | |
| mancherorts im Kleinen. In der Zitadelle von Ankara betreibt Hicran Aktay | |
| Şenkal ein kleines Kulturhaus, auf das man eigentlich nur zufällig stoßen | |
| kann. | |
| Ihr Haus sei das einzige, das sachgemäß restauriert ist, sagt die | |
| pensionierte Geschichtslehrerin und deutet auf die umliegenden Gebäude. | |
| Hier passe nichts zusammen, die Touristenshops neben historischen Ruinen | |
| stören sie. Für Şenkal besteht die einzige Möglichkeit, die Zitadelle in | |
| ihrem historischen Zustand zu erhalten, darin, Eigeninitiative zu | |
| ergreifen. Die 70-Jährige hat so mittels Unterschriftensammlungen bereits | |
| den Bau eines Gebäudes auf dem Burggelände verhindert. Das gefalle nicht | |
| jedem, meint sie. „Die wollen mich hier weghaben.“ | |
| Fehlende Denkmalpflege bemängeln Kritiker:innen in der Türkei schon | |
| seit Jahren. Statt Bestehendes zu restaurieren, würde lieber neu gebaut. | |
| Und das nicht zu knapp: Das beeindruckendste Bauwerk, das im Rahmen des | |
| Festivals besucht werden kann, ist das Konzerthaus CSO Ada Ankara. | |
| 2020 eröffnet, erinnert es von innen mit seinen geschwungenen Holzbalken | |
| und Bullaugen an eine Arche, von außen an einen Raumschiffhangar. Man | |
| fürchtet sich fast ein wenig vor den nächsten Jahren, in denen das Culture | |
| Road Festival in anderen türkischen Städten stattfinden soll, die sicher | |
| ebenfalls mit kulturellen Neubauten aufwarten. | |
| ## Anerkennung trotz Wirtschaftskrise | |
| Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist in der Türkei groß, die Schere geht | |
| in den letzten Jahren immer weiter auseinander. Für Außenstehende mitunter | |
| schwer nachvollziehbar genießt Präsident Erdoğan trotz Wirtschaftskrise | |
| große Anerkennung im Land. Wenn die Journalistin und Türkeikorrespondentin | |
| Luise Sammann in ihrem Buch „Großmachtträume“ von der durch die osmanische | |
| Herrschaft historisch bedingten türkischen „Führerliebe“ schreibt, ist man | |
| in Ankara geneigt, ihr zu glauben. | |
| Kaum ein öffentliches Gebäude kommt hier ohne die Büste des Staatsgründers | |
| Mustafa Kemal Atatürk aus. Sein Mausoleum erinnert in seinen Dimensionen an | |
| sozialistischen Personenkult. Der Weg dorthin ist uneben angelegt, sodass | |
| der Besucher nicht anders kann, als den Kopf vor der letzten Ruhestätte des | |
| Nationalhelden zu beugen. Obwohl Erdoğan die säkularen Reformen des ersten | |
| türkischen Präsidenten Schritt für Schritt zurücknimmt, wird Atatürk von | |
| einigen Türk:innen wie ein Halbgott verehrt. | |
| Dem Touristenführer, der eine Gruppe internationaler Journalist:innen | |
| durch das Mausoleum begleitet, kommen tatsächlich irgendwann die Tränen. | |
| Ganz einfach dürfte auch er es nicht haben, in einem Land, in dem ein | |
| falsches Wort schwerwiegende Konsequenzen haben kann. | |
| So korrigiert er sich jedes Mal umgehend, wenn er von „Turkey“ spricht. | |
| Erst vor wenigen Tagen hat die UN einem Antrag der Türkei stattgegeben, im | |
| internationalen Sprachgebrauch nur noch „Türkiye“ genannt zu werden. | |
| „Turkey“ bezeichnet im Englischen einen Truthahn und war der Regierung in | |
| Ankara ein unpassender Vergleich. Dass das ü im Englischen niemand | |
| aussprechen kann, scheint da zweitrangig. | |
| Transparenzhinweis: Die Recherche erfolgte mit Unterstützung des türkischen | |
| Tourismusboards TGA. | |
| 6 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
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