# taz.de -- Verurteilung Osman Kavalas in der Türkei: Justiz im Auftrag Erdoğ… | |
> Lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen: Ein türkisches Gericht | |
> verhängt gegen den Kulturmäzen Osman Kavala das härteste Urteil. | |
Bild: Protest gegen das harte Urteil in Istanbul am Montag: „Ihr werdet gehen… | |
Istanbul taz | Im Prozess gegen den seit viereinhalb Jahren inhaftierten | |
international bekannten Kulturmäzen [1][Osman Kavala] und weitere sieben | |
VertreterInnen der Taksim-Bürgerinitiative sind am Montagabend die | |
befürchtet schweren Urteile gefällt worden. Das Gericht in Istanbul | |
verurteilte Osman Kavala zu erschwerter lebenslänglicher Haft, die anderen | |
Angeklagten, darunter die 71-jährige Mücella Yapici, zu 18 Jahren | |
Gefängnis. | |
Wegen angeblicher Fluchtgefahr ließ das Gericht alle anwesenden Angeklagten | |
noch im Gerichtsaal festnehmen und wie bereits Osman Kavala in | |
Untersuchungshaft deportieren. | |
Das Verfahren gilt als wichtigster politischer Prozess der letzten Jahre. | |
Es ist eine politische Abrechnung mit den landesweiten Protesten gegen den | |
damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die sich am Istanbuler | |
Gezi-Park entzündet hatten. | |
Gegen die damals ursprünglich lokalen Demonstrationen gegen die Abholzung | |
eines kleinen Parks im Zentrum von Istanbul – dem Gezi-Park – hatte sich | |
wegen des völlig unverhältnismäßig harten Einschreitens der Polizei in | |
wenigen Tagen eine landesweite [2][Protestbewegung] entwickelt, die sich | |
gegen die immer repressivere Herrschaft Erdoğans insgesamt richtete. | |
Während einige Minister damals mit den Protestierenden sprechen wollten, | |
setzte Erdoğan eine harte Haltung durch und ließ die Proteste gewaltsam | |
niederschlagen. | |
## Verurteilung ohne jeden Beweis | |
Beweise für den angeblichen versuchten Staatsstreich, der den Angeklagten | |
vorgeworfen wird, hatte die Staatsanwaltschaft nicht. Für die angebliche | |
Finanzierung und Steuerung der Proteste durch die Angeklagten – Kavala soll | |
auch noch im Auftrag ausländischer Mächte gewirkt haben – gab es keinerlei | |
Beweise. Es ging allein darum, Rache für die Proteste von 2013 zu nehmen. | |
Insbesondere für den schon so lange inhaftierten Osman Kavala hatten sich | |
auch international viele Menschen eingesetzt. Kavala, ein Unternehmer, der | |
sein Geld unter anderem in die Kulturstiftung „Anadolu Kültür“ gesteckt | |
hat, die sich für die Minderheiten des Landes einsetzt, ist zum Symbol | |
eines gewaltlosen Widerstandes gegen Erdoğan geworden. | |
Schon 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine | |
Entlassung aus der U-Haft gefordert, im letzten Herbst hatten insgesamt | |
[3][zehn BotschafterInnen westlicher Nationen], darunter die USA, | |
Frankreich und Deutschland sich für Kavalas Freilassung eingesetzt, ohne | |
Erfolg. | |
Im völlig überfüllten Gerichtssaal hatte bis zuletzt die Hoffnung | |
überwogen, Osman Kavala würde unter Anrechnung der viereinhalb Jahre U-Haft | |
in einen Hausarrest entlassen. Als das Gericht vor der Urteilsverkündung | |
jedoch den Saal räumen ließ, ahnten die meisten, dass jetzt eine harte | |
Direktive aus dem Präsidentenpalast vollstreckt würde. | |
## Jede Hoffnung auf den Rechtsstaat ist dahin | |
Das Gericht sei „kein legitimes Gericht“, hatte Osman Kavala, der aus der | |
U-Haft per Video zugeschaltet war, in seiner letzten Stellungnahme gesagt. | |
Sollte er zu lebenslanger erschwerter Haft verurteilt werden, „ist das ein | |
politisches Attentat auf mich durch Präsident Erdoğan unter Benutzung der | |
Justiz“. Tatsächlich hatte einer der drei Richter es gewagt, ein | |
Sondervotum abzugeben und einen Freispruch wegen Mangels an Beweisen | |
gefordert. | |
Nach der Urteilsverkündung gab es eine spontane Kundgebung vor dem | |
Gerichtsgebäude. Alle Beobachter des Prozesses kritisierten das Urteil als | |
rein politisch motiviert. Von Amnesty International über Human Rights Watch | |
bis zu den Regierungen der USA und Deutschlands und der EU-Kommission wurde | |
das Urteil scharf kritisiert. | |
Kristian Brakel, Vertreter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, sagte, | |
das Urteil sei „ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die noch eine | |
Resthoffnung auf den türkischen Rechtsstaat hatten.“ | |
Viele hoffen nun, dass sich Erdoğan nach den Wahlen im kommenden Jahr als | |
Ex-Präsident für seine Taten selbst vor Gericht verantworten muss. „Wenn | |
wir die Wahlen gewinnen, werden wir ihn zur Verantwortung ziehen “, sagten | |
Vertreter der Oppositionsparteien. | |
International könnte Erdoğans Türkei bald ganz offiziell als Unrechtsstaat | |
gebrandmarkt werden. Der Europarat hat wegen der Missachtung des | |
Menschenrechtsgerichtshofes ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei | |
eingeleitet. Das Urteil dürfte das Verfahren nun beschleunigen. | |
Noch in der Nacht zu Dienstag wurde an verschiedenen Orten der Türkei | |
demonstriert. Für Dienstagabend ist in Istanbul eine große Kundgebung | |
geplant. | |
26 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-gegen-Osman-Kavala-in-der-Tuerkei/!5850019 | |
[2] /Kommentar-Protest-Istanbul/!5066207 | |
[3] /Fall-Osman-Kavala/!5805954 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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